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Die kleine Gruppe stieg die staubbedeckten Stufen im Grab des Senef hinab, wobei sich ihre Fußabdrücke so deutlich abzeichneten wie Spuren in jungfräulichem Schnee.

Wicherly hielt inne, leuchtete mit der Taschenlampe um sich.

»Ah! Hier haben wir, was die Ägypter als den ›Ersten Abschnitt auf der Reise der Sonne‹ bezeichneten.« Er wandte sich an Nora und Menzies. »Mache ich mich gerade zum Trottel, der Sie zu Tode langweilt, oder interessiert Sie das?«

»Selbstverständlich«, sagte Menzies. »Lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben.«

Wicherlys Zähne schimmerten im schwachen Lichtschein.

»Das Problem ist, dass wir immer noch sehr wenig über die Bedeutung dieser alten Gräber wissen. Die Datierung ist da gegen vergleichsweise einfach – das hier scheint ein recht typisches Grab des Neuen Reichs zu sein, späte 18. Dynastie, würde ich sagen.«

»Genial«, sagte Menzies. »Senef war der Wesir und Regent von Thutmosis IV.«

»Danke.« Wicherly nahm das Kompliment mit offenkundiger Befriedigung auf. »Die meisten Gräber des Neuen Reichs bestanden aus drei Teilen – einem äußeren, mittleren und inneren Grab, verteilt auf insgesamt zwölf Kammern, die zusammengenommen die zwölfstündige Reise des Sonnengottes durch die Unterwelt symbolisierten. Der Pharao wurde bei Sonnenuntergang beigesetzt, und seine Seele begleitete den Sonnengott auf seiner Barke, mit der er bis zu seiner glorreichen Wiedergeburt am folgenden Morgen die gefährliche Reise durch die Unterwelt unternahm.« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe voraus und strahlte ein schwach erkennbares Portal am Ende der Stufen an. »Diese Treppe war ursprünglich mit Bauschutt aufgefüllt und endete an einer versiegelten Tür.«

Sie stiegen die Stufen weiter hinab und erreichten schließlich einen mächtigen Türeingang, in dessen Sturz ein großes Horusauge eingeschnitzt war. Wicherly hielt inne, richtete seine Lampe auf das Auge und die Hieroglyphen darum herum.

»Können Sie diese Hieroglyphen entziffern?«, fragte Menzies.

Wicherly grinste. »Ich bemühe mich nach Kräften, diesen Eindruck vorzutäuschen. Es handelt sich um einen Fluch.«

Er zwinkerte Nora verstohlen zu. »Möge Ammut das Herz all jener verschlingen, die diese Schwelle überschreiten.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann stieß McCorkle ein hohes Kichern aus. »Ist das alles?«

»Das reichte, um die Grabräuber schlottern zu lassen«, entgegnete Wicherly. »Für die Menschen im alten Ägypten war das ein fürchterlicher Fluch.«

»Wer ist Ammut?«, fragte Nora.

»Der Verschlinger der Verdammten.« Wicherly deutete mit seiner Taschenlampe auf ein schwach erkennbares Bild an der hinteren Wand, das ein Ungeheuer mit dem Kopf eines Krokodils, dem Körper eines Leoparden und dem grotesken Hinterteil eines Nilpferds zeigte. Das Monster hockte mit weit aufgerissenem Maul im Sand und wartete darauf, eine Reihe menschlicher Herzen zu verschlingen. »Böse Worte und Taten machten das Herz schwer. Nach dem Tod wog Anubis jedes Herz auf einer Waage gegen die Feder der Maat auf. Wenn das Herz schwerer wog als die Feder, warf der pavianköpfige Gott Thoth es dem Ungeheuer Ammut zum Fraß vor. Ammut pflegte seinen Darm in der Wüste zu ent leeren, und so endete man dann, wenn man kein guter Mensch gewesen war – als Scheißhaufen in der sengenden Wüstensonne.«

»So genau wollte ich es gar nicht wissen, vielen Dank, Herr Doktor«, sagte McCorkle.

»Die Plünderung eines Pharaonengrabes muss ein schreckliches Erlebnis für einen Ägypter des Altertums gewesen sein.

