DIE RÜCKKEHR DES GROSSEN HELDEN
Es regnete, als Superior Glokta humpelnd nach Adua zurückkehrte. Fieser, dünner, hässlicher Regen, den ein harter Wind von See vor sich hin peitschte und der das heimtückische Holz der Schiffsplanke, die quietschenden Holzbauten der Anleger und die glatten Steine des Kais so schlüpfrig machte wie Lügner. Er fuhr sich über das entzündete Zahnfleisch, rieb sich den schmerzenden Schenkel und sah mit starrem Blick an der grauen Uferlinie entlang. Zwei missgelaunt wirkende Wachposten lehnten vor einem heruntergekommenen Lagerhaus, keine zehn Schritte entfernt. Etwas weiter abseits waren einige Hafenarbeiter in einen erbitterten Streit über einen Stapel Kisten verstrickt. Ein zitternder Bettler machte einige Schritte auf Glokta zu, überlegte es sich dann aber wohl und schlich wieder davon.
Keine begeistert applaudierende Menge? Kein Teppich aus Blütenblättern? Keine Phalanx gezogener Schwerter? Kein Becher, kredenzt von bewundernd dahinschmachtenden, holden Jungfrauen? Es war nicht unbedingt eine große Überraschung. Als er das letzte Mal aus dem Süden heimgekehrt war, hatte es das auch nicht gegeben. Dem Besiegten applaudiert man nur selten, egal, wie hart er kämpfte, wie groß seine Opfer und wie schlecht seine Aussichten waren. Die holden Jungfrauen werden wohl feucht angesichts billiger und wertloser Siege, aber für so etwas wie »ich tat mein Bestes« erröten sie nicht einmal. Und der Erzlektor wird es wohl auch nicht tun.
Eine besonders hinterlistige Welle spritzte an der Kaimauer hoch und überschüttete Gloktas Rücken mit einer Wolke kleiner Tropfen. Er stolperte nach vorn, kaltes Wasser rann von seinen eisigen Händen, er rutschte aus und stürzte beinahe, machte keuchend einige taumelnde Schritte und fing sich an der glitschigen Mauer des verfallenen Schuppens. Als er aufsah, starrten ihn die beiden Wachleute an.
»Ist irgendwas?«, fauchte er, und sie wandten ihm den Rücken zu, brummten etwas und klappten zum Schutz vor dem Wetter die Kragen hoch. Glokta wickelte seinen Mantel eng um sich und fühlte, wie die Rockschöße gegen seine nassen Beine schlugen. Ein paar Monate in der Sonne, und man kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, wenn man friert. Wie schnell doch der Mensch vergisst. Er warf den verlassenen Hafenmauern einen finsteren Blick zu. Wie schnell wir doch alle vergessen.
»Wieba fuhauwe.« Frost machte einen glücklichen Eindruck, als er mit Gloktas Kiste unter dem Arm die Planke hinunterschritt.
»Sie mögen das warme Wetter nicht besonders, oder?«
Der Praktikal schüttelte den ungeschlachten Kopf und schenkte dem Winternieseln ein halbes Grinsen. Severard kam ihm nach und sah mit zusammengekniffenen Augen zu den grauen Wolken hoch. Er blieb kurz am Ende der Planke stehen, dann trat er auf den gepflasterten Kai.
»Schön, wieder da zu sein«, sagte er.
Wenn ich eure Begeisterung doch nur teilen könnte, aber irgendwie kann ich mich nicht recht entspannen. »Seine Eminenz hat nach mir geschickt, und angesichts der Art und Weise, wie wir die Dinge in Dagoska zurückgelassen haben, ist es wohl mehr als wahrscheinlich, dass dieses Treffen … nicht besonders gut verlaufen wird.« Eine außerordentliche Untertreibung. »Sie sollten sich besser ein paar Tage lang unsichtbar machen.«
»Unsichtbar? Ich habe die Absicht, die ganze nächste Woche keinen einzigen Schritt vors Hurenhaus zu tun.«
»Sehr weise. Und Severard. Falls wir uns nicht wiedersehen sollten … Viel Glück.«
Die Augen des Praktikals glitzerten. »Immer.« Glokta sah ihm nach, wie er durch den Regen auf die Rotlichtviertel der Stadt zuhielt. Ein ganz normaler Tag für Praktikal Severard. Der denkt nie weiter als eine Stunde im Voraus. Welch eine Gabe.
