KLEINE VERGEHEN

»Kalt, was, Oberst West?«

»Ja, Euer Hoheit, der Winter kommt näher.« In der Nacht hatte es sogar fast geschneit; hässlicher Schneeregen hatte alles mit eisiger Nässe überzogen. Jetzt, im blassen Morgenlicht, erschien die ganze Welt halb gefroren. Die Hufe ihrer Pferde machten auf dem halb gefrorenen Schlamm knirschende und schmatzende Geräusche. Wasser tropfte traurig von den halb gefrorenen Bäumen. West fühlte sich ebenso halb gefroren. Sein Atem fuhr dampfend aus seiner laufenden Nase. Die Ränder seiner Ohren prickelten unangenehm und waren taub vor Kälte.

Prinz Ladisla schien das kaum zu bemerken, aber er trug auch einen enormen Mantel, Mütze und Fausthandschuhe aus schimmerndem schwarzem Pelz, die mit Sicherheit ein paar hundert Mark gekostet hatten. Er grinste zu West hinüber. »Die Männer machen einen guten und leistungsfähigen Eindruck, trotz alledem.«

West traute seinen Ohren kaum. Das Regiment der Königstreuen, das Ladislas Befehl unterstellt worden war, war wohl tatsächlich in ganz anständiger Verfassung, das stimmte. Ihre geräumigen Zelte waren in ordentlichen Reihen in der Mitte des Lagers aufgestellt, vor den Eingängen brannten die Küchenfeuer, und die Pferde waren in der Nähe säuberlich angepflockt.

Die Lage der Einberufenen, die etwa drei Viertel ihrer Truppe ausmachten, war jedoch weniger rosig. Viele von ihnen waren beschämend schlecht ausgerüstet. Es waren Männer, die keine Waffen hatten oder nicht für ihren Einsatz ausgebildet worden waren, und einige von ihnen waren schlicht zu krank oder zu alt zum Marschieren, vom Kämpfen ganz zu schweigen. Manche besaßen kaum mehr als die Kleider, die sie am Leibe trugen, und sie waren in beklagenswerter Verfassung. West hatte gesehen, wie sich Männer unter Bäumen zusammengerollt hatten, um ein wenig Wärme zu erhaschen, und dabei nur eine halbe Decke besaßen, um sich vor dem Regen zu schützen. Es war eine Schande.

»Die Königstreuen sind gut versorgt, aber ich mache mir Sorgen um die Lage einiger der Einberufenen, Euer …«

»Ja«, sagte Ladisla und sprach weiter, als hätte West überhaupt nichts gesagt, »gut und leistungsfähig! Die brennen vor Kampfeslust! Ist wohl das Feuer in ihren Bäuchen, das sie warm hält, was, West? Die können es gar nicht erwarten, endlich Feindberührung zu bekommen! Eine verdammte Schande, dass wir gezwungen sind, hier auszuharren und uns an diesem Ufer die Beine in den Bauch zu stehen!«

West biss sich auf die Lippe. Prinz Ladislas unglaubliches Talent für Selbsttäuschung wurde mit jedem Tag, der verging, unerträglicher. Seine Hoheit hatte sich in die Vorstellung verrannt, ein großer und berühmter Feldherr zu sein, der eine unvergleichliche Kampftruppe befehligte. Er träumte davon, einen ruhmreichen Sieg zu erringen und zu Hause in Adua als Held gefeiert zu werden. Statt jedoch auch nur den Hauch einer Anstrengung zu unternehmen, damit das auch geschah, benahm er sich vielmehr, als sei das alles schon passiert, und verschloss sich völlig der Wirklichkeit. Nichts, was seiner verblendeten Wahrnehmung widersprach, durfte an ihn herankommen. Die Stutzer seines Stabes, die alle zusammen keinen Monat Felderfahrung vorweisen konnten, gratulierten ihm währenddessen zu seiner hervorragenden Urteilsfähigkeit, klopften sich gegenseitig auf die Schultern und stimmten jeder seiner Äußerungen zu, ganz gleich, wie albern sie sein mochte.

Sich nie etwas versagen zu müssen, nie für etwas arbeiten zu müssen und niemals auch nur die geringste Selbstdisziplin aufbringen zu müssen, das vermittelte einem Menschen sicherlich eine seltsame Haltung gegenüber der Welt, überlegte West. Der Beweis ritt gerade neben ihm her und lächelte so sorglos, als sei es eine Kleinigkeit, für zehntausend Menschen verantwortlich zu sein. Für den Kronprinz war Wirklichkeit, wie Lord Marschall Burr bereits festgestellt hatte, tatsächlich ein Fremdwort.

