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Der Wartebereich zum Verhandlungssaal B bestand aus einer improvisierten Sammlung von Bauhaus-Bänken aus den Siebzigern, die einen nichtssagenden Flur im 21. Stock des Polizeipräsidiums säumten. D’Agosta saß auf einer dieser Bänke und atmete die abgestandene Luft ein; aus der Herren toilette in der Nähe kam der Gestank von Putzmitteln und Ammoniak; der Geruch von abgestandenem Parfüm, Schweiß und kaltem Zigarettenrauch war zu tief in die Wände ein gedrungen, als dass er jemals völlig übertüncht werden konnte. Hinzu kam der scharfe, allgegenwärtige Geruch der Angst.
Angst war allerdings das Letzte, was ihn belastete. Gegen D’Agosta lief ein offizielles Disziplinarverfahren, das entscheiden würde, ob er je wieder seinen Beruf ausüben würde, und er empfand nichts als Müdigkeit und innere Leere. Seit Monaten schon schwebte dieses Verfahren über ihm wie ein Damoklesschwert; jetzt war es fast zu Ende – was immer auch dabei herauskommen mochte.
Neben ihm rutschte Thomas Shoulders, sein Pflichtanwalt, unruhig auf der Bank herum. »Sonst noch etwas, das Sie noch ein letztes Mal durchgehen möchten?«, fragte er mit seiner dünnen Stimme. »Ihre Aussage oder die wahrscheinliche Vernehmungstaktik der Gegenseite?«
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Nichts mehr, danke.«
»Der zuständige Anwalt wird den Fall fürs New York Police Department darlegen. Vielleicht kann uns das nützen. Kagelman ist hart, aber gerecht. Er ist von der alten Schule. Wir sollten das Ganze offensiv angehen: keine Ausflüchte, immer bei der Wahrheit bleiben. Beantworten Sie die Fragen mit einem einfachen Ja oder Nein, gehen Sie nicht in die Details, es sei denn, Sie werden darum gebeten. Halten Sie sich an die Linie, die wir abgesprochen haben – guter Cop in misslicher Situation tat sein Möglichstes, damit der Gerechtigkeit gedient wurde. Wenn wir das Ganze auf dieser Ebene halten können, bin ich vorsichtig optimistisch.«
Vorsichtig optimistisch. Aus dem Mund eines Flugzeugpiloten, eines Chirurgen oder des eigenen Anwalts klangen diese Worte nicht gerade ermutigend.
D’Agosta dachte an jenen schicksalhaften Tag im Herbst zurück, als er Pendergast zufällig beim Entenfüttern angetroffen hatte. Das lag zwar erst ein halbes Jahr zurück, aber was für eine lange, merkwürdige Reise lag inzwischen hinter ihm …
»Nervös?«, fragte Shoulders.
D’Agosta sah auf die Uhr. »Ich will die verdammte Sache bloß endlich hinter mich bringen. Ich hab’s satt, hier rumzusitzen und darauf zu warten, dass das Beil fällt.«
»So sollten Sie nicht darüber denken, Lieutenant. Bei einem Disziplinarverfahren geht es zu wie bei jedem anderen Prozess vor einem amerikanischen Gericht: Bis zum Beweis Ihrer Schuld gelten Sie als unschuldig.«
Schön wär’s. D’Agosta seufzte und rutschte unruhig auf der Bank herum. Dabei erblickte er Captain Laura Hayward, die auf dem belebten Flur auf sie beide zukam.
Sie näherte sich ihnen mit dem ihr eigenen gemessenen, energischen Schritt, trug einen grauen Kaschmirpullover und einen Faltenrock aus marineblauer Wolle. Plötzlich war der triste Korridor mit Leben erfüllt. Und doch war es ihm unangenehm, dass sie ihn so sah: auf einer Bank sitzend wie ein x-beliebiger Delinquent, der auf seine Auspeitschung wartet. Vielleicht würde sie weitergehen, einfach weitergehen, wie sie es an jenem Tag in der kleinen Polizeiwache unter dem Madison Square Garden getan hatte.