»Ich hasse Ihr verdammtes graues Land und sein verdammtes Wetter«, knurrte Vitari mit ihrem singenden Akzent. »Ich muss zu Sult.«
»Ist es denn die Möglichkeit, ich auch!«, rief Glokta mit übertriebener Begeisterung aus. »Was für ein wundervoller Zufall!« Er bot ihr seinen abgewinkelten Arm. »Wir können als Paar gehen und Seine Eminenz zusammen aufsuchen!«
Sie sah ihn eisig an. »Von mir aus.«
Aber ihr beide werdet noch eine weitere Stunde auf meinen Kopf warten müssen. »Allerdings muss ich zuerst noch eine Kleinigkeit erledigen.«
Die Spitze seines Stocks klapperte gegen die Tür. Nichts rührte sich. Verdammt. Gloktas Rücken schmerzte höllisch, und er musste sich unbedingt setzen. Wieder schlug er mit dem Stock gegen das Holz, dieses Mal lauter. Die Angeln kreischten, die Tür öffnete sich einen Spalt. Nicht abgeschlossen. Er runzelte die Stirn und schob sie vollends auf. Der Türrahmen war an der Innenseite abgesplittert, das Schloss zerstört. Aufgebrochen. Er humpelte über die Schwelle in den Flur. Leer und eiskalt. Kein Möbelstück zu sehen. Als sei sie ausgezogen. Aber warum? Gloktas Augenlid zuckte. Während der ganzen Wochen unten im Süden hatte er kaum an Ardee gedacht. Andere Dinge waren so viel drängender. Mein einziger Freund hat mich um diese eine Sache gebeten. Wenn ihr etwas zugestoßen ist …
Glokta deutete auf die Treppe, und Vitari nickte und schlich geräuschlos die Stufen empor, bückte sich und zog ein schimmerndes Messer aus ihrem Stiefel. Er deutete den Flur hinunter, und Frost begab sich, stets im Schatten der Wand entlangschleichend, ins Innere des Hauses. Die Wohnzimmertür stand halb offen, und Glokta schlurfte darauf zu und stieß sie auf.
Ardee saß am Fenster und wandte ihm den Rücken zu: weißes Kleid, dunkles Haar, ganz so, wie er sie in Erinnerung hatte. Ihr Kopf bewegte sich leicht, als die Türangeln quietschten. Sie lebt also. Aber der Raum hatte sich seltsam verändert. Abgesehen von dem einen Stuhl, auf dem sie saß, war er völlig leer. Nackte, weiß getünchte Wände, nackte Holzdielen, vorhanglose Fenster.
»Es ist verdammt noch mal nichts mehr übrig!«, bellte sie mit rauer und kehliger Stimme.
Das ist nicht zu übersehen. Glokta trat mit besorgter Miene ins Zimmer.
»Es ist nichts mehr da, habe ich gesagt!« Jetzt erhob sie sich, wandte ihm aber immer noch den Rücken zu. »Oder haben Sie sich überlegt, dass Sie jetzt vielleicht doch noch den Stuhl mitnehmen wollen?« Damit fuhr sie herum, packte die Lehne, riss den Stuhl hoch über den Kopf und schleuderte ihn mit einem Schrei in seine Richtung. Er krachte neben der Tür gegen die Wand, und Holzsplitter und Putzstücke flogen durch die Luft. Ein Bein schoss an Gloktas Gesicht vorüber und rutschte klappernd in eine Ecke, der Rest fiel zersplittert zu Boden.
»Das ist sehr nett«, sagte Glokta ruhig, »aber ich stehe lieber.«
»Sie!« Er sah, wie sich ihre Augen unter dem wirren Haar vor Überraschung weiteten. Ihr Gesicht hatte etwas Hageres und Blasses, an das er sich nicht erinnerte. Ihr Kleid war zerdrückt und viel zu dünn für den kühlen Raum. Sie versuchte es mit zitternden Händen zu glätten und zupfte erfolglos an ihrem fettigen Haar. Dann stieß sie ein schnaubendes Lachen aus. »Bedauerlicherweise bin ich nicht auf Besucher vorbereitet.«
Glokta hörte Frost den Flur hinunterpoltern, bevor der Praktikal mit geballten Fäusten zur Tür hereinstürmte, und er hob einen Finger. »Es ist alles in Ordnung. Warten Sie draußen.« Der Albino wich in die Schatten zurück, und Glokta humpelte über die ächzenden Dielenbretter in den leeren Salon. »Was ist geschehen?«
Ardees Mundwinkel zuckten. »Es hat den Anschein, als sei mein Vater doch kein so wohlhabender Mann gewesen, wie alle dachten. Er hatte Schulden. Mein Bruder war kaum nach Angland abgereist, als sie kamen, um sie einzutreiben.«
»Wer?«
»Ein Mann namens Fallow. Er nahm alles Geld, das ich hatte, aber es reichte nicht. Sie nahmen das Silber und den Schmuck meiner Mutter, soweit er von Wert war. Dann gaben sie mir sechs Wochen Zeit, um den Rest aufzutreiben. Ich entließ das Dienstmädchen. Ich verkaufte alles Mögliche, aber es reichte ihnen nicht. Dann kamen sie wieder. Vor drei Tagen. Sie nahmen alles mit. Fallow sagte, ich könne froh sein, dass er mir das Kleid lasse, das ich trug.«
»Ich verstehe.«
Sie holte tief und aufschluchzend Luft. »Seitdem habe ich hier gesessen und darüber nachgedacht, wie eine junge Frau ohne Freunde an ein wenig Geld kommen kann.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Eine Möglichkeit ist mir eingefallen. Hätte ich den Mut gehabt, ich hätte es schon versucht.«
Glokta saugte an seinem Zahnfleisch. »Wie gut für uns beide, dass Sie ein kleiner Feigling sind.« Er schob eine Schulter aus seinem Mantel und musste sich dann winden und schütteln, um auch den Arm herauszubekommen. Nachdem er das geschafft hatte, nahm er ungeschickt den Stock in die andere Hand, um ganz herauszuschlüpfen. Verdammt noch mal. Nicht einmal eine großzügige Geste gelingt mir noch einigermaßen elegant. Schließlich hielt er ihr den Mantel hin und schwankte ein wenig auf seinem schwachen Bein.
»Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht mehr brauchen als ich?«
»Nehmen Sie schon. Zumindest muss ich das verdammte Ding dann nicht wieder überziehen.«
Das entlockte ihr ein halbes Lächeln. »Danke«, murmelte sie, als sie den Stoff um ihre Schultern wickelte. »Ich habe versucht, Sie ausfindig zu machen, aber ich wusste nicht … wo Sie waren …«
»Das tut mir leid, aber jetzt bin ich ja da. Sie müssen sich keine Gedanken mehr machen. Sie werden heute Nacht bei mir bleiben. Mein Quartier ist zwar nicht besonders groß, aber uns wird schon etwas einfallen.« Es wird dort außerdem jede Menge Platz sein, wenn ich mit dem Gesicht nach unten im Hafenbecken treibe.
»Und was passiert danach?«
»Danach gehen Sie hierher zurück. Morgen wird dieses Haus wieder genauso eingerichtet sein, wie es war.«
Sie sah ihn ungläubig an. »Wie denn das?«
»Oh, ich kümmere mich darum. Erst einmal müssen wir dafür sorgen, dass Sie ins Warme kommen.« Superior Glokta, Freund der Freundlosen.
Sie schloss die Augen, als er sprach, und er hörte, wie sie schnell und hart durch die Nase atmete. Sie schwankte ein wenig, als ob sie kaum noch die Kraft hätte, sich auf den Beinen zu halten. Seltsam, dass wir stets in der Lage sind, die Härte des Lebens zu ertragen, solange wir müssen. Aber sobald die Krise vorbei ist, sickert sofort all unsere Kraft aus uns heraus. Glokta streckte die Hand aus und berührte beinahe ihre Schulter, um sie zu stützen, aber im letzten Augenblick öffneten sich ihre Augen, sie richtete sich wieder auf, und er zog die Hand zurück.
Superior Glokta, der Retter junger Damen in Not. Er führte sie über den Flur zur aufgebrochenen Haustür. »Wenn Sie mich kurz mit meinen Praktikalen allein lassen würden.«
»Selbstverständlich.« Ardee sah zu ihm auf, die großen, dunklen Augen mit sorgenvollem Rosa umrandet. »Und ich danke Ihnen. Was immer man über Sie sagen mag, Sie sind ein guter Mensch.«
Glokta unterdrückte das plötzliche Bedürfnis, laut loszulachen. Ein guter Mensch? Ich fürchte, Salem Rews wäre anderer Meinung. Wie auch Gofred Hornlach oder Magister Kault oder Karsten dan Vurms, General Vissbruck, der Gesandte Islik, Inquisitor Harker oder die vielen hundert anderen, die in den Gefangenenlagern Anglands ihr Leben fristen oder in Dagoska auf den Tod warten. Und dennoch hält mich Ardee West für einen guten Menschen. Es war ein seltsames Gefühl, aber kein unangenehmes. Beinahe fühlt man sich wieder wie ein echter Mensch. Schade nur, dass es jetzt erst kommt.
Er winkte Frost zu sich heran, als Ardee mit seinem schwarzen Mantel verschwunden war. »Ich habe einen Auftrag für Sie, mein alter Freund. Einen letzten Auftrag.« Glokta klopfte dem Albino auf die massige Schulter und drückte sie. »Kennen Sie einen Geldverleiher namens Fallow?«
Frost nickte langsam.