Die Flüche, mit denen jeder belegt wurde, der in das Grab eindrang, waren sehr real für die Menschen. Um die Macht des toten Pharao zu brechen, haben sie das Grab nicht einfach nur ausgeraubt, sondern vernichtet, alles darin kurz und klein geschlagen. Nur wenn sie die Objekte zerstörten, konnten sie den bösen Zauber, der ihnen innewohnte, brechen.«

»Futter für die Ausstellung, Nora«, murmelte Menzies.

Nach kurzem Zögern schritt McCorkle über die Schwelle, und die anderen folgten ihm.

»Der Zweite Reiseabschnitt des Gottes«, sagte Wicherly und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Inschriften. »Die Wände sind mit Zeilen aus dem Reunupertembru, dem ägyptischen Totenbuch, bedeckt.«

»Ah! Sehr interessant!«, sagte Menzies. »Lesen Sie uns ein Beispiel vor, Adrian.«

Leise begann Wicherly zu intonieren:

»Der Regent Senef, dessen Wort die Wahrheit ist, spricht: Lob und Dank sei dir, o Ra, der du dahinziehst auf goldener Bahn, du Erleuchter beider Welten am Tage deiner Geburt. Deine Mutter brachte dich hervor auf ihrer Hand, und du ließest mit deiner Pracht den Reisekreis des Runds erstrahlen. O Großer Ra, der du deine Bahn ziehst über Nu, du hebest die Menschengeschlechter aus des Wassers tiefer Quelle …

Es ist eine Anrufung des Sonnengottes Ra durch den verstorbenen Senef. Recht typisch für das Totenbuch.«

»Von dem Totenbuch hab ich schon mal gehört«, sagte Nora.

»Aber ich weiß nicht viel darüber.«

»Es ist im Grunde eine Sammlung von Beschwörungsformeln, Bittgebeten und Zaubersprüchen. Es half den Toten auf ihrer gefährlichen Reise durch die Unterwelt zum Schilfgrasfeld – der altägyptischen Vorstellung vom Paradies. In der langen Nacht nach der Beisetzung warteten die Menschen voller Angst auf den nächsten Tag, denn wenn dem Pharao in der Unterwelt irgendein Patzer unterlief und er seine Wiedergeburt vermasselte, würde die Sonne nie wieder aufgehen. Der tote König musste die Zaubersprüche beherrschen, die geheimen Namen der Schlangen kennen und über viele weitere geheime Kenntnisse verfügen, um die Reise erfolgreich ab zuschließen. Deshalb wurde das alles an die Wände seines Grabes geschrieben – das Totenbuch ist sozusagen eine Sammlung von Eselsbrücken zum ewigen Leben.«

Wicherly richtete seinen Strahl auf vier Spalten in Rot und Weiß gemalter Hieroglyphen. Sie traten darauf zu und wirbelten dabei dicke Wolken grauen Staubs auf. »Da ist das erste Tor der Toten«, fuhr Wicherly fort. »Es zeigt, wie der Pharao die Sonnenbarke besteigt und in die Unterwelt aufbricht, wo er von einer Schar Toter begrüßt wird … Hier beim vierten Tor haben sie die schreckliche Wüste von Sokor erreicht, und das Boot verwandelt sich auf magische Weise in eine Schlange, die sie über den brennend heißen Wüstensand trägt … Und hier! Das ist äußerst dramatisch: Um Mitternacht ver einigt sich die Seele des Sonnengottes Ra mit dem Leichnam des Pharao, der von der mumifizierten Gestalt symbolisiert wird …«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche«, fiel McCorkle ihm ins Wort, »aber wir haben noch acht weitere Räume vor uns.«

»Sicher. Natürlich. Entschuldigen Sie.«

Sie gingen weiter zum anderen Ende der Kammer. Dort führte eine Treppe in schwarze Tiefe. »Dieser Abschnitt wurde ebenfalls mit Bauschutt aufgefüllt«, sagte Wicherly. »Um Grabräuber zu behindern.«

»Seien Sie vorsichtig«, murmelte McCorkle, während er vorausging.

Wicherly wandte sich an Nora und streckte ihr seine manikürte Hand entgegen: »Erlauben Sie?«

»Ich glaube, ich schaff das allein«, sagte sie, amüsiert von seiner altmodischen Galanterie. Während sie beobachtete, wie Wicherly mit übertriebener Vorsicht die Stufen hinabschritt, seine blitzblank geputzten Schuhe von einer dicken Staubschicht überzogen, kam ihr der Gedanke, dass er weit eher Gefahr lief, auszurutschen und sich das Genick zu brechen, als sie.

