66

 

Unmittelbar hinter der Bresche blieben sie kurz stehen. Der dichte Nebel strömte durch das Loch in der Mauer wie Wasser durch einen gebrochenen Damm und erfüllte den Stollen und die dahinter liegende U-Bahn-Station; im Grab selbst senkte sich der Nebel bereits unter Augenhöhe, so dass man den oberen Teil des Raumes, in dem sie sich befanden, sehen konnte. Smithback erkannte es nach Noras Beschreibungen sofort als die eigentliche Grabkammer. Aus allen Ecken blitzten Stroboskoplichter von außergewöhnlicher, ja schmerzlicher In tensität, während gleichzeitig ein unheimliches Dröhnen die Kammer erfüllte, überlagert von einem pulsierenden, nervenzerfetzenden, hohen Kreischen.

»Was ist denn hier los?«, fragte D’Agosta hinter ihm. Pendergast bewegte sich vorwärts, ohne zu antworten, und wedelte dabei die wirbelnden Nebelschwaden weg. Während sie sich dem riesigen Steinsarkophag in der Mitte der Kammer näherten, hielt Pendergast inne, schaute zur Decke, zielte und schoss: eine Halterung in einer Ecke explodierte – Funken sprühten, Glassplitter flogen herum. Er drehte sich um, schoss noch einmal und dann noch einmal, bis sämtliche Stroboskoplichter erloschen waren – auch wenn im Durchgang zum angrenzenden Raum des Grabes immer noch Blitze aufflackerten und sich die grässlichen Geräusche ebenfalls fortsetzten.

Sie gingen weiter. Plötzlich spürte Smithback ein Schlingern in der Magengrube: Als der Nebel sich lichtete, erkannte er Menschen zu seinen Füßen, die sich leicht bewegten. Der Boden war rutschig vor Blut.

»O nein.« Er blickte sich verzweifelt um. »Nora!«

Aber es war schlechterdings unmöglich, bei diesem irrsinnigen Lärm, der ihm bis ins Mark ging, irgendwas zu verstehen. Er machte noch ein paar Schritte und wedelte hektisch den Nebel weg. Ein weiterer Schuss aus Pendergasts Waffe, dem ein hohles Feedbackkreischen und ein elektrischer Lichtbogen folgte, als ein Lautsprecher zu Boden krachte. Trotzdem, der Lärm hielt unvermindert an. Smithback packte irgendwelche umherliegenden Kabel und riss daran.

Ein Zivilfahnder näherte sich ihnen, er torkelte, als ob er angetrunken wäre. Sein Gesicht war zerkratzt und blutig, das zerrissene Hemd hing ihm in Fetzen vom Leib. Seine Dienstmarke schaukelte am Gürtel, die Dienstwaffe baumelte in seiner Hand wie ein vergessenes Anhängsel.

Hayward runzelte verblüfft die Stirn. »Rogerson?«

Der Blick des Beamten richtete sich kurz auf sie, dann schaute er sofort wieder weg. Nach einer Sekunde kehrte er ihnen den Rücken zu und schwankte davon. Hayward streckte den Arm aus und nahm ihm die Waffe aus der schlaffen Hand.

»Was ist hier bloß passiert?«, rief D’Agosta, als er die herumliegenden Kleider, die Schuhe, das Blut, die verletzten Ausstellungsbesucher sah.

»Wir haben keine Zeit, das zu erklären«, antwortete Pendergast. »Captain Hayward, Sie und Lieutenant D’Agosta gehen zum vorderen Bereich des Grabs. Dort befindet sich der Großteil der Besucher, sie stehen zusammengeschart am Eingang. Holen Sie sie hierher zurück und bringen Sie sie durch das Loch in der Mauer nach draußen. Aber passen Sie auf: viele sind zweifellos tief verstört. Sie könnten gewalttätig werden. Achten Sie darauf, dass keine Panik ausbricht.« Er wandte sich Smithback zu. »Wir müssen den Generator suchen.«

»Zum Teufel damit. Ich muss Nora finden.«

»Sie werden erst dann jemanden finden können, wenn wir diese infernalische Show gestoppt haben.«

Smithback hielt inne. »Aber …«

»Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue.«

Smithback zögerte, dann nickte er widerstrebend.