»Finden Sie ihn und nehmen Sie ihn in die Mangel. Dann bringen Sie ihn hierher und machen ihm begreiflich, wen er beleidigt hat. Alles muss wieder an seinen Platz und sollte dann noch besser sein, als es gewesen ist, das richten Sie ihm bitte aus. Geben Sie ihm einen Tag. Einen Tag, und dann spüren Sie ihn auf, wo immer er auch sein mag, und setzen das Messer an. Haben Sie verstanden? Tun Sie mir diesen einen Gefallen.«
Frost nickte wieder, und seine rosafarbenen Augen leuchteten in dem düsteren Flur.
»Sult erwartet uns«, raunte Vitari, die von oberhalb der Treppe zu ihnen hinuntersah, die behandschuhten Hände schlaff über das Geländer gelegt.
»Natürlich.« Glokta verzog das Gesicht, als er zur offenen Tür humpelte. Und wir wollen doch Seine Eminenz nicht warten lassen.
Klack, Klick, Schmerz, das war der Rhythmus von Gloktas Schritt. Erst das selbstbewusste Klack seines rechten Absatzes, dann das Klick seines Stocks auf den nachhallenden Fliesen des langen Flurs, dann das lang gezogene Schleifen seines linken Fußes, begleitet von den vertrauten, stechenden Schmerzen im Knöchel, Knie, Hintern und Rücken. Klack, Klick, Schmerz.
Er war von den Kais bis zu Ardees Haus gegangen, dann zum Agriont, zum Haus der Befragungen und den ganzen Weg hier hinauf. Gehumpelt. Ganz allein. Ohne Hilfe. Jetzt war jeder Schritt eine Qual. Bei jeder Bewegung verzog er das Gesicht. Er schnaufte und schwitzte und fluchte. Aber ich will verdammt sein, wenn ich auch nur ein bisschen langsamer werde.
»Sie machen es sich nicht gern leicht, nicht wahr?«, fragte Vitari.
»Wieso sollte es auch leicht sein?«, gab er scharf zurück. »Sie können sich mit dem Gedanken trösten, dass dieses Gespräch vermutlich unser letztes sein wird.«
»Weswegen gehen Sie überhaupt hin? Wieso laufen Sie nicht weg?«
Glokta schnaufte. »Falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte, bin ich ein ausgesprochen schlechter Läufer. Das ist das eine, zum anderen bin ich neugierig.« Neugierig darauf, wieso mich Seine Eminenz nicht mit all den anderen hat in Dagoska draufgehen lassen.
»Ihre Neugier wird Sie noch einmal umbringen.«
»Wenn mich der Erzlektor töten lassen will, hat es wenig Sinn, davor wegzuhumpeln. Ich stelle mich lieber.« Er zuckte zusammen, als ein plötzlicher Krampf sein Bein packte. »Oder setze mich vielleicht auch hin. Aber auf alle Fälle will ich dem, was kommt, ins Gesicht sehen, mit offenen Augen.«
»Es ist Ihr gutes Recht, sich dafür zu entscheiden, nehme ich an.«
»Ganz genau.« Die letzte Entscheidung, die ich treffen werde.
Sie betraten Sults Vorzimmer. Glokta war ein wenig überrascht, dass er überhaupt so weit gekommen war. Bei jedem schwarz maskierten Praktikal in dem Gebäude, an dem sie vorübergegangen waren, hatte er erwartet, ergriffen zu werden. Bei jedem schwarz gekleideten Inquisitor hatte er damit gerechnet, dass jener auf ihn zeigen und seine sofortige Verhaftung fordern würde. Und dennoch bin ich wieder hier. Der schwere Schreibtisch, die schweren Stühle, die zwei riesigen Praktikalen neben der schweren Flügeltür, alles war noch genauso wie beim letzten Mal.
»Ich bin …«
»Superior Glokta, aber natürlich.« Der Sekretär des Erzlektors neigte respektvoll den Kopf. »Sie können sofort eintreten. Seine Eminenz erwartet Sie.« Aus dem Dienstzimmer des Erzlektors drang Licht in den kleinen Vorraum.
»Ich warte hier.« Vitari ließ sich auf einen Stuhl fallen und schob ihre feuchten Stiefel auf die Sitzfläche des Möbels daneben.
»Machen Sie sich nicht die Mühe, zu lange zu warten.« Vielleicht meine letzten Worte? Glokta fluchte innerlich, als er auf die Tür zuschlurfte. Ich hätte mir wirklich etwas Einprägsameres einfallen lassen sollen. Auf der Schwelle hielt er kurz inne, holte tief Luft und trat dann humpelnd ein.