»Vorsicht!«, rief Wicherly dem vorausgehenden McCorkle zu.

»Wenn dieses Grab dem üblichen Bauplan entspricht, kommt gleich der Brunnen.«

»Der Brunnen?«, hallte McCorkles Stimme fragend zurück.

»Ein tiefer Schacht, der unachtsame Grabräuber in den Tod riss. Aber er diente auch als Abfluss und verhinderte bei den seltenen Gelegenheiten, wenn es im Tal der Könige zu Überschwemmungen kam, dass das Grab voll Wasser lief.«

»Selbst wenn er noch intakt sein sollte, hat man bestimmt eine Brücke darüber gebaut«, sagte Menzies. »Vergessen Sie nicht – dies war einmal eine Ausstellung.«

Sie bewegten sich vorsichtig voran, bis die Lichtkegel ihrer Taschenlampen schließlich auf eine wackelige Holzbrücke fielen, die sich über eine Grube von mindestens vier Metern Tiefe spannte. McCorkle bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, hinter ihm stehenzubleiben. Er untersuchte die Brücke sorgfältig mit seiner Taschenlampe und machte dann einen Schritt nach vorn, um sie zu betreten. Plötzlich knackte es laut, und Nora fuhr erschrocken zusammen. McCorkle griff verzweifelt nach dem Geländer, aber das alte Holz hatte nur mit einem kurzen Ächzen gegen die ungewohnte Belastung protestiert. Die Brücke hielt.

»Sie ist immer noch sicher«, sagte McCorkle, »folgen Sie mir jetzt einzeln nacheinander.«

Vorsichtig setzte Nora einen Fuß auf die schmale Brücke. »Unglaublich, dass dies einmal Teil einer Ausstellung war. Wie hat man es bloß geschafft, einen so tiefen Brunnen in den unteren Kellergeschossen anzulegen?«

»Er muss in das Grundgestein von Manhattan gehauen sein«, sagte Menzies hinter ihr. »Wir müssen hier die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen treffen.«

Auf der anderen Seite der Brücke überschritten sie eine weitere Schwelle. »Jetzt befinden wir uns im mittleren Grab«, sagte Wicherly. »Dieser Eingang hier war ursprünglich ebenfalls verschlossen. Was für herrliche Fresken! Hier ist ein Bild von Senef, wie er den Göttern begegnet. Und weitere Verse aus dem Totenbuch.«

»Noch mehr Flüche?«, fragte Nora mit einem Blick auf ein weiteres Horusauge, das deutlich sichtbar über die einst versiegelte Tür gemalt war.

Wicherly leuchtete es mit seiner Taschenlampe an.

»Hmmmm. So eine Inschrift habe ich noch nie gesehen. Der Ort, der versiegelt ist. Was in dem verschlossenen Raum lieget, wird wiedergeboren durch die ihm innewohnende Ba-Seele; was in den ver schlossenen Raum eindringt, wird der Ba-Seele beraubt. Das Auge des Horus wird mir Erlösung oder Verdammnis bringen, o großer Osiris.«

»Klingt für mich eindeutig wie ein weiterer Fluch«, kommentierte McCorkle.

»Ich schätze mal, es ist nur ein obskures Zitat aus dem Totenbuch. Es handelt sich um ein recht umfangreiches Werk, das fast zweihundert Kapitel umfasst, außerdem liegt die Bedeutung vieler Abschnitte nach wie vor im Dunkeln.«

Das Grab erweiterte sich jetzt zu einer gewaltigen Halle mit Gewölbedecke und sechs großen Steinsäulen, dicht bedeckt von Hieroglyphen und Fresken. Nora schien es unfassbar, dass dieser riesige prunkvolle Saal mehr als ein halbes Jahrhundert in den Tiefen des Museums geschlummert hatte und fast gänzlich in Vergessenheit geraten war.

