28
Laura Hayward saß an ihrem Schreibtisch und blickte auf den Wust von Papieren, der da vor ihr lag. Die Kommissarin der Mordkommission konnte Unordnung nicht ausstehen; sie hasste Durcheinander; sie hasste herumliegende Papiere und unordentliche Stapel. Und doch kam es ihr vor, als würde es am Ende immer darauf hinauslaufen. Egal, wie sehr sie auch sortierte und ordentlich stapelte und organisierte: Der Schreibtisch blieb die physische Manifestation ihrer inneren Unordnung und Frustration. Eigentlich hätte sie jetzt den Bericht über den Mord an DeMeo schreiben müssen. Doch sie fühlte sich wie gelähmt. Es war verdammt schwierig, an einem Fall zu arbeiten, wenn man das Gefühl hatte, dass man den vorher gehenden völlig vermasselt hatte; dass vielleicht ein Unschuldiger – oder weitestgehend Unschuldiger – im Gefängnis saß, zu Unrecht eines Verbrechens angeklagt, das möglicherweise zur Todesstrafe führte … Es kostete sie gewaltige Anstrengung, wie gewohnt eine Liste aufzustellen. Auf diese Art brachte sie Ordnung in ihre Gedanken: Ständig fertigte sie Listen an, eingebettet in Listen von Listen. Und es war ihr schier unmöglich, mit ihren neuen Fällen weiterzukommen, während der Fall Pendergast in ihrem Kopf immer noch ungelöst war.
Sie seufzte, konzentrierte sich und fing von neuem an.
Eins: Ein möglicherweise unschuldiger Mann sitzt, eines Kapitalverbrechens angeklagt, im Gefängnis.
Zwei: Sein Bruder, der lange als tot galt, ist wieder aufgetaucht, entführt eine Frau, die offenbar mit gar nichts in Verbindung steht, stiehlt die wertvollste Diamantensammlung der Welt … um sie später zu vernichten. Warum?
Drei …
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihren Gedankengang.
Hayward hatte ihre Sekretärin gebeten, dafür zu sorgen, dass sie nicht gestört wurde, und plötzlich stieg eine Wut in ihr auf, deren Heftigkeit sie selbst erschreckte. Sie brachte sich wieder unter Kontrolle und rief in kühlem Tonfall: »Herein.«
Die Tür öffnete sich langsam, zögernd – und dann stand er vor ihr: Vincent D’Agosta.
Beide waren sie wie erstarrt, als sie einander ansahen.
»Laura«, begann D’Agosta. Dann verstummte er.
Sie blieb äußerlich ganz cool, auch wenn sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Im Augenblick fiel ihr keine andere Erwiderung ein als: »Bitte, nimm doch Platz.«
Sie sah zu, wie er das Büro betrat und sich setzte, während sie, schonungslos und effizient, die Gefühle unterdrückte, die in ihr aufstiegen. Er war überraschend schlank und einigermaßen gut angezogen. Er trug zum Anzug eine 20-Dollar-Krawatte, und sein dünner werdendes Haar war nach hinten gekämmt. Der Augenblick der peinlichen Stille dauerte an.
»Also … wie läuft’s denn so?«, fragte D’Agosta.
»Prima. Und bei dir?«
»Der Prozess vor dem Disziplinarausschuss ist auf Anfang April angesetzt.«
»Das ist gut.«
»Gut? Wenn man mich für schuldig befindet, bin ich meinen Beruf los, meine Pension, meine vermögenswirksamen Leistungen – alles.«
»Ich meinte, es wird gut sein, die ganze Sache hinter sich zu haben«, sagte sie kurz angebunden. War er deswegen zu ihr gekommen – um ihr etwas vorzujammern? Sie wartete, bis er zur Sache kam.
»Sieh mal, Laura: Zuerst einmal möchte ich dir etwas sagen.«
»Und zwar?« Sie merkte, wie schwer es ihm fiel.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, ich habe dich verletzt. Ich weiß, du glaubst, ich hätte dich wie Dreck behandelt … ich wünschte, ich wüsste, wie ich das wiedergutmachen kann.«
Hayward wartete ab.