Derselbe helle, runde Raum. Dieselben dunklen Möbel, dieselben dunklen Bilder an den hellen Wänden, dasselbe große Fenster mit demselben Blick über die Universität und das Haus des Schöpfers dahinter. Keine gedungenen Mörder, die unter dem Tisch lauern, keine axtschwingenden Henker hinter der Tür. Nur Sult persönlich, der mit einer Feder in der Hand am Tisch saß und mit der Spitze ruhig und gleichmäßig über einige Papiere kratzte, die vor ihm ausgebreitet lagen.
»Superior Glokta!« Der Erzlektor sprang auf und glitt elegant mit wehendem weißem Mantel über den glänzenden Boden auf ihn zu. »Ich bin so erleichtert, dass Sie sicher zurückgekehrt sind!« Tatsächlich vermittelte er den Eindruck, als sei er froh, ihn zu sehen, und Gloktas Miene verfinsterte sich. Er war auf alles Mögliche vorbereitet gewesen, aber darauf nicht.
Sult streckte die Hand aus, und der Stein auf seinem Ring funkelte purpurn. Glokta verzog das Gesicht, als er sich langsam hinunterbeugte, um ihn zu küssen. »Ich diene und gehorche, Euer Eminenz.« Unter Mühen richtete er sich wieder auf. Kein Messer in den Nacken? Sult schwebte bereits zu dem kleinen Schränkchen hinüber und grinste über das ganze Gesicht.
»Aber nehmen Sie doch Platz! Sie brauchen doch nicht auf meine Aufforderung zu warten!«
Seit wann denn das nicht? Glokta sank ächzend in einen Stuhl und sah nur kurz nach, ob auf dem Sitz vielleicht vergiftete Nägel angebracht worden waren. Der Erzlektor hatte derweil das Schränkchen geöffnet und suchte darin herum. Was wird er wohl herausholen, einen gespannten Flachbogen vielleicht, um mir einen Bolzen in die Kehle zu schießen? Aber es kamen nur zwei Gläser zum Vorschein. »Nun ist wohl eine Gratulation fällig«, tönte Sult über seine Schulter hinweg in Gloktas Richtung.
Glokta blinzelte. »Wie bitte?«
»Meinen Glückwunsch. Hervorragende Arbeit.« Sult grinste auf ihn herab, als er die Gläser elegant auf dem runden Tisch abstellte und mit sanftem Klingen den Stopfen aus der Karaffe zog. Was sagt man jetzt? Was sagt man jetzt?
»Euer Eminenz … Dagoska … ich muss ehrlich sein. Die Stadt stand kurz vor dem Fall, als ich sie verließ. Sie wird mit Sicherheit in Bälde überrannt …«
»Natürlich.« Sult wischte all das mit einer Bewegung seiner weiß behandschuhten Hand weg. »Es bestand nie die geringste Aussicht darauf, die Stadt halten zu können. Meine einzige Hoffnung war, dass Sie die Gurkhisen richtig bluten lassen würden! Und das haben Sie ja wohl geschafft, Glokta! Und wie!«
»Dann … sind Sie … zufrieden?« Er wagte es kaum, das Wort auszusprechen.
»Ich bin entzückt! Hätte ich die Geschichte selbst geschrieben, sie hätte nicht besser ausfallen können! Die Unfähigkeit des Lord Statthalters, der Verrat seines Sohnes, all das zeigt schließlich, wie wenig Verlass auf die ernannten Regierungskräfte ist, wenn es zu einer Krise kommt! Eiders Verrat bewies die Doppelzüngigkeit der Kaufleute, ihre zweifelhaften Verbindungen und ihre verkommene Moral! Die Gewürzhändlergilde wurde inzwischen ebenso aufgelöst wie die der Tuchhändler, ihre Handelsrechte liegen nun in unseren Händen. Beide Gilden sind nun ein Fall für die Latrine der Geschichte, und die Macht der Kaufleute ist gebrochen! Nur die Inquisition Seiner Majestät ist im Angesicht des unnachgiebigsten Feindes der Union standhaft geblieben. Sie hätten Marovias Gesicht sehen sollen, als ich die Geständnisse im Offenen Rat verlas!« Sult füllte Gloktas Glas bis zum Rand.
»Vielen Dank, Euer Eminenz«, murmelte Glokta und nahm einen Schluck. Ein hervorragender Wein, wie immer.
»Und dann stand er im Geschlossenen Rat auf, vor dem König höchstpersönlich, stellen Sie sich das vor, und behauptete vor allen Anwesenden, Sie würden keine Woche durchhalten, wenn die Gurkhisen angriffen!« Der Erzlektor wieherte vor Lachen. »Ich wünschte, Sie wären dabei gewesen. Ich bin sicher, dass er es länger schafft, habe ich gesagt. Ganz sicher.« Das ist in der Tat eine großartige Unterstützung.