Aber sie ging nicht weiter. Sondern blieb vor der Bank stehen und nickte ihm und Shoulders zu.
»Hi«, brachte D’Agosta heraus. Er merkte, dass er vor Verlegenheit und Scham rot wurde, und ärgerte sich darüber.
»Hi, Vinnie«, erwiderte sie mit ihrer hauchigen Altstimme.
»Hast du eine Minute Zeit?«
Einen Augenblick lang wusste keiner, was er sagen sollte.
»Na klar.« Er drehte sich zu Shoulders um. »Können Sie kurz auf mich verzichten?«
»Gehen Sie nicht zu weit weg, wir sind gleich dran.«
D’Agosta folgte Hayward bis zu einem ruhigeren Abschnitt des Flurs. Sie blieb stehen, sah ihn an und strich sich dabei mit einer Hand unbewusst den Rock glatt. D’Agosta warf einen Blick auf ihre wohlgeformten Beine und spürte, wie sein Herz noch schneller schlug. Er suchte in seinen Gedanken nach etwas, das er sagen konnte, aber er fand nichts.
Aber auch Hayward schienen – untypischerweise – die Worte zu fehlen. Ihr Gesicht wirkte, als sei sie innerlich hin- und hergerissen. Sie öffnete ihre Handtasche, fingerte kurz darin herum, schloss sie wieder und steckte sie sich unter den Arm. Einen Moment lang standen sie schweigend da, während Polizeibeamte, Techniker und Leute vom Gericht vorbeigingen.
»Bist du hier, um eine Aussage zu machen?«, fragte D’Agosta schließlich.
»Nein. Ich habe meine eidesstattliche Erklärung schon vor einem Monat abgegeben.«
»Also hast du nichts mehr zu sagen?«
»Nein.«
Ein sonderbares Gefühl überkam D’Agosta, als ihm klarwurde, was das bedeutete. Also hat sie über meine Rolle beim Herkmoor-Ausbruch den Mund gehalten, dachte er. Sie hat niemandem davon erzählt.
»Ich habe von einem Freund im Justizministerium einen Anruf erhalten«, sagte sie. »Die Nachricht ist soeben eingetroffen. Was das FBI betrifft, ist Special Agent Pendergast offiziell von allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Mordkommission hat die Untersuchung wiederaufgenommen, aber wie’s aussieht, werden auch wir alle Anklagepunkte gegen ihn fallen lassen. Auf Grundlage der Beweismittel, die wir aus der Reisetasche von Diogenes Pendergast geborgen haben, ist ein neuer Haftbefehl gegen Diogenes ausgestellt worden. Ich dachte mir, dass dich das interessiert.«
D’Agosta fiel ein Stein vom Herzen. »Gott sei Dank. Also ist Pendergast komplett freigesprochen.«
»Ja, jedenfalls von den strafrechtlichen Anklagepunkten. Allerdings hat er sich mit Sicherheit keine neuen Freunde beim FBI gemacht.«
»Popularität war nie seine Stärke.«
Hayward lächelte matt. »Man hat ihm eine sechsmonatige Beurlaubung gewährt. Ob er darum gebeten hat oder ob das FBI sie gefordert hat, weiß ich nicht.«
D’Agosta schüttelte den Kopf.
»Ich dachte mir, du würdest auch gern erfahren, wie es Special Agent Spencer Coffey ergangen ist.«
»Oh?«
»Nicht nur, dass er den Fall Pendergast unglaublich verbockt hat, er ist auch noch in irgendeinen Skandal um Herkmoor verwickelt. Anscheinend wurde ihm das Gehalt gekürzt, und er hat eine offizielle Abmahnung erhalten. Er ist in die Außendienststelle in Black Rock in North Dakota versetzt worden.«
»Da kann er ein neues Paar lange Unterhosen brauchen«, sagte D’Agosta.
Hayward lächelte; wieder senkte sich ein verlegenes Schweigen über sie beide.
Von den Fahrstühlen her näherte sich ihnen der stellvertretende Vorsitzende, zusammen mit dem Sonderankläger der Polizei. Sie passierten D’Agosta und Hayward, nickten distanziert, dann wandten sie sich um und gingen weiter in Richtung Gerichtssaal.