»Kalt«, murmelte Ladisla. »Das ist was anderes als die Wüsten von Gurkhul, was, Oberst West?«

»In der Tat, Euer Hoheit.«

»Aber ein paar Sachen sind auch gleich, oder nicht? Ich rede vom Krieg, West! Vom Krieg im Allgemeinen! Das ist doch überall dasselbe! Mut! Ehre! Ruhm! Sie haben unter Oberst Glokta gekämpft, nicht wahr?«

»Ja, Euer Hoheit, das stimmt.«

»Ich habe die Geschichten über die Taten dieses Mannes so geliebt! Einer der Helden meiner Jugend. Wie er seinen Feinden in den Rücken fiel, ihre Nachrichten abfing, ihre Versorgungszüge überfiel und was nicht alles.« Die Reitpeitsche des Prinzen illustrierte all diese noblen Handlungen mit heftigen Bewegungen. »Großartig! Und Sie haben all das gesehen?«

»Einiges davon, Euer Hoheit, ja.« Vor allem hatte er wund gerittene Soldaten, Sonnenbrand, Plünderungen, Trunkenheit und eitle Prahlereien miterlebt.

»Oberst Glokta, ich muss schon sagen! Von seinem Schneid könnten wir hier was gebrauchen, nicht wahr, West? Ein bisschen was von seinem Draufgängertum! Seiner Energie! Eine Schande, dass er tot ist.«

West sah auf. »Er ist nicht tot, Euer Hoheit.«

»Ist er nicht?«

»Er wurde von den Gurkhisen gefangen genommen und dann der Union wieder überstellt, als der Krieg vorbei war. Er … äh … er ging zur Inquisition.«

»Zur Inquisition?« Der Prinz machte ein entsetztes Gesicht. »Warum um alles in der Welt sollte ein Mann das Soldatenleben für so etwas aufgeben?«

West suchte nach Worten, gab es dann aber auf. »Ich kann es mir auch nicht denken, Euer Hoheit.«

»Zur Inquisition gegangen! Also, das hätte ich ja nie gedacht.« Sie ritten einen Augenblick schweigend weiter. Allmählich kehrte das Lächeln auf das Gesicht des Prinzen zurück. »Aber wir sprachen doch gerade von den Ehren des Krieges, oder nicht?«

West verzog das Gesicht. »Das taten wir, Euer Hoheit.«

»Sie stürmten als Erster durch die Bresche von Ulrioch, nicht wahr? Der Erste, der durch die Bresche brach, wie ich hörte! Da haben Sie doch Ehre gewonnen, was? Das hat Ihnen Ruhm gebracht, nicht wahr? Das muss doch eine wirklich spannende Erfahrung gewesen sein, was, Herr Oberst? Ein echtes Erlebnis!«

Er hatte sich durch einen Trümmerhaufen von Mauersteinen und Bauholz gekämpft, der mit verkrümmten Leichen übersät war, er war halb blind gewesen vom Rauch und halb erstickt vom Staub, und von überall waren Schreie und Geheul und das Aufeinanderschlagen von Metall ertönt. Vor Angst hatte er kaum atmen können. Von allen Seiten waren andere Männer an ihn herangedrängt, stöhnend, schiebend, stolpernd, brüllend, überströmt von Blut und Schweiß, schwarz vor Schmiere und Ruß, nur halb erkennbare Gesichter, verzerrt vor Schmerz und Wut. Teufel, in der Hölle.

West erinnerte sich daran, wie er wieder und wieder »Vorwärts!« geschrien hatte, ohne überhaupt zu wissen, welche Richtung er damit gemeint hatte. Er hatte jemanden mit seinem Degen erstochen, ob Freund oder Feind, das wusste er nicht, weder damals noch heute. Er wusste nur noch, wie er gestürzt war und sich den Kopf an einem Stein aufgeschlagen hatte, wie seine Jacke an einem zersplitterten Balken zerrissen war. Augenblicke, Bruchstücke, wie aus einer Geschichte, die er einmal jemand anderen hatte erzählen hören.

