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Constance wurde von einem diskreten Klopfen an ihrer Schlafzimmertür geweckt. Ohne die Augen zu öffnen, drehte sie sich aufseufzend um und kuschelte sich sanft in ihr Daunenkissen. Wieder ertönte das Klopfen, jetzt ein wenig lauter. »Con stance? Constance, geht’s Ihnen gut?« Die Stimme von Wren – schrill, besorgt.

Constance streckte sich wohlig, dann setzte sie sich im Bett auf. »Ja doch, mir geht’s gut«, antwortete sie leicht gereizt.

»Ist irgendetwas?«

»Es ist nichts, danke.«

»Sie sind doch nicht krank?«

»Ganz bestimmt nicht. Mir geht’s prima.«

»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie störe. Es ist nur … ich habe noch nie erlebt, dass Sie den ganzen Tag im Bett bleiben. Es ist halb neun, die Abendbrotszeit ist schon vorbei, und Sie liegen noch immer im Bett.«

»Ja.« Das war alles, was Constance ihm antwortete.

»Möchten Sie Ihr übliches Frühstück? Grünen Tee und eine Scheibe gebutterten Toast?«

»Nicht das übliche Frühstück, danke, Wren. Wenn es Ihnen möglich ist, hätte ich gern Spiegeleier, Cranberrysaft, Würstchen, ein halbes Dutzend Scheiben Frühstücksspeck, eine halbe Grapefruit und einen Scone mit einem Töpfchen Marme lade, bitte.«

»Ich … selbstverständlich.« Sie hörte, wie Wren geräuschvoll den Flur zurück in Richtung Treppe eilte.

Constance lehnte den Kopf zurück ins Kissen und schloss wieder die Augen. Sie hatte lange, tief und völlig traumlos geschlafen – höchst ungewöhnlich für sie. Sie erinnerte sich an das unergründliche Smaragdgrün des Absinths, das merkwürdige Gefühl der Leichtigkeit, das er ihr geschenkt hatte – als beobachte sie sich selbst aus der Ferne. Über Constances Gesicht huschte ein verstohlenes Lächeln, verschwand, kehrte zurück, als sei es von irgendeiner Erinnerung veranlasst. Sie legte den Kopf tiefer ins Kissen und entspannte ihre Beine unter der weichen Daunendecke.

Allmählich, sehr allmählich nahm sie etwas wahr. Da war ein Duft im Zimmer, ein ungewöhnlicher Duft.

Sie setzte sich auf. Es war nicht der Duft von – von ihm; sondern etwas, das sie, wie sie glaubte, noch nie gerochen hatte. Es war eigentlich nicht unangenehm … nur anders.

Sie blickte sich kurz um und versuchte die Quelle aufzuspüren, sah auf dem Nachttisch nach, ohne Ergebnis.

Schließlich kam ihr eine Idee, und sie schob ihre Hand unter das Kissen.

Dort fand sie etwas: einen Briefumschlag und ein langes Kästchen, eingeschlagen in altertümliches Papier und mit einer Schleife aus schwarzem Kordelband versehen. Diese Dinge waren die Quelle des Geruchs, eines moschusartigen Duftes, der an tiefe Wälder erinnerte. Rasch zog sie beides unter dem Kissen hervor.

Das Kuvert war aus cremefarbenem Büttenpapier, das Kästchen gerade groß genug, ein Brillantarmband oder vielleicht eine Halskette zu enthalten. Constance lächelte, dann errötete sie tief.

Begierig öffnete sie den Umschlag. Drei in eleganter Schrift eng beschriebene Seiten fielen heraus. Constance begann zu lesen.

Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, meine liebste Constance – den süßen Schlaf der Unschuldigen.
Es kann gut sein, dass es für eine Zeitlang Ihr letzter Schlaf von solcher Güte gewesen ist. Gleichwohl – wenn Sie den Rat in diesem Brief beherzigen, dann mag der Schlaf zurückkehren, und zwar sehr bald.
Während ich diese angenehmen Stunden mit Ihnen vertrödelte, ging mir, wie ich zugeben muss, eine Frage nicht aus dem Sinn. Wie ist es wohl gewesen, all diese Jahre mit Onkel Antoine unter einem Dach zu leben, jenem Mann, den Sie Enoch Leng nannten und der Ihre Schwester Mary Greene brutal ermordete?
Haben Sie das gewusst, Constance? Dass Antoine Ihre Schwester ermordet und seziert hat? Bestimmt. Vielleicht war es zuerst nur eine Vermutung, ein merkwürdiger Anflug düsterer Fantasie. Zweifellos haben Sie diese Vermutung Ihrer eigenen krankhaften seelischen Verfassung zugeschrieben. Aber im Laufe der Zeit – und Sie beide hatten ja sehr viel Zeit – muss es Ihnen zuerst wie eine Möglichkeit und dann wie eine Gewissheit erschienen sein. Doch zweifellos war dies alles unbewusst, so tief in Ihrem Innern begraben, dass es beinahe unauffindbar war. Und dennoch wussten Sie es. Natürlich wussten Sie es.
Welch köstlich paradoxe Situation. Dieser Mann, Antoine Pendergast, hat Ihre Schwester getötet, um sein eigenes Leben zu verlängern … und letztlich auch das Ihre! Dies ist der Mann, dem Sie alles verdanken! Wissen Sie, wie viele Kinder sterben mussten, damit er sein Elixier entwickeln und Sie Ihre abnorm lange Kindheit genießen konnten? Sie wurden normal geboren, Constance; aber dank Onkel Antoine wurden Sie zu einem Freak. Das war doch Ihr Wort, nicht wahr? Freak, nichts wert.
Und nun, meine liebe, düpierte Constance, können Sie diese Vorstellung nicht mehr beiseiteschieben. Sie können sie nicht
länger als Hirngespinst abtun oder als dunkle, irrationale Angst in jenen Nächten, wenn der Donner grollt und Sie nicht schlafen können. Denn das Schlimmste trifft zu, es ist genau das, was geschehen ist: Ihre Schwester wurde getötet, um Ihr Leben zu verlängern. Ich weiß es, weil Onkel Antoine es mir selbst vor seinem Tod erzählt hat.
O ja, ich habe mehrmals mit dem alten Herrn geplaudert. Wie hätte ich denn einen lieben Verwandten mit einer solch schillernden Lebensgeschichte nicht besuchen können? Allein die Möglichkeit, dass er nach all den Jahrzehnten am Leben sein könnte, machte meine Suche noch erregender, und ich ruhte erst, als ich ihn schließlich aufgespürt hatte. Er erkannte rasch meine wahre Natur und war selbstverständlich höchst besorgt, dass sich unser beider Wege vielleicht kreuzen könnten, doch als Gegenleistung für mein Versprechen, Sie niemals aufzusuchen, schien er’s recht zufrieden zu sein, mit mir über seine, sagen wir, einzigartige Lösung zur Rettung der Welt zu sprechen. Und er bestätigte mir alles: die Existenz seines Gebräus zur Verlängerung des Lebens, auch wenn er mir die Rezeptur vorenthielt. Der liebe Onkel Antoine, es tat mir leid, ihn dahinscheiden zu sehen; die Welt mit ihm darin war ein höchst interessanter Ort. Aber zum Zeitpunkt seiner Ermordung war ich zu sehr mit eigenen Plänen befasst, um ihm helfen zu können, seinem Schicksal zu entrinnen.
Also frage ich noch einmal: Wie war es für Sie, so viele, viele Jahre als Komplizin des Mörders Ihrer Schwester in seinem Haus zu wohnen? Ich kann es mir auch nicht ansatzweise vorstellen. Kein Wunder, dass Ihre Psyche so zerbrechlich ist, kein Wunder, dass mein Bruder um Ihre geistige Gesundheit fürchtet. Gemeinsam, nur Sie beide in diesem Haus: War es möglich, dass Sie schließlich sogar, sagen wir, in einem intimen Verhältnis zu Antoine standen? Aber nein, das nicht. Ich bin der erste Mann, der Herr dieses Schreins war, liebste Con stance.
Das körperliche Indiz war unbestreitbar. Aber Sie haben ihn geliebt – kein Zweifel, Sie haben ihn geliebt.
Und was ist nun also für Sie übriggeblieben, meine arme, bedauernswerte Constance? Mein kostbarer gefallener Engel? Handlangerin des Geschwistermordes, Gefährtin des Mörders Ihrer Schwester? Allein die Luft, die Sie atmen, schulden Sie ihr und Antoines anderen Opfern. Verdienen Sie es, diese abartige Existenz weiterzuführen? Und wer wird Ihr Dahinscheiden betrauern? Mein Bruder sicherlich nicht: Sie würden ihm nicht länger eine Last sein. Wren? Proctor? Lachhaft. Ich werde nicht um Sie trauern. Sie waren mir ein Spielzeug; ein leicht zu lösendes Rätsel; ein langweiliges Kästchen, aufgezwungen und leer gefunden; ein animalischer Spasmus. Lassen Sie mich Ihnen also einen Rat geben, und bitte glauben Sie mir, es ist das einzig Ehrliche, Altruistische, was ich Ihnen je gesagt habe:
Tun Sie etwas Edles. Beenden Sie Ihr unnatürliches Leben.

Stets der Ihre
Diogenes

PS. Ich habe mich gewundert, wie pubertär Ihr erster Selbstmordversuch war. Sicherlich wissen Sie jetzt, dass man sich nicht einfach quer über die Handgelenke schneidet; dabei wird das Messer nämlich von den Sehnen aufgehalten. Um ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, schneidet man längs, zwischen den Sehnen. Nur ein Schnitt, langsam, kräftig und vor allem tief. Und was meine eigene Narbe angeht: Ist es nicht erstaunlich, was sich mit ein wenig Schminke und Wachs alles bewerkstelligen lässt?

Ein langer, unergründlicher Moment verstrich.

Dann wandte Constance ihre Aufmerksamkeit dem kleinen Präsent zu. Sie nahm es in die Hand und wickelte es aus, langsam, behutsam, als wäre es eine Bombe. Unter dem Papier befand sich ein Kästchen aus wunderschön poliertem Rosenholz.

Ebenso langsam öffnete sie das Kästchen. Darin lag, auf purpurfarbenem Samt gebettet, ein altes Skalpell. Der Griff war aus vergilbtem Elfenbein, die Klinge selbst war blitzblank. Constance streckte den Zeigefinger aus und strich über den Griff des Skalpells. Er war kühl und glatt. Sorgfältig zog sie das Skalpell aus dem Kästchen, wog es auf ihrer Handfläche, drehte es im Licht, starrte auf die Klinge, die im Schein des Kaminfeuers wie ein Diamant funkelte.