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Vincent D’Agosta betrat die Bibliothek des Hauses am Riverside Drive 891 und blieb kurz hinter der Tür stehen. Ein Feuer prasselte im Kamin, das Licht war angeschaltet, in dem Raum herrschte eine Atmosphäre konzentrierter Tätigkeit. Die Stühle waren gegen die Bücherregale geschoben worden, ein großer Tisch mit Papieren darauf nahm die Mitte des Raums ein. Auf der einen Seite saß Proctor und murmelte in ein schnurloses Telefon, während Wren, dem die Haare noch wüster als sonst vom Kopf abstanden, an einem Schreibtisch in der Ecke über einem Stapel Bücher brütete. Mit seinen eingefallenen Gesichtszügen wirkte er steinalt.

»Vincent. Bitte kommen Sie doch herein«, rief Pendergast ihn mit einer knappen Bewegung zu sich.

D’Agosta kam der Bitte nach und erschrak über das untypisch ausgezehrte äußere Erscheinungsbild des Agenten. Er konnte sich nicht daran erinnern, Pendergast jemals unrasiert gesehen zu haben. Und auch nicht mit offenem Jackett.

»Ich habe die Details, nach denen Sie gefragt haben«, sagte D’Agosta und hielt einen braunen Aktenhefter hoch. »Dank Captain Hayward.« Er ließ den Ordner auf den Tisch fallen und schlug ihn auf.

»Fangen Sie an.«

»Mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass der Schütze eine alte Frau gewesen war. Sie hatte ein Erste-Klasse-Ticket für die Fahrt nach Yonkers gekauft, bar bezahlt. Hat als Namen Jane Smith angegeben.« Er schnaubte verächtlich. »Gerade als der Zug die Penn Station verließ, während er noch unterirdisch fuhr, hat die Frau das Erste-Klasse-Abteil eines Passagiers namens … Eugen Hofstader betreten. Eine Waffe gezogen und mindestens drei Schüsse abgefeuert. Die Spurensicherung hat zwei Kugeln vom Kaliber .44-40 in der Verkleidung des Waggons und eine weitere draußen auf den Gleisen gefunden. Und nun aufgepasst: Es handelte sich um altertümliche Kugeln – wahrscheinlich aus einem Revolver aus dem 19. Jahrhundert abgefeuert, einem Colt vielleicht.«

Pendergast wandte sich Wren zu. »Sehen Sie bitte einmal nach, ob ein Colt Peacemaker oder ein ähnlicher Revolver aus der Sammlung fehlt, außerdem irgendwelche 44-40-Millimeter-Munition.«

Wortlos stand Wren auf und verließ den Raum. Pendergast schaute wieder auf D’Agosta. »Fahren Sie fort.«

»Die alte Frau ist verschwunden, auch wenn niemand gesehen hat, wie sie aus dem Zug gestiegen ist, der fast unverzüglich nach den Schüssen versiegelt wurde. Wenn sie eine Verkleidung trug und diese weggeworfen hat, wurde sie jedenfalls noch nicht gefunden.«

»Hat der Mann irgendetwas zurückgelassen?«

»Das kann man wohl sagen: Eine Reisetasche und einen Kleidersack voller Klamotten. Keine Ausweispapiere, keine Dokumente, nicht mal einen Hinweis auf seine wahre Identität. Alle Schilder waren sorgfältig aus der Kleidung herausgetrennt. Aber die Reisetasche …«

»Ja?«

»Wurde in die Asservatenkammer gebracht, und als der Durchsuchungsbefehl eintraf, hat man sie geöffnet. Offenbar hat der zuständige Beamte einen Blick hineingeworfen und, na ja, was immer als Nächstes passiert ist – ihm musste danach ein Beruhigungsmittel verabreicht werden. Ein Gefahrgut-Team wurde hinzugezogen, und jetzt ist das Zeug unter Verschluss – niemand scheint zu wissen, wo.«

»Verstehe.«

»Ich nehme an, wir reden hier über Diogenes«, sagte D’Agosta, leicht verärgert, dass man ihn mit unvollständigen Informationen auf diesen Auftrag geschickt hatte.

»Das ist korrekt.«

»Wer ist also die alte Dame, die auf ihn geschossen hat?« Pendergast zeigte auf den Tisch in der Mitte des Raums. »Als Proctor gestern Abend hierher zurückkam, war Constance nicht mehr da, auch einige Kleidungsstücke fehlten. In ihrem Zimmer fand Proctor ihre Lieblingsmaus, mit gebrochenem Genick. Zusammen mit diesem Schreiben und diesem Rosenholzkästchen.«

D’Agosta ging zum Tisch, nahm das besagte Schreiben in die Hand und las es schnell durch. »Mein Gott. O mein Gott, was für ein kranker … beschis…«

»Öffnen Sie das Kästchen.«

Ein wenig behutsam öffnete er das kleine, antike Kästchen. Es war leer, in dem dunkelblauen Samtfutteral befand sich eine lange Aussparung für irgendeinen Gegenstand, der jetzt weg war. Ein verblasstes Schild auf der Innenseite des Deckels trug die Aufschrift Schweizer Chirurgische Instrumente mbh.

»Ein Skalpell?«, fragte er.

»Ja. Mit dem sich Constance die Pulsadern aufschneiden sollte. Sie scheint es zu einem anderen Zweck verwenden zu wollen.«

D’Agosta nickte. »Ich denke, ich habe verstanden. Die alte Frau war Constance.«

»Ja.«

»Ich hoffe, sie hat Erfolg.«

»Allein der Gedanke, dass die beiden erneut aufeinandertreffen, ist mir unerträglich«, erwiderte Pendergast mit düsterer Miene.

»Ich muss sie einholen – und stoppen. Diogenes bereitet sich seit Jahren auf diese Flucht vor, und wir haben keine Hoffnung, ihn aufzuspüren; es sei denn natürlich, er will auf gespürt werden. Constance andererseits wird nicht versuchen, ihre Spuren zu verwischen. Ich muss ihr folgen … und es besteht die Chance, dass ich, wenn ich sie finde, auch ihn finde.«

Er wandte sich einem iBook zu, das aufgeklappt auf dem Tisch stand, und fing an zu tippen. Wenige Minuten später blickte er auf. »Constance hat einen Flug nach Florenz gebucht und ist heute um 17 Uhr von Logan Airport in Boston abgeflogen.« Er drehte sich um. »Proctor? Packen Sie bitte meine Sachen, und buchen Sie mir einen Flug nach Florenz, wenn ich bitten darf.«

»Ich komme mit Ihnen«, sagte D’Agosta.

Wieder richtete Pendergast den Blick auf ihn – sein Gesicht wirkte grau. »Sie können mich zum Flughafen begleiten. Aber mit mir nach Italien kommen – nein, Vincent, das dürfen Sie nicht. Ihnen steht ein Disziplinarverfahren ins Haus, auf das Sie sich vorbereiten müssen. Außerdem ist das hier … eine Familienangelegenheit.«

»Ich kann Ihnen helfen«, sagte D’Agosta. »Sie brauchen mich.«

»Sie haben vollkommen recht. Und trotzdem muss ich – und werde ich – dies allein erledigen.«

Pendergasts Tonfall war so eisig und endgültig, dass D’Agosta wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war.