3

 

Frederick Watson Collopy, Direktor des New York Museum of Natural History, verspürte einen Anflug von Gereiztheit, als er im Keller des Museums aus dem Aufzug stieg. Es war Monate her, seit er diese Katakomben zum letzten Mal betreten hatte, und er fragte sich, warum zum Teufel Wilfred Sherman, der Leiter der Mineralogischen Abteilung, so hartnäckig darauf bestanden hatte, dass er ihn hier unten in seinem Labor aufsuchte, statt seinerseits in Collopys Büro im fünften Stock zu kommen. Der grobkörnige Boden knirschte unter seinen Schuhen, als er in flottem Tempo um die Ecke zum Mineralogie-Labor bog. Als er auf den Griff der geschlossenen Tür drückte, musste er feststellen, dass sie abgesperrt war. Mit erneut aufflammendem Ärger hämmerte Collopy gegen die Tür.

Fast augenblicklich wurde sie von Sherman geöffnet, der sie genauso schnell wieder hinter ihnen beiden schloss und absperrte. Der Kurator sah aufgelöst und verschwitzt aus – wie ein Wrack, um genau zu sein. Geschieht ihm recht, dachte Collopy, er hat schließlich auch allen Grund dazu. Er ließ den Blick suchend durchs Labor gleiten und hatte den Stein des Anstoßes schnell entdeckt: Da, auf einem Arbeitstisch neben einem Stereozoom-Mikroskop, stand das Paket, schmutzig und zerbeult, in einem Plastikbeutel mit doppeltem Reiß verschluss. Daneben lag ein halbes Dutzend weißer Briefumschläge.

»Dr. Sherman«, intonierte er, »die fahrlässige Art, in der dieses Material dem Museum zugestellt wurde, hat uns größte Un annehmlichkeiten bereitet. Das Ganze ist ungeheuerlich. Ich will den Namen des Absenders, ich will wissen, warum diese Sendung nicht vorschriftsmäßig angefordert wurde, und ich will wissen, wieso dieses wertvolle Material so nachlässig behandelt und zugestellt wurde, dass eine Panik ausbrechen konnte. Soweit ich weiß, beträgt der Wert von industriellem Diamantensplitt mehrere Tausend Dollar pro Kilo.«

Sherman antwortete nicht. Er schwitzte bloß.

»Man kann sich unschwer vorstellen, mit welcher Schlagzeile die Presse morgen aufwarten wird: ›Giftanschlag im naturgeschichtlichen Museum.‹ Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich auf die Lektüre freue. Ich habe gerade einen Anruf von einem Reporter der Times erhalten – Harriman oder so ähnlich – und muss ihn in einer halben Stunde zurückrufen, um ihm irgendeine Erklärung aufzutischen.«

Sherman schluckte, sagte aber noch immer nichts. Ein Schweißtropfen lief ihm über die Stirn, den er hastig mit einem Taschentuch abwischte.

»Nun? Haben Sie eine Erklärung? Und weshalb musste ich unbedingt in Ihr Labor kommen?«

»Ja«, brachte Sherman endlich heraus. Er nickte in Richtung des Stereomikroskops. »Ich wollte, dass Sie … dass Sie sich das einmal ansehen.«

Collopy erhob sich, ging zum Mikroskop, nahm seine Brille ab und schaute durch das Okular. Vor seinen Augen tanzten flirrende Punkte. »Ich sehe rein gar nichts.«

»Sie müssen es scharf stellen. Da.«

Collopy fummelte am Drehknopf und schob die Probe hin und her, um die richtige Einstellung zu finden, bis er schließlich eine wunderschöne Ansammlung zahlloser Kristallsplitter sah, die in atemberaubenden Farben schimmerten wie ein von hinten angeleuchtetes Buntglasfenster.

»Was ist das?«

»Eine Probe des Splitts aus dem Paket.«

Collopy trat einen Schritt zurück. »Ja, und? Haben Sie oder irgendein Mitarbeiter Ihrer Abteilung das bestellt?«

Sherman zögerte. »Nein, haben wir nicht.«

»Und wie erklären Sie sich dann, Dr. Sherman, dass Diamantensplitt im Wert von mehreren Tausend Dollar an Ihre Abteilung adressiert und geliefert wird?«

»Ich denke …« Sherman hielt inne. Mit zitternder Hand griff er nach einem der weißen Umschläge. Collopy wartete, aber Sherman war wie erstarrt.

»Dr. Sherman?«

Sherman antwortete nicht. Er zog sein Taschentuch hervor und tupfte sich erneut die Stirn.

»Dr. Sherman, sind Sie krank?«

Sherman schluckte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll.«

Collopy erklärte energisch: »Wir haben ein Problem, und ich habe jetzt nur noch …«, er warf einen Blick auf seine Uhr, »fünfundzwanzig Minuten, um diesen Harriman zurückzurufen. Also reißen Sie sich zusammen und erklären Sie mir, was los ist.«

Sherman nickte stumm, tupfte abermals seine Stirn ab. Trotz seines Ärgers empfand Collopy ein gewisses Mitleid mit dem Mann. Im Grunde war er ein großes Kind mittleren Alters, das nie über seine Steinesammlung hinausgewachsen war. Plötzlich erkannte Collopy, dass der Mann sich nicht nur den Schweiß abwischte – ihm flossen Tränen über die Wangen.