West zog sich den Mantel enger um die frierenden Schultern und wünschte, der Stoff sei dicker. »Das war wirklich ein Erlebnis, Euer Hoheit.«

»Eine verdammte Schande, dass dieser verdammte Bethod nicht in diese Richtung marschieren wird!« Prinz Ladisla ließ seine Reitpeitsche zornig durch die Luft pfeifen. »Das hier ist doch kaum besser als Wachestehen! Hält mich Burr vielleicht für einen Narren, West?«

West holte tief Luft. »Das kann ich unmöglich sagen, Euer Hoheit.«

Die sprunghafte Natur des Prinzen hatte sich indes schon wieder anderen Dingen zugewandt. »Was ist nun mit Ihren kleinen Lieblingen? Diesen Nordmännern. Die mit den komischen Namen. Wie heißt der noch, dieser verdreckte Mensch? Wolfsmann, nicht wahr?«

»Hundsmann.«

»Hundsmann, genau! Herrlich!« Der Prinz kicherte vor sich hin. »Und dieser andere ist verdammt noch mal der größte Kerl, den ich je gesehen habe! Ausgezeichnet! Was treiben sie denn jetzt?«

»Ich habe sie nördlich des Flusses auf Kundschaftergang geschickt, Euer Hoheit.« West wünschte sich sehnlichst, jetzt bei ihnen sein zu können. »Der Feind ist zwar vermutlich weit entfernt, aber falls nicht, sollten wir rechtzeitig davon erfahren.«

»Natürlich, das sollten wir. Hervorragende Idee. So könnten wir dann unseren Angriff vorbereiten!«

West hatte für diesen Fall eher einen zeitigen Rückzug und einen schnellen Boten an Marschall Burr geplant, aber es hatte keinen Sinn, das jetzt zu erwähnen. Ladislas Vorstellung von Krieg erschöpfte sich darin, einen ruhmreichen Ausfall zu veranlassen und dann zu Bett zu gehen. Strategie und Rückzug waren Ausdrücke, die nicht zu seinem Wortschatz zählten.

»Ja«, murmelte der Prinz vor sich hin, während seine Augen über die Bäume auf der anderen Seite des Flusses huschten. »Einen Angriff vorbereiten und sie bis hinter die Grenze zurückdrängen …«

Die Grenze war gute hundert Längen entfernt. West nutzte den Augenblick, in dem der Prinz kurz schwieg. »Euer Hoheit, wenn Sie mich entschuldigen würden, ich habe noch sehr viel zu tun.«

Das war keine Lüge. Das Lager war errichtet worden, ohne dass man besonderes Augenmerk auf praktische Gegebenheiten oder eine gute Verteidigung gerichtet hatte. Ein unordentliches Labyrinth flatternder Leinwandzelte erstreckte sich über eine große Lichtung nahe des Flusses, obwohl der Boden dazu eigentlich zu weich war und schon bald von den Versorgungskarren in Matsch und Schlamm verwandelt werden würde. Zuerst hatte es gar keine Latrinen gegeben, dann hatte man sie nicht tief genug ausgehoben und viel zu nahe am Lager errichtet, nicht weit von der Stelle, wo die Lebensmittel gelagert wurden. Lebensmittel, die zudem schlecht verpackt und ungenügend haltbar gemacht worden waren und nun bereits verdarben, sodass sie alle Ratten Anglands anlockten. Wäre es nicht so kalt gewesen, dann hätten längst Krankheiten im Lager gewütet, daran hatte West keine Zweifel.

Prinz Ladisla machte eine lässige Handbewegung. »Natürlich, viel zu tun. Sie können mir morgen mehr von Ihren Geschichten erzählen, was, West? Von Oberst Glokta und so. Eine verdammte Schande, dass er tot ist!«, rief er noch über seine Schulter hinweg, als er auf sein riesiges purpurnes Zelt zuritt, das hoch oben auf einem Hügel weit oberhalb des Gestanks und der Unordnung lag.

West wandte erleichtert sein Pferd und ließ es den Abhang zum Lager hinuntertraben. Er kam an Männern vorbei, die mit dampfendem Atem durch den halb gefrorenen Morast stolperten und ihre Hände mit dreckigen Lumpen umwickelt hatten. Andere saßen zitternd in kleinen Grüppchen vor ihren geflickten Zelten, wobei nicht zwei von ihnen die gleiche Kleidung trugen. Sie drängten sich so nahe an die kleinen Feuer, wie sie es nur wagten, hantierten mit Kochgeschirr, spielten traurige Runden mit feuchten Karten, tranken und starrten in die kalte Luft.

Die besser ausgebildeten Einberufenen waren mit Poulder und Kroy dem Feind entgegengezogen. Ladisla hatte man den Rest überlassen: jene, die zu schwach waren, um zügig zu marschieren, zu schlecht ausgerüstet, um gut zu kämpfen, und zu niedergeschlagen, um überhaupt irgendetwas mit großer Überzeugung zu tun. Männer, die ihr Zuhause ihr ganzes Leben lang nicht verlassen hatten und die man nun gezwungen hatte, übers Meer in ein Land zu fahren, über das sie nichts wussten, um einen Feind zu bekriegen, mit dem sie keinen Streit hatten, aus Gründen, die sie nicht verstanden.