Sult schlug mit der weiß behandschuhten Hand auf den Tisch. »Zwei Monate, Glokta! Zwei Monate! Mit jedem Tag, der verging, stand er blamierter da, und ich wurde immer mehr zum Helden … wir, meine ich«, verbesserte er sich. »Wir wurden immer mehr zu Helden, und ich musste lediglich dastehen und lächeln! Man konnte geradezu sehen, wie die anderen Tag für Tag weiter von Marovia ab- und auf mich zurückten! Neun zu drei! Nächste Woche gehen wir noch weiter! Wie, zur Hölle, haben Sie das geschafft?« Er sah Glokta erwartungsvoll an.
Ich habe mich an die Bank verkauft, die zuvor die Tuchhändler unterstützte, und die Erträge genutzt, um den unzuverlässigsten Söldner der Welt zu bestechen. Dann habe ich einen wehrlosen Gesandten, der unter der Parlamentärsflagge zu uns gekommen war, ermordet und ein Dienstmädchen gefoltert, bis ihr Körper nur noch Hackfleisch war. Ach, und den größten Verräter habe ich entkommen lassen. Es waren zweifelsohne äußerst heldenhafte Taten. Wie habe ich es geschafft? »Ich bin früh aufgestanden«, murmelte er.
Sults Augen zuckten kurz, und Glokta entging das nicht. Ein Zeichen der Verärgerung vielleicht? Ein Zeichen von Misstrauen? Aber es währte nur kurz. »Früh aufgestanden. Natürlich.« Sult hob sein Glas. »Die zweitgrößte Tugend. Gleich nach Rücksichtslosigkeit. Ihr Stil gefällt mir, Glokta, das habe ich immer schon gesagt.«
Haben Sie das? Aber Glokta senkte nur bescheiden den Kopf.
»Die Berichte von Praktikalin Vitari strotzten vor Bewunderung. Mir hat es besonders gefallen, wie Sie mit dem gurkhisischen Gesandten umgesprungen sind. Das hat sicherlich das Lächeln vom Gesicht des Imperators gewischt, dieses arroganten Schweins, wenn auch nur für einen Augenblick.« Also hat sie ihren Teil der Abmachung tatsächlich eingehalten? Wie interessant. »Ja, es geht alles glatt voran. Abgesehen von den verdammten Bauern, die sich noch immer höchst lästig aufführen, und natürlich der Sache in Angland. Schade um Ladisla.«
»Schade um Ladisla?«, wiederholte Glokta verblüfft.
Sult verzog bitter den Mund. »Haben Sie nicht davon gehört? Wieder einer der großartigen Einfälle von Kronrichter Marovia. Er hatte die Idee, die Beliebtheit des Prinzen ein wenig zu steigern, indem er ihm ein Kommando im Norden gab. Irgendwo ein bisschen abseits, wo er keiner Gefahr ausgesetzt sein würde und die Möglichkeit bestand, ihn später mit Ruhm zu überhäufen. Im Grunde kein schlechter Plan, sieht man davon ab, dass aus abseits unversehens mittendrin wurde und er sich selbst direkt ins Grab befehligt hat.«
»Und seine ganzen Truppen dabei mitnahm?«
»Ein paar Tausend jedenfalls, aber größtenteils den Abschaum, den die Edelleute einberufen hatten. Also nichts von großer Bedeutung. Ostenhorm halten wir weiterhin, und die ganze Sache war nicht meine Idee, von daher ist insgesamt gesehen kein Schaden entstanden. Unter uns gesagt, es ist möglicherweise am besten so, Ladisla war unerträglich. Ich musste ihn aus mehr als einem Skandal herauseisen. Der verdammte Narr konnte seinen Hosenstall einfach nicht geschlossen lassen. Raynault scheint ein ganz anderer Mensch zu sein. Nüchtern, vernünftig. Der tut, was man ihm sagt. Das ist insgesamt wesentlich besser. Immer vorausgesetzt natürlich, dass er sich nicht irgendwo umbringen lässt, denn dann säßen wir wirklich böse in der Klemme.« Sult nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas und ließ die Flüssigkeit genussvoll durch seinen Mund strömen.
Glokta räusperte sich. Wenn er gerade in so guter Stimmung ist … »Es gibt eine Sache, die ich gern mit Ihnen besprechen würde, Eminenz. Die gurkhisische Spionin, die wir in der Stadt entdeckten. Sie war …« Wie beschreibe ich das, ohne komplett verrückt zu klingen?