»Damals habe ich geglaubt, wirklich geglaubt, dass ich das Richtige tue. Dich zu schützen versuchen, dich vor Diogenes in Sicherheit zu bringen. Ich dachte, ich könnte dich aus der Schusslinie holen, indem ich auszog. Ich habe mir nur eben nicht vorgestellt, wie das für dich aussehen würde. Ich habe damals improvisiert. Alles ging so schnell, und ich hatte keine Zeit, es zu überdenken. Aber seit der ganzen Sache hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich weiß, dass ich wie ein eiskalter Mistkerl gewirkt haben muss, als ich dich so einfach ohne Erklärung verlassen habe. Es muss so ausgesehen haben, als würde ich dir nicht vertrauen. Aber so war es überhaupt nicht.« Er zögerte, kaute auf den Lippen, als fiele es ihm sehr schwer, das Folgende zu sagen. »Hör mir bitte zu«, fing er dann wieder an. »Ich möchte wirklich, dass wir wieder zusammenkommen. Ich mag dich noch immer sehr. Ich weiß, wir können das wieder hinbekommen …«
Er verstummte jämmerlich. Hayward reagierte nicht.
»Wie auch immer, ich wollte dir nur sagen, dass es mir leid tut.«
»Das hast du ja jetzt getan.«
Noch ein quälend langes Schweigen.
»Sonst noch was?«, fragte Hayward.
D’Agosta rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Das Sonnenlicht fiel durch die Jalousien und warf Streifen auf seinen Anzug. »Na ja, ich habe gehört …«
»Was hast du gehört?«
»Dass du den Fall Pendergast noch nicht zu den Akten gelegt hast.«
»Ach ja?«, erwiderte sie kühl.
»Ja. Von einem Typen, den ich kenne, er arbeitet für Singleton.« Wieder verlagerte er sein Gewicht. »Als ich davon er fahren habe, bekam ich wieder Hoffnung. Hoffnung, dass ich dir vielleicht immer noch helfen kann. Es gibt Dinge, die ich dir damals nicht gesagt habe, Dinge, von denen ich sicher war, dass du sie nicht glauben würdest. Aber wenn du immer noch an dem Fall dran bist, nach allem, was geschehen ist … na ja, ich dachte mir, vielleicht solltest du ein paar von diesen Dingen erfahren. Weißt du, damit ich dir so viel Munition wie möglich geben kann.«
Hayward ließ sich nichts anmerken, denn sie war nicht bereit, ihm irgendetwas anderes zu schenken als ein drohendes Schweigen. Er sah älter aus, ein wenig abgespannt, aber seine Kleidung war neu, das Hemd gebügelt. Sie fragte sich kurz, wer sich wohl um ihn kümmerte. Rasch war der Moment der Eifersucht wieder vorbei. Schließlich sagte sie: »Der Fall ist abgeschlossen.«
»Offiziell, ja. Aber dieser Freund von mir hat gesagt, dass du …«
»Ich weiß nicht, was du gehört hast, und es interessiert mich nicht die Bohne. Ich hätte dich für klüger gehalten, als zu glauben, was sogenannte Freunde bei der Polizei herumerzählen.«
»Aber, Laura …«
»Bitte sprich mich mit Captain Hayward an.«
Abermals Schweigen.
»Schau mal, diese ganze Sache – die Morde, der Diamantenraub, die Entführung –, das alles hat Diogenes inszeniert. Von vorne bis hinten. Das war sein Masterplan. Er hat mit allen sein falsches Spiel getrieben. Er hat diese Menschen umgebracht und die Morde dann Pendergast in die Schuhe geschoben. Diogenes hat die Diamanten gestohlen, Viola Maskelene entführt …«
»Das hast du früher schon gesagt.«
»Ja, aber es gibt da etwas, was du nicht weißt, etwas, das ich dir nicht gesagt habe …«
Hayward verspürte mit einem Mal eine Wut, die ihre eisige Beherrschtheit fast überwältigt hätte. »Lieutenant D’Agosta, ich schätze es gar nicht, zu hören, dass Sie mir auch weiterhin Informationen vorenthalten.«
»Ich habe es nicht so gemeint …«
»Ich habe genau verstanden, wie Sie es gemeint haben.«
»Hör mir doch zu, verdammt noch mal! Viola Maskelene wurde entführt, weil sie und Pendergast … na ja, verliebt sind.«
»Also bitte.«
»Ich war dabei, als sie sich im vergangenen Jahr auf Capraia kennengelernt haben. Pendergast befragte sie damals im Rahmen der Ermittlungen im Fall Bullard und der gestohlenen Stradivari. Ich habe gleich gemerkt, dass sich zwischen den beiden etwas angebahnt hat. Diogenes hat auf irgendeine Weise davon erfahren.«
»Die beiden haben sich danach getroffen?«
»Nicht direkt. Aber Diogenes hat Viola hierhergelockt, indem er sich Pendergasts Namen bedient hat.«
»Komisch, dass sie das bei ihrer Befragung nach dem Einsatz nicht erwähnt hat.«
»Sie hat versucht, Pendergast und sich selbst zu schützen. Wenn es herausgekommen wäre, dass zwischen ihnen etwas läuft …«
»Nach einer einzigen kurzen Begegnung auf dieser Insel?«
D’Agosta nickte. »Ja, ganz recht.«
»Agent Pendergast und Lady Maskelene. Verliebt?«
»Ich kann zwar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wie stark Pendergasts Gefühle ihr gegenüber sind. Aber was Maskelene betrifft – ja, da bin ich überzeugt.«
»Und wie hat Diogenes von dieser rührenden Beziehung erfahren?«
»Da gibt es nur eine Möglichkeit: Es muss passiert sein, als er Pendergast in Italien gesund pflegte, nachdem er ihn aus dem Schloss von Graf Fosco befreit hatte. Pendergast hat halluziniert, hat vermutlich irgendetwas gesagt. Verstehst du jetzt? Diogenes hat Viola entführt, um sicherzustellen, dass Pendergast just in dem Augenblick mit seinen Gedanken woanders war, als er den Diamantenraub ausgeführt hat.« D’Agosta verstummte.