Einige von ihnen hatten vielleicht bei ihrem Aufbruch einen Hauch patriotischen Pflichtgefühls empfunden, eine Art männlichen Stolz, aber die harten Märsche, das schlechte Essen und das kalte Wetter hatten inzwischen jegliche Begeisterung aus ihnen herausgetrieben. Prinz Ladisla war auch nicht der mitreißende Anführer, der neues Feuer in ihnen hätte entfachen können, wenn er denn überhaupt die geringste Anstrengung dazu unternommen hätte.

West sah in die grimmigen, müden, ausgemergelten Gesichter, als er an ihnen vorbeiritt, und sie blickten zurück, mit jetzt schon besiegter Miene. Sie wollten nur noch nach Hause, und West konnte ihnen das nicht verübeln. Ihm ging es nicht anders.

»Oberst West!«

Ein massiger Mann lachte ihm entgegen, ein Mann mit dichtem Bart, der die Uniform eines Offiziers der Königstreuen trug. Nach kurzem Zögern erkannte West mit einem Ruck, dass es Jalenhorm war. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und ergriff die Rechte des Leutnants mit beiden Händen. Es tat gut, ihn hier zu sehen. Ein aufrechtes, ehrliches, vertrauenswürdiges Gesicht. Eine Erinnerung an ein früheres Leben, als West sich noch nicht unter die Großen der Welt gemischt hatte und alles noch viel einfacher gewesen war. »Wie geht es Ihnen. Jalenhorm?«

»Ganz gut, Herr Oberst, danke der Nachfrage. Ich habe nur mal eine Runde durchs Lager gedreht, um die Warterei ein bisschen abzukürzen.« Der große Mann formte die Hände zu einer Schüssel und blies hinein, dann rieb er die Flächen aneinander. »Nur, um warm zu bleiben.«

»So ist der Krieg, meiner Erfahrung nach. Viel Warterei unter unangenehmen Bedingungen. Sehr viel Warterei, unterbrochen von Augenblicken größten Entsetzens.«

Jalenhorm grinste trocken. »Dann können wir uns ja noch auf etwas freuen. Wie läuft es im Stab des Prinzen?«

West schüttelte den Kopf. »Als gäbe es einen Wettbewerb darin, wer in Arroganz, Unwissenheit und Verschwendungssucht die anderen übertreffen kann. Wie geht es Ihnen? Wie gefällt Ihnen das Lagerleben?«

»Wir sind gar nicht so übel dran. Aber einige der Einberufenen tun mir leid. Sie sind nicht in der Verfassung, um zu kämpfen. Wie ich hörte, sind einige der Älteren in der letzten Nacht erfroren.«

»Das kommt vor. Hoffen wir, dass man sie tief genug begräbt, und in ausreichender Entfernung von uns anderen.« West konnte seinem Gegenüber ansehen, dass er ihn für herzlos hielt, aber es war nun einmal so. In Gurkhul waren nur wenige der Toten tatsächlich den großen Schlachten zum Opfer gefallen, vielmehr Unfällen, Krankheiten oder Wundbrand nach kleinen Verletzungen. Irgendwann nahm man das hin. Und bei der schlechten Ausrüstung einiger Einberufener? Sie würden jeden Tag einige Männer begraben. »Wie sieht es mit Ihnen aus? Brauchen Sie irgendetwas?«

»Da gäbe es wirklich etwas. Mein Pferd hat in diesem Morast ein Hufeisen verloren, und ich habe versucht, jemanden zu finden, der es neu beschlagen kann.« Jalenhorm breitete die Hände aus. »Ich mag mich irren, aber ich glaube, im ganzen Lager haben wir nicht einen Hufschmied.«

West starrte ihn an. »Keinen einzigen?«

»Ich konnte jedenfalls keinen finden. Es gibt Schmieden, Ambosse, Hämmer und alles, aber … niemanden, der mit ihnen umzugehen weiß. Einer der Quartiermeister sagte mir, General Poulder habe sich geweigert, uns einen seiner Schmiede zu überlassen, ebenso wie General Kroy. Und so«, Jalenhorm zuckte die Achseln, »haben wir eben keinen.«

»Und niemand hat sich die Mühe gemacht, das zu überprüfen?«

»Wer denn?«

West spürte den vertrauten Kopfschmerz hinter seinen Augäpfeln einsetzen. Pfeile brauchen Spitzen, Klingen müssen geschärft werden, Waffen und Sättel und die Versorgungskarren erfordern gelegentlich eine Reparatur. Ein Heer ohne einen Schmied ist genauso gut oder schlecht wie ein Heer ohne Waffen. Und jetzt saßen sie hier in diesem eiskalten Land, meilenweit entfernt von jeder Siedlung. Es sei denn …