Wicherly drehte sich um und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über die Bilderfülle wandern. »Das ist ziemlich ungewöhnlich. Die Halle der Streitwagen oder des Kampfes gegen die Feinde, wie sie von den alten Ägyptern genannt wurde. Hier lagerte das ganze Kriegsgerät, das der Pharao in seinem Leben nach dem Tode brauchte – Streitwagen, Pfeil und Bogen, Pferde, Schwerter, Messer, Kampfkeule und Knüppel, Helm, Lederrüstung.«

Der Strahl seiner Taschenlampe verharrte auf einem Fries, der Hunderte von enthaupteten Leichen zeigte. Die abgeschlagenen Köpfe lagen aufgereiht neben ihnen auf dem blutbespritzten Boden. Außerdem hatte der alte Meister so realistische Details wie heraushängende Zungen hinzugefügt.

Sie gingen durch eine lange Flucht von Korridoren, bis sie einen Raum erreichten, der kleiner war als die anderen. Ein großes Fresko auf einer Seite zeigte abermals die Szene, in der ein menschliches Herz abgewogen wurde, allerdings in wesentlich größerem Format, und daneben sah man auch hier die grässliche, geifernde Gestalt des Ammut hocken.

»Die Halle der Wahrheit«, erklärte Wicherly. »Sogar der Pharao wurde beurteilt, oder in diesem Fall Senef, der fast so mächtig war wie ein Pharao.«

McCorkle brummelte irgendwas, verschwand dann in der angrenzenden Kammer, und die anderen folgten ihm. Sie gelangten in einen weiteren geräumigen Saal, dessen Gewölbedecke mit einem Nachthimmel voller Sterne ausgemalt war und dessen Wände über und über mit Hieroglyphen bedeckt waren. Ein riesiger Sarkophag aus Granit stand in der Mitte des Raums. Er war leer. An zwei Seiten befanden sich jeweils vier schwarze Türen in den Wänden.

»Das ist ein ganz außergewöhnliches Grab«, sagte Wicherly und leuchtete mit der Taschenlampe um sich. »Ich hatte ja keine Ahnung. Als Sie mich anriefen, Dr. Menzies, dachte ich, dass es sich um ein kleines, aber charmantes Grabmal handelte. Das hier ist fantastisch. Wie um alles in der Welt ist das Museum in den Besitz dieses Schatzes gekommen?«

»Das ist eine interessante Geschichte«, antwortete Menzies.

»Als Napoleon 1798 Ägypten eroberte, gehörte dieses Grab zu seinen Trophäen. Er ließ es Quader für Quader auseinandernehmen und nach Frankreich transportieren. Doch als Nelson die Franzosen in der Schlacht am Nil besiegte, hat ein schottischer Marinekapitän das Grab auf betrügerische Weise in seinen Besitz gebracht und es in seinem Schloss in den Highlands wieder aufgebaut. Als der letzte Nachfahre, der siebte Baron von Rattray, im 19. Jahrhundert in akute Geldnot geriet, verkaufte er das Grab an einen frühen Gönner des Mu seums, der es über den Atlantik bringen und hier installieren ließ, als sich das Museum im Bau befand.«

»Damit dürfte er wohl einen von Englands Nationalschätzen verhökert haben.«

Menzies lächelte. »Er hat tausend Pfund dafür erhalten.«

»Das wird ja immer schlimmer! Möge Ammut das Herz des habgierigen Barons ob dieses frevelhaften Tuns verschlingen!« Wicherly lachte, richtete seine leuchtend blauen Augen auf Nora, die höflich zurücklächelte. Sein Interesse an ihr wurde immer offensichtlicher, wobei der Ehering an ihrem Finger ihn offenbar nicht im Geringsten abschreckte.

McCorkle tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.

»Dies ist die eigentliche Grabkammer«, fing Wicherly an, »die im Altertum als Haus des Goldes bezeichnet wurde. Bei den Vorräumen handelt es sich um den Uschebti-Raum, den Kanopenraum, in dem die konservierten Organe des Pharao in Gefäßen aufbewahrt wurden, ferner die Schatzkammer des Todes und die Ruhestätte der Götter. Erstaunlich, nicht wahr, Nora? Was werden wir für eine schöne Zeit haben!«

Nora antwortete nicht sofort. Sie dachte gerade darüber nach, wie riesengroß und staubig dieses Grab doch war und wie viel Arbeit noch vor ihnen lag.

Menzies musste das Gleiche gedacht haben, denn er wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um, das sowohl Mitgefühl als auch freudige Erwartung auszudrücken schien. »Tja, Nora«, sagte er. »Die kommenden sechs Wochen dürften sich als sehr interessant erweisen.«