Pendergast zog eine zweite Taschenlampe aus der Tasche und drückte sie Smithback in die Hand. Seite an Seite gingen sie in den Nebel hinein. Es bot sich ihnen ein grauenerregendes Bild – überall auf dem Marmorfußboden stöhnten Verletzte, und mehr als eine Leiche lag reglos in einer grotesken, unnatürlichen Haltung da – offenbar zu Tode getrampelt. Smithback versuchte, seinen wild pochenden Herzschlag in den Griff zu bekommen.

Pendergast leuchtete mit seiner Taschenlampe an die Decke, bis der Lichtstrahl auf eine lange, anscheinend steinerne Deckenleiste fiel. Er zielte, schoss und pustete dadurch eine Ecke der Leiste weg, so dass ein rauchendes, funkensprühendes Stromkabel zum Vorschein kam.

»Man hätte nie gestattet, die Kabel unter den Grabwänden zu verlegen«, erläuterte er. »Wir müssen nach weiteren künstlichen Deckenleisten suchen.«

Langsam ließ Pendergast den Strahl der Taschenlampe die Leiste entlangwandern, die man so gegipst und angemalt hatte, dass sie wie Stein aussah. Sie verlief zu einer Ecke, wo sie in eine zweite Leiste mündete; von dort führte eine größere Deckenleiste durch den Durchgang zum angrenzenden Raum.

An einem Stapel von Leichen vorbei schlängelten sie sich durch den Durchgang in die nächste Kammer des Grabes. Smithback kniff die Augen zusammen, um sich vor den grellen Stroboskoplichtern zu schützen, die Pendergast mit vier gut gezielten Schüssen auslöschte.

Während der letzte Schuss in der Düsternis verhallte, trat eine Gestalt aus dem lichteren Nebel, sie watschelte, hob und senkte die Füße, als wäre sie mit schweren Gewichten gefesselt. Ihr Mund bewegte sich, als redete sie, aber bei dem ganzen Getöse konnte Smithback nichts verstehen.

»Passen Sie auf!«, rief Smithback, als der Mann Pendergast aus heiterem Himmel ansprang. Der Agent wich behende aus und versetzte seinem Angreifer einen Stoß. Der Mann stürzte schwer zu Boden, wälzte sich, konnte aber nicht auf stehen.

Sie gingen in den nächsten Raum. Pendergast folgte den Deckenleisten mit seiner Taschenlampe. Sie schienen alle in einer falschen Halbsäule in der gegenüberliegenden Wand zu münden. Dort stand eine große, vergoldete Truhe aus der 20. Dynastie, reich verziert mit Schnitzereien. Die Truhe befand sich in einem gläsernen Schaukasten, der trotz des Gemetzels rundherum unbeschädigt geblieben war.

»Dort!« Pendergast trat hinüber, hob das zerborstene Rad eines Streitwagens auf und schwang es gegen den Schaukasten, so dass das Glas zersprang. Dann machte er einen Schritt zurück, hob erneut seine Waffe und zerschoss das alte bronzene Schloss. Nachdem er die Waffe ins Holster zurückgesteckt hatte, wischte er das Schloss und das zerbrochene Glas beiseite und hob den Deckel von der schweren Truhe. Darin summte und vibrierte ein großer Stromgenerator. Pendergast zog ein Messer aus der Tasche und durchtrennte ein Kabel, wodurch der Generator knisterte und knackte und seinen Betrieb einstellte. Mit einem Mal war das Grab in völlige Finsternis und Stille getaucht.

Und doch war es nicht wirklich still. Denn jetzt hörte Smithback aus dem vorderen Bereich des Grabes eine Kakophonie von Rufen und Schreien: eine Hysterie wie von einem Mob. Er stand auf und leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Dunkel.

»Nora!«, rief er. »Nora!«

Plötzlich fiel der Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf eine Gestalt, die halb verborgen in einem entfernten Alkoven stand. Smithback starrte sie überrascht an. Obwohl der Mann mit einem makellos weißen Frack bekleidet war, trug er eine schwarze Maske, und die Ohren bedeckten Kopfhörer. In seiner Hand lag ein kleines Gerät, das wie eine Fernbedienung aussah. Der Mann stand derart reglos da, dass Smithback sich fragte, ob es