»Da Pendergast freigesprochen wurde, müsstest auch du freigesprochen werden«, sagte Hayward.
D’Agosta blickte auf seine Hände. »Es ist nicht dieselbe Behörde.«
»Ja, aber wenn …«
Plötzlich stockte sie. Als D’Agosta aufblickte, sah er Glen Singleton den Flur herunterkommen, makellos gekleidet wie immer. Captain Singleton war offiziell immer noch D’Agostas Chef und zweifellos gekommen, um eine Aussage zu machen. Als er Hayward sah, blieb er überrascht stehen.
»Captain Hayward«, sagte er steif, »was machen Sie denn hier?«
»Ich will mir die Verhandlung anschauen«, erwiderte sie.
Singleton runzelte die Stirn. »Ein Disziplinarverfahren ist kein Zuschauersport.«
»Dessen bin ich mir bewusst.«
»Sie haben Ihre Aussage bereits zu Protokoll gegeben. Dass Sie hier persönlich erscheinen, ohne dass man Sie aufgefordert hat, neue Informationen zu liefern, könnte die Vermutung nahelegen …« Singleton zögerte.
Die implizite Unterstellung ließ D’Agosta erröten. Er warf Hayward einen verstohlenen Blick zu und wunderte sich über das, was er sah. Die Unentschlossenheit war aus ihrer Miene gewichen, und plötzlich wirkte sie ganz ruhig. Es schien, als hätte sie nach langem Ringen mit sich selbst irgendeinen geheimen Entschluss gefasst.
»Ja?«, fragte sie milde.
»… dass Sie befangen sind.«
»Warum, Glen«, sagte Hayward, »wünschen Sie Vinnie hier eigentlich nicht einfach alles Gute?«
Jetzt war es an Singleton, rot zu werden. »Natürlich. Natürlich tue ich das. Ehrlich gesagt, bin ich genau deshalb gekommen – um den Ankläger über gewisse neue Entwicklungen in Kenntnis zu setzen, auf die wir in jüngster Zeit aufmerksam gemacht wurden. Es ist nur, dass wir keinen Hinweis auf irgendeinen unzulässigen … nun ja, Einfluss geben wollen.«
»Zu spät«, antwortete sie knapp. »Ich wurde bereits beeinflusst.«
Und dann ergriff sie – sehr bewusst – D’Agostas Hand.
Singleton starrte sie einen Augenblick an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, fand keine Worte. Schließlich lächelte er D’Agosta an und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Also, bis dann im Gerichtssaal, Lieutenant«, sagte er und verlieh dem Wort Lieutenant eine besondere Betonung. Dann wandte er sich um und war verschwunden.
»Was sollte das denn heißen?«, fragte D’Agosta.
»Wie ich Glen kenne, würde ich sagen, dass du jetzt einen Freund im Gerichtssaal hast.«
Wieder spürte D’Agosta, dass sein Herz schneller schlug. Trotz der bevorstehenden Tortur fühlte er sich plötzlich absurd glücklich. Es war, als sei gerade eben ein großes Gewicht von ihm abgefallen: ein Gewicht, von dem er nicht genau gewusst hatte, das er es trug.
Plötzlich wandte er sich zu Hayward. »Nun hör mir mal bitte zu, Laura …«
»Nein. Du hörst mir zu.« Sie schlang ihre andere Hand um seine, drückte sie ganz fest. »Es ist nicht wichtig, was in dem Raum dort passiert. Verstehst du mich, Vinnie? Denn was immer passiert, passiert uns beiden. Das hier bringen wir gemeinsam hinter uns.«
»Ich liebe dich, Laura Hayward.«
Im selben Moment öffnete sich die Tür zum Gerichtssaal, und der Gerichtsdiener rief seinen Namen auf. Thomas Shoulders erhob sich von der Bank, erhaschte D’Agostas Blick und nickte.
Hayward drückte ihm die Hand. »Komm schon, großer Junge«, sagte sie lächelnd. »Die Vorstellung fängt an.«