»Wir sind doch auf dem Weg hierher an einer Strafkolonie vorbeigekommen.«

Jalenhorm kniff die Augen zusammen, während er sich zu erinnern suchte. »Ja, eine Eisengießerei, glaube ich. Hinter den Bäumen habe ich Rauch gesehen.«

»Dort sollte es doch wohl einige geschickte Arbeiter geben, die mit Metall umzugehen wissen.« Jalenhorm hob die Augenbrauen. »Einige verbrecherische Arbeiter.«

»Ich nehme, was ich bekommen kann. Heute fehlt Ihrem Pferd ein Hufeisen, und morgen haben wir vielleicht keine Waffen zum Kämpfen! Trommeln Sie ein Dutzend Leute zusammen und holen Sie einen Wagen. Wir brechen sofort auf.«

 

Das Gefängnis ragte im kalten Regen zwischen den umstehenden Bäumen auf. Es war von einer Palisade aus dicken, moosbewachsenen Stämmen umgeben, die von gebogenen und verrosteten Spitzen gekrönt war. Ein düster wirkender Ort, der einem düsteren Zweck diente. West schwang sich aus dem Sattel, während Jalenhorm und seine Männer ihre Pferde zügelten, und ging mit schmatzenden Schritten über den aufgeweichten Weg zum Tor, wo er mit dem Knauf seines Degens gegen das verwitterte Holz schlug.

Es dauerte eine Weile, bis sich eine kleine Luke öffnete. Ein graues Augenpaar sah ihm misstrauisch durch die Öffnung entgegen. Graue Augen über einer schwarzen Maske. Ein Praktikal der Inquisition.

»Mein Name ist Oberst West.«

Die Augen musterten ihn kalt. »Und?«

»Ich stehe im Dienst Seiner Hoheit Prinz Ladisla, und ich muss mit dem Kommandanten dieses Lagers sprechen.«

»Weshalb?«

West machte ein grimmiges Gesicht und gab sein Bestes, um einen wichtigen Eindruck zu machen, obwohl ihm das Haar vor Nässe am Kopf klebte und ihm der Regen vom Kinn tropfte. »Wir sind im Krieg, und ich habe keine Zeit, mit Ihnen hier Nettigkeiten auszutauschen! Ich muss dringend mit dem Kommandanten sprechen!«

Die Augen verengten sich. Sie ruhten eine Weile auf West und sahen dann zu dem Dutzend heruntergekommener Soldaten hinter ihm.

»Na schön«, sagte der Praktikal. »Sie dürfen hinein, aber nur Sie allein. Die anderen müssen warten.«

Die Hauptstraße bestand aus einem Streifen aufgeweichten Morasts, der sich zwischen windschiefen Hütten dahinzog. Wasser plätscherte aus den Regenrinnen in den Dreck. Zwei Männer und eine Frau, völlig durchnässt, versuchten, einen mit Steinen beladenen Karren auf der Straße voranzubewegen. Die Räder steckten bis zu den Naben im Schmutz. Alle drei trugen schwere Eisen um die Knöchel, und in ihren ausgezehrten, knochigen, hohlwangigen Gesichtern stand der Mangel an Hoffnung ebenso geschrieben wie der Mangel an Essen.

»Bewegt endlich diesen verfluchten Wagen«, herrschte der Praktikal sie an, und sie machten sich erneut mit gesenkten Köpfen an ihre wenig beneidenswerte Aufgabe.

West kämpfte sich durch den Morast auf ein gemauertes Gebäude am Ende des Lagers zu und versuchte dabei erfolglos, von einem halbwegs trockenen Fleckchen zum nächsten zu springen. An der Schwelle des Hauses wartete ein weiterer mürrischer Praktikal in dreckigem Ölzeug, von dessen Schultern das Wasser tropfte. Seine harten Augen folgten West mit einer Mischung aus Misstrauen und Gleichgültigkeit. Der Oberst und sein Führer gingen wortlos an ihm vorbei und traten in eine düstere Halle, die vom Prasseln des Regens widerhallte. Der Praktikal klopfte an eine schiefe Tür.