Hayward ließ sich Zeit, atmete tief ein und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. »Das«, sagte sie dann ganz ruhig, »ist eine Geschichte wie aus einem billigen Liebes roman. Aber so geht es nicht im wirklichen Leben zu.«
»Was mit uns passiert ist, war gar nicht so viel anders.«
»Was mit uns passiert ist, war ein Fehler, den ich zu vergessen versuche.«
»Hör mir zu, bitte, Laura …«
»Wenn du mich noch einmal Laura nennst, lass ich dich aus dem Gebäude werfen.«
D’Agosta zuckte zusammen. »Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest. Hast du schon mal von der Profiling-Firma Effective Engineering Solutions gehört, unten an der Little West 12th Street, geleitet von einem Eli Glinn? Ich war in letzter Zeit fast immer da, habe dort ein bisschen schwarz gearbeitet.«
»Ich habe von dieser Firma noch nie gehört. Und ich kenne sämtliche amtlich zugelassenen Profiler.«
»Na ja, es ist eher ein Ingenieursbüro, die operieren ziemlich im Geheimen, aber sie haben kürzlich ein Täterprofil über Diogenes erstellt. Es bestätigt alles, was ich dir über ihn erzählt habe.«
»Ein Täterprofil? Wer hat das angefordert?«
»Agent Pendergast.«
»Das ist ja sehr vertrauenserweckend«, sagte sie sarkastisch.
»Das Profil gibt Hinweise darauf, dass Diogenes noch nicht fertig ist.«
»Noch nicht fertig?«
»Alles, was Diogenes bislang getan hat – die Morde, die Entführung, der Diamantendiebstahl –, führt auf etwas anderes hin. Etwas Größeres, vielleicht viel Größeres.«
»Nämlich?«
»Das wissen wir nicht.«
Hayward nahm irgendwelche Akten in die Hand, legte sie aufeinander und begradigte die Kanten, indem sie den Stapel auf den Schreibtisch knallte. »Das ist eine ziemlich wüste Geschichte.«
D’Agosta wurde langsam wütend. »Das ist keine Geschichte. Sieh mal, ich bin’s, Vinnie, der mit dir redet, Laura. Ich rede mit dir.«
»Das reicht.« Hayward betätigte den Knopf der Sprechanlage. »Fred? Bitte kommen Sie in mein Büro und begleiten Sie Lieutenant D’Agosta hinaus.«
»Tu das nicht, Laura …«
Sie drehte sich zu ihm um – jetzt hatte sie die Fassung verloren. »Doch, das werde ich. Du hast mich angelogen. Hast mich zum Narren gehalten. Ich war bereit, dir alles zu geben. Alles. Und dir …«
»… tut es alles so furchtbar leid. Gott, wenn ich nur die Uhr zurückdrehen und es anders machen könnte. Ich habe mein Bestes gegeben, habe versucht, meine Loyalität gegenüber Pendergast mit meiner … Treue zu dir abzuwägen. Natürlich, ich habe etwas Wunderbares vermasselt –, aber ich glaube, dass es sich lohnt, zu retten, was wir hatten. Verzeih mir.«
Die Tür wurde von einem Polizeibeamten geöffnet. »Lieutenant?«
D’Agosta stand auf, drehte sich um und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Als der Sergeant die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Hayward stumm und zitternd hinter ihrem überbordenden Schreibtisch sitzen. Ihr Blick wanderte über das Chaos, aber sie sah nichts, überhaupt nichts.