Aber Sult war ihm wieder einmal eine Nasenlänge voraus. »Ich weiß. Eine Verzehrerin.« Sie wissen? Sogar davon? Der Erzlektor lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Eine okkulte Abscheulichkeit. Eine Geschichte wie aus einem Märchenbuch. Verzehren das Fleisch von Menschen. Offenbar handelt es sich um eine im barbarischen Süden weit verbreitete Praxis. Aber kümmern Sie sich nicht darum. Ich lasse mich bereits diesbezüglich beraten.«
»Wer berät denn in solchen Fragen?«
Der Erzlektor lächelte nur. »Sie müssen erschöpft sein. Das Wetter dort drüben laugt ja so sehr aus. Die Hitze und der Staub, selbst im Winter. Ruhen Sie sich aus. Das haben Sie sich verdient. Ich werde nach Ihnen schicken, wenn etwas anliegt.« Damit nahm Sult wieder seine Feder zur Hand und sah auf seine Papiere, sodass Glokta nichts anderes übrig blieb, als mit völlig verwirrtem Gesichtsausdruck zur Tür zu schlurfen.
»Sie sehen beinahe so aus, als seien Sie noch am Leben«, bemerkte Vitari, als er ins Vorzimmer humpelte.
Wie wahr. Jedenfalls so sehr, wie es mir überhaupt möglich ist. »Sult war … zufrieden.« Er konnte es noch immer kaum glauben. Schon allein die Worte schienen nicht recht zusammenzupassen.
»Das sollte er wohl auch, nach all dem, was ich über Sie geschrieben habe.«
»Hm.« Glokta runzelte die Stirn. »Wie es scheint, muss ich mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Nicht der Rede wert. Das bedeutet mir einen Dreck. Vertrauen Sie mir das nächste Mal einfach.«
»Eine angemessene Forderung«, gestand er ein und warf ihr einen Seitenblick zu. Aber ich glaube, Sie machen Witze.
Der Raum war mit Möbeln vollgestopft. Beinahe überfüllt. Weich gepolsterte Sessel, ein antiker Tisch, ein poliertes Schränkchen, alles sehr üppig für den kleinen Salon. Ein riesiges altes Gemälde der Fürsten der Union, wie sie sich vor Harod dem Großen verneigten, füllte beinahe eine Wand. Ein dicker kantesischer Teppich, fast zu groß für den Boden, war über den Dielenbrettern ausgerollt. Ein ordentliches Feuer knisterte im Kamin zwischen zwei antiken Vasen, und das Zimmer war gemütlich, angenehm und warm. Welch einen Unterschied doch ein einziger Tag machen kann, wenn man die entsprechenden Anregungen gibt.
»Gut«, sagte Glokta und sah sich um. »Sehr gut.«
»Sicher«, machte Fallow mit respektvoll gesenktem Kopf, während er beinahe den Hut in seinen Händen zerdrückte. »Selbstverständlich, Herr Superior, habe ich alles getan, was in meiner Macht stand. Die meisten Möbel hatte ich … hatte ich bereits verkauft, und daher habe ich für besseren Ersatz gesorgt, für das Beste, das ich finden konnte. Das übrige Haus wurde ebenso hergerichtet. Ich hoffe, das … Ich hoffe, das ist ausreichend?«
»Das hoffe ich auch. Ist es ausreichend?«
Ardee sah Fallow finster an. »Es wird genügen.«
»Hervorragend«, erklärte der Geldverleiher unruhig und sah erst zu Frost hinüber, dann auf seine Schuhe. »Hervorragend! Bitte entschuldigen Sie vielmals! Ich hatte ja keine Ahnung, natürlich gar keine Ahnung, Herr Superior, dass Sie mit der Sache zu tun haben. Natürlich hätte ich nie … es tut mir so sehr leid.«
»Sie sollten sich ja wohl nicht bei mir entschuldigen.«
»Nein, nein, natürlich nicht.« Er wandte sich langsam zu Ardee um. »Meine Dame, bitte entschuldigen Sie vielmals.« Ardee starrte ihn mit gekräuselten Lippen an und schwieg.
»Vielleicht sollten Sie eher ein wenig flehen«, schlug Glokta vor. »Auf Knien. Das klappt vielleicht.«
Fallow fiel sofort auf die Knie. Er rang die Hände. »Meine Dame, ich bitte Sie …«
»Tiefer«, sagte Glokta.
»Natürlich«, winselte Fallow und ging auf alle viere. »Ich entschuldige mich, meine Dame. In aller Aufrichtigkeit. Wenn Sie es nur übers Herz bringen würden, ich bitte Sie …« Zögernd streckte er die Hand nach dem Saum ihres Kleides aus, und sie wich zurück, holte dann mit dem Fuß aus und trat ihn heftig ins Gesicht.
»Gah!«, schrie der Geldverleiher, fiel auf die Seite, und dunkles Blut strömte aus seiner Nase auf den neuen Teppich. Glokta hob die Augenbrauen. Das kam jetzt unerwartet.