»Herein.«

Sie kamen in einen kleinen, nackten Raum mit grauen Wänden, der kalt war und ein wenig feucht roch. Ein winziges Feuer flackerte im Kamin, und auf einem durchhängenden Regal waren Bücher aufgereiht. Von einer Wand sah ein Porträt des Königs der Union majestätisch auf sie hinunter. An einem billig zusammengezimmerten Schreibtisch saß ein hagerer Mann in einem schwarzen Mantel und schrieb. Er sah West eine Weile an, dann legte er seine Feder bedächtig hin und rieb sich mit tintenbeflecktem Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

»Wir haben Besuch«, knurrte der Praktikal.

»Das sehe ich. Ich bin Inquisitor Lorsen, der Kommandant unseres kleinen Lagers.«

West drückte die knochige Hand so oberflächlich wie möglich. »Oberst West. Ich bin mit Prinz Ladislas Streitkräften unterwegs. Wir haben ein Dutzend Meilen weiter nördlich unser Lager aufgeschlagen.«

»Aber ja. Wie kann ich Seiner Hoheit zu Diensten sein?«

»Wir brauchen unbedingt einige gut ausgebildete Arbeiter, die sich mit Metall auskennen. Sie haben hier eine Eisengießerei, nicht wahr?«

»Eine Mine, eine Gießerei, eine Schmiede zur Herstellung von Ackergeräten, aber ich verstehe nicht, was das …«

»Hervorragend. Ich werde etwa ein Dutzend Männer mit mir nehmen, die fähigsten, die Sie hier haben.«

Der Kommandant runzelte die Stirn. »Das kommt nicht in Frage. Die Gefangenen hier haben sich der schwersten Verbrechen schuldig gemacht. Ohne einen vom Erzlektor persönlich unterzeichneten Befehl dürfen sie nicht entlassen werden.«

»Dann haben wir ein Problem, Herr Inquisitor Lorsen. Ich habe zehntausend Männer, deren Waffen geschärft, deren Rüstungen in Stand gesetzt und deren Pferde beschlagen werden müssen. Wir können jeden Augenblick in einen Kampf verwickelt werden. Auf Befehle vom Erzlektor oder sonst jemandem kann ich nicht warten. Ich muss einige Schmiede mit mir nehmen. Punkt.«

»Aber Sie müssen begreifen, dass ich es nicht zulassen kann …«

»Sie erkennen nicht den Ernst der Lage!«, bellte West, der seinen Jähzorn kaum noch zügeln konnte. »Senden Sie von mir aus einen Brief an den Erzlektor! Ich schicke einen Mann ins Lager, damit er mit einer Kompanie Soldaten zurückkommt, und dann werden wir ja sehen, wessen Verstärkung schneller vor Ort ist!«

Der Kommandant dachte einen Augenblick darüber nach. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Folgen Sie mir.«

Zwei dreckige Kinder sahen West von der Eingangstreppe einer Hütte zu, als er aus der Kommandantur heraustrat, zurück in den unaufhörlichen Regen.

»Sie haben hier auch Kinder?«

»Wir haben hier ganze Familien, wenn sie als Gefahr für den Staat betrachtet werden.« Lorsen warf ihm einen Seitenblick zu. »Eine Schande ist das, aber es waren stets harte Maßnahmen vonnöten, um die Union zusammenzuhalten. Ihrem Schweigen entnehme ich, dass Sie anderer Meinung sind.«

West sah eines der zerlumpten Kinder durch den Dreck marschieren, ein Kind, das vielleicht dazu verdammt war, sein ganzes Leben an diesem freudlosen Ort zuzubringen.

»Ich halte es für ein Verbrechen.«

Der Kommandant zuckte die Achseln. »Machen Sie sich nichts vor. Jeder ist irgendeines Verbrechens schuldig, und selbst Unschuldige können eine Bedrohung sein. Vielleicht braucht es kleine Verbrechen, um größere zu verhindern, Oberst West, aber es ist an höher gestellten Menschen, als wir es sind, das zu entscheiden. Ich sorge nur dafür, dass sie hart arbeiten, einander nicht anfallen und nicht entfliehen.«

»Sie machen hier nur Ihre Arbeit, nicht wahr? Ein höchst beliebtes Argument, um sich vor Verantwortung zu drücken.«

»Wer von uns beiden lebt denn hier oben mit diesen Leuten, mitten im Niemandsland? Wer von uns wacht über sie, versorgt sie mit Kleidern und Nahrung, hält sie sauber und kämpft einen aussichtslosen, endlosen Kampf gegen ihre verdammten Läuse? Sind Sie es, der sie daran hindert, sich gegenseitig zu schlagen, zu vergewaltigen und zu töten? Sie sind ein Offizier der Königstreuen, nicht wahr, Herr Oberst? Dann leben Sie also in Adua? In einem netten Quartier im Agriont, unter reichen und wohlerzogenen Menschen?« West verzog das Gesicht, und Lorsen lachte leise. »Wer von uns hat sich hier vor der Verantwortung gedrückt, wie Sie es formulieren? Mein Gewissen ist völlig rein. Hassen Sie uns, wenn Sie wollen, wir sind das gewöhnt. Niemand schüttelt gern die Hand des Mannes, der die Latrinen ausschöpft, aber auch das ist eine Aufgabe, die getan werden muss, damit die Kacke nicht überläuft. Sie können Ihre Schmiede haben, aber setzen Sie sich mir gegenüber nicht aufs hohe Ross. Das steht keinem von uns hier zu.«

West gefiel das nicht, aber er musste zugeben, dass der Mann seine Ansichten gut vorgebracht hatte. Daher biss er die Zähne zusammen und ging schweigend und mit gesenktem Kopf weiter. Sie schritten über den aufgeweichten Boden auf einen langen, fensterlosen, gemauerten Schuppen zu, aus dessen Schornsteinen, die an den Ecken des Gebäudes aufragten, dicker Qualm in die feuchte Luft stieg. Der Praktikal schob den Riegel der schweren Tür zurück und zog sie mit Mühe auf, und West folgte ihm und Lorsen in die Dunkelheit.

Die Hitze war nach der eiskalten Luft draußen wie ein Schlag ins Gesicht. Beißender Rauch brannte in Wests Augen und kratzte in seiner Kehle. Der Lärm in dem engen Raum war Furcht einflößend. Große Blasebälge ächzten und fauchten,

Hämmer schlugen auf Ambosse und ließen zornige Funken sprühen, glühend heißes Metall zischte wild beim Eintauchen in die Wassertonnen. Überall waren Männer, eng aneinandergedrängt, schwitzend, schnaufend, hustend, mit hageren Gesichtern, die von der roten Glut der Schmiedefeuer erhellt wurden. Teufel, in der Hölle.

»Alle aufhören zu arbeiten!«, brüllte Lorsen. »Aufhören und aufstellen!«

Die Männer legten langsam ihre Werkzeuge nieder, taumelten und stolperten und torkelten vor, um eine Reihe zu bilden, während vier oder fünf Praktikale sie aus den Schatten beobachteten. Eine abgekämpfte, gebeugte, gebrochene, traurige Reihe. Einige Männer waren nicht nur an den Füßen in Ketten gelegt, sondern auch an den Händen. Sie alle wirkten nicht gerade, als seien sie die Lösung für Wests Probleme, aber er hatte keine Wahl. Etwas anderes gab es nicht.

»Wir haben Besuch von draußen. Sagen Sie Ihr Sprüchlein auf, Oberst West.«

»Mein Name ist Oberst West«, krächzte er, und seine Stimme versagte beinahe in der beißenden Luft. »Etwa ein Dutzend Meilen von hier entfernt lagern zehntausend Soldaten unter dem Befehl von Kronprinz Ladisla. Wir brauchen Schmiede.« West räusperte sich und versuchte lauter zu sprechen, ohne einen Hustenanfall zu bekommen. »Wer von Ihnen kann mit Metall umgehen?«

Niemand antwortete. Die Männer starrten auf ihre fadenscheinigen Schuhe oder ihre nackten Füße, und einige blickten verstohlen zu den drohend wachenden Praktikalen.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Wer von Ihnen kann mit Metall umgehen?«

»Ich, Herr Oberst.« Ein Mann trat mit rasselnden Fußfesseln vor. Er war hager, sehnig und hielt sich leicht gebeugt. Als das Licht der Lampen auf sein Gesicht fiel, zuckte West unwillkürlich zusammen. Er war von hässlichen Brandwunden entstellt. Eine Seite seines Gesichts war eine Masse ekelhafter, leicht geschmolzen aussehender Narben, die Augenbraue fehlte, und seine Kopfhaut zeigte viele kahle, rosige Stellen. Die andere Gesichtshälfte sah nur wenig besser aus. Der Mann hatte kaum noch ein Gesicht. »Ich kann eine Schmiede bedienen, und ich habe auch als Soldat gedient, in Gurkhul.«

»Gut«, murmelte Welt, der sich bemühte, sein Entsetzen über das Äußere des Mannes zu verbergen. »Wie ist Ihr Name?«

»Pike.«

»Taugen noch einige andere zur Arbeit mit Metall, Pike?«

Der Mann mit dem verbrannten Gesicht schlurfte mit rasselnden Ketten an den Männern entlang, zog einige an der Schulter nach vorn, während der Kommandant ihn mit stetig finsterer werdender Miene beobachtete.

West fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es war kaum zu glauben, dass ihm, nachdem er so stark gefroren hatte, in so kurzer Zeit so verdammt heiß werden würde, aber so war es, und er fühlte sich unwohler denn je. »Ich werde die Schlüssel für ihre Fußfesseln brauchen, Herr Inquisitor.«

»Es gibt keine Schlüssel. Die Eisen wurden verschweißt. Sie sind nicht dazu gedacht, je abgenommen zu werden, und ich würde Ihnen das auch nicht raten. Viele dieser Gefangenen sind extrem gefährlich, und Sie sollten nicht vergessen, dass sie uns wieder überstellt werden müssen, sobald Sie sich anderweitig behelfen können. Bei der Inquisition gibt es keine vorzeitige Entlassung.« Er stolzierte davon, um mit den Praktikalen zu sprechen.

Pike trat nun neben West und zog eine weitere Gestalt am Ellenbogen mit sich. »Ich bitte um Vergebung, Herr Oberst«, murmelte er leise mit tiefer Stimme, »aber wäre es möglich, auch meine Tochter irgendwo unterzubringen?«

West bewegte unangenehm berührt die Schultern. Er hätte am liebsten jeden hier herausgeholt und das ganze Lager dem Erdboden gleichgemacht, aber er riskierte jetzt schon eine ganze Menge. »Das ist keine gute Idee, eine Frau zwischen den ganzen Soldaten. Das ist überhaupt keine gute Idee.«

»Es ist für sie besser, als wenn sie hierbleibt, Herr Oberst. Ich kann sie nicht allein zurücklassen. Sie kann mir in der Schmiede helfen. Immerhin kann sie auch selbst den Hammer schwingen, wenn es sein muss. Sie ist stark.«

Sie sah nicht stark aus. Eher dürr und zerlumpt. Ihr knochiges Gesicht war mit Ruß und Öl beschmiert. West hätte sie beinahe für einen Jungen gehalten. »Es tut mir leid, Pike, aber vor uns liegt wirklich kein leichter Ritt.«

Sie packte Wests Arm, als er sich abwandte. »Hier ist es auch kein leichter Ritt.« Ihre Stimme war eine Überraschung. Weich, sanft, gebildet. »Ich heiße Cathil. Ich kann arbeiten.« West sah an ihr herunter, wollte sie gerade abschütteln, aber ihr Gesichtsausdruck weckte eine Erinnerung. Bar allen Schmerzes. Bar aller Angst. Leere Augen, ausdruckslos, wie die einer Leiche.

Ardee. Mit Blut auf ihrer Wange.

West verzog das Gesicht. Die Erinnerung war wie eine Wunde, die nicht heilen wollte. Die Hitze war unerträglich, alles an ihm zuckte vor Unbehagen, seine Uniform rieb wie Sandpapier auf der feuchten Haut. Er musste aus diesem schrecklichen Gebäude heraus.

Er wandte den Kopf ab, und seine Augen brannten. »Sie auch«, bellte er.

Lorsen schnaubte. »Soll das ein Witz sein, Herr Oberst?«

»Glauben Sie mir, ich bin nicht in der Stimmung für Witze.«

»Gut ausgebildete Männer sind eine Sache. Da kann ich begreifen, dass Sie sie brauchen, aber ich kann es Ihnen nicht gestatten, sich irgendwelche Gefangenen auszusuchen, die Ihnen gefallen …«

West hatte den Mund vor Wut verzerrt. Er war mit seiner Geduld am Ende. »Sie auch, habe ich gesagt!«

Falls der Kommandant sich von Wests Zorn beeindrucken ließ, zeigte er es nicht. Sie standen einen langen Augenblick da, während der Schweiß Wests Gesicht hinunterrann und das Blut in seinen Schläfen pochte.

Dann nickte Lorsen langsam. »Sie auch. Nun gut. ich kann Sie nicht daran hindern.« Er beugte sich ein wenig vor. »Aber der Erzlektor wird davon hören. Er ist weit weg, und es mag dauern, bis er es erfährt, aber er wird es tun.« Er kam noch ein wenig näher und flüsterte nun beinahe in Wests Ohr. »Vielleicht werden Sie eines Tages einmal wieder zu uns kommen, aber dieses Mal auf ewig. Vielleicht können Sie sich in der Zwischenzeit Ihre kleine Ansprache über das moralische Für und Wider der Strafkolonien neu zurechtlegen. Die können Sie dann gern hier aufsagen.« Lorsen wandte sich ab. »Und jetzt nehmen Sie meine Gefangenen und verschwinden Sie. Ich muss noch einen Brief schreiben.«