»Das ist kein industrieller Diamantensplitt«, sagte Sherman schließlich.

Collopy runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Der Kurator holte tief Luft, schien all seinen Mut zusammenzunehmen. »Industrieller Diamantensplitt besteht aus schwarzen oder braunen Diamanten, die keinen ästhetischen Wert haben. Unter einem Mikroskop sieht man, wie zu erwarten, dunkle kristalline Teilchen. Aber wenn man sich diese Teilchen unter dem Mikroskop anschaut, erkennt man Farben.« Seine Stimme bebte.

»Ja, das habe ich gesehen.«

Sherman nickte. »Winzige bunte Splitter und Kristalle in allen Schattierungen des Regenbogens. Ich habe überprüft, dass es sich tatsächlich um Diamanten handelt, und ich habe mich gefragt …« Er stockte.

»Dr. Sherman?«

»Ich habe mich gefragt: Warum um alles in der Welt besteht ein Beutel Diamantensplitt aus unzähligen Splittern farbiger Diamanten? Zweieinhalb Pfund.«

Ein tiefes Schweigen senkte sich über das Labor. Collopy lief es eiskalt über den Rücken. »Ich verstehe nicht.«

»Das ist kein Diamantensplitt«, brach es aus Sherman heraus.

»Das ist die Diamantensammlung des Museums.«

»Was zum Teufel reden Sie da?«

»Der Mann, der die Diamanten letzten Monat gestohlen hat. Er muss die Steine pulverisiert haben. Alle.« Die Tränen flossen Sherman jetzt offen übers Gesicht, aber er machte sich nicht mehr die Mühe, sie zu verbergen.

»Pulverisiert?« Collopy sah wild um sich. »Wie kann man einen Diamanten pulverisieren?«

»Mit einem Vorschlaghammer.«

»Aber Diamanten sind doch angeblich das härteste Material der Welt.«

»Hart, ja. Aber brechen können sie trotzdem.«

»Wie können Sie so sicher sein?«

»Viele unserer Diamanten haben eine einzigartige Farbe. Denken Sie zum Beispiel an die Königin von Narnia. Kein anderer Diamant weist diese blaue Färbung mit den leichten Violett- und Grüntönen auf. Ich konnte jedes kleine Bruchstück identifizieren. Das habe ich die ganze Zeit gemacht – die Splitter sortiert.«

Sherman nahm einen der weißen Umschläge in die Hand und schüttete den Inhalt auf ein Blatt Papier, das auf dem Labortisch lag. Ein Häuflein blauer Splitt entstand. Er deutete darauf. »Die Königin von Narnia.«

Er nahm einen weiteren Umschlag in die Hand, schüttete ein purpurnes Häuflein heraus. »Das Herz der Ewigkeit.«

Er leerte ein Kuvert nach dem anderen. »Der Indigo-Geist. Ultima Thule. Der vierte Juli. Der grüne Sansibar.«

Es war wie ein steter Trommelwirbel, ein vernichtender Schlag nach dem anderen. Collopy starrte entsetzt auf die kleinen Häuflein glitzernden Sandes.

»Das ist ein makabrer Witz«, sagte er schließlich. »Das können unmöglich die Diamanten des Museums sein.«

»Die Farben dieser berühmten Diamanten sind exakt messbar«, antwortete Sherman. »Ich habe harte Daten zu jedem einzelnen. Ich habe die Splitter überprüft. Die Messdaten entsprechen exakt den Färbungen der Diamanten. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Das sind unsere Steine

»Aber doch bestimmt nicht alle?«, sagte Collopy. »Er kann nicht alle vernichtet haben.«

»Das Paket enthielt 2,42 Pfund Diamantensplitt. Das entspricht etwa 5500 Karat. Rechnet man die verschüttete Menge hinzu, dann enthielt die ursprüngliche Lieferung etwa 6000 Karat. Ich habe das Gewicht der gestohlenen Diamanten zusammengerechnet …«

Shermans Stimme stockte.

»Und?«, fragte Collopy schließlich, unfähig, sich länger zu beherrschen.

»Das Gesamtgewicht betrug 6042 Karat«, flüsterte Sherman. Ein langes Schweigen senkte sich über das Labor, das einzige Geräusch war das schwache Summen der Neonlampen. Schließlich hob Collopy den Kopf und sah Sherman in die Augen.

»Dr. Sherman«, fing er an, aber weil ihm die Stimme versagte, musste er noch einmal ansetzen. »Dr. Sherman. Diese Information darf diesen Raum nicht verlassen.«

Sherman, der ohnehin schon blass war, wurde kreidebleich. Doch nach einem Moment nickte er stumm.