»Das ist für dich, du Arschloch!« Der nächste Tritt erwischte ihn am Mund, und ihm flog der Kopf nach hinten, sodass das Blut bis an die Wand spritzte. Ardees Schuh schlug dumpf in seinen Magen, und er klappte zusammen.
»Du«, fauchte sie, »du …« Sie trat ihn wieder und wieder, und Fallow zitterte und stöhnte und schnaufte, während er sich möglichst klein zusammenringelte. Frost trat einen Schritt vor, aber Glokta hob einen Finger.
»Das ist in Ordnung«, sagte er leise. »Ich glaube, das steht ihr zu.«
Die Tritte wurden langsamer. Glokta hörte, wie Ardee nach Luft schnappte. Ihr Absatz bohrte sich in Fallows Rippen, ihr Zeh rammte wieder seine Nase. Wenn sie sich einmal langweilen sollte, hätte sie als Praktikalin glänzende Berufsaussichten. Sie verzog den Mund, beugte sich vor und spuckte Fallow ins Gesicht. Dann trat sie ihn noch einmal, aber nur schwach, taumelte rückwärts gegen das Schränkchen und beugte sich vor, an das polierte Holz gelehnt, um tief durchzuatmen. »Ich bin fertig.«
»Schön. Raus mit dir«, zischte Glokta. »Raus, du Wurm!«
»Natürlich«, sabberte Fallow mit blutigen Lippen und kroch zur Tür, während Frost sich die ganze Zeit drohend neben ihm hielt. »Natürlich! Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen sehr!« Die Haustür fiel ins Schloss.
Ardee ließ sich in einen der Sessel fallen, stützte die Ellenbogen auf die Knie, die Stirn auf die Handflächen. Glokta sah, dass ihre Hände leise zitterten. Es kann sehr, sehr erschöpfend sein, jemandem wehzutun. Das weiß ich nur zu gut. Vor allem, wenn man es nicht gewöhnt ist. »Fühlen Sie sich nicht schlecht deswegen«, sagte er. »Ich bin sicher, er hat es verdient.«
Sie sah auf, und ihre Augen blickten hart. »Das tue ich nicht. Er hat noch Schlimmeres verdient.«
Das kam ebenfalls unerwartet. »Wollen Sie, dass ihm Schlimmeres widerfährt?«
Sie schluckte und lehnte sich langsam zurück. »Nein.«
»Es liegt an Ihnen.« Aber es ist schön, diese Wahl zu haben. »Vielleicht möchten Sie sich gern umziehen.«
Sie sah an sich herunter. »Oh.« Fallows Blut war ihr bis an die Knie gespritzt. »Ich habe nichts …«
»Es gibt ein ganzes Zimmer voller neuer Sachen, oben. Dafür habe ich gesorgt. Ich werde Ihnen auch einige verlässliche Dienstboten besorgen.«
»Ich brauche keine.«
»Doch, brauchen Sie. Ich werde nicht zulassen, dass Sie hier allein leben.«
Sie zuckte mutlos mit den Schultern. »Ich habe nichts, womit ich sie bezahlen könnte.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich übernehme das.« Alles möglich, dank der enormen Großzügigkeit von Valint und Balk. »Sorgen Sie sich um nichts. Ich habe Ihrem Bruder mein Versprechen gegeben, und ich gedenke es zu halten. Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist. Leider hatte ich sehr viel zu tun … im Süden. Aber sagen Sie, haben Sie von ihm gehört?«
Ardee sah ruckartig auf, mit leicht geöffnetem Mund. »Sie wissen es gar nicht?«
»Was weiß ich nicht?«
Sie schluckte und sah zu Boden. »Collem war bei Prinz Ladisla, in dieser Schlacht, von der alle reden. Es wurden einige Gefangene gemacht und ausgelöst – er war nicht darunter. Man geht davon aus …« Sie hielt kurz inne und sah auf das Blut auf ihrem Kleid. »Man geht davon aus, dass er getötet wurde.«
»Getötet?« Gloktas Augenlider flatterten. Seine Knie wurden plötzlich weich. Er ging einen Schritt rückwärts und ließ sich in einen Sessel sinken. Jetzt zitterten seine Hände, und er schob sie ineinander. Tot. Geschieht jeden Tag. Noch nicht vor allzu langer Zeit habe ich selbst viele tausend Tode verursacht, ohne allzu viele Gedanken daran zu verschwenden. Ich habe Berge von Leichen gesehen und nur die Achseln gezuckt. Wieso ist dieser eine so schwer zu verwinden? Aber so war es.
»Getötet?«, flüsterte er.
Sie nickte langsam und barg das Gesicht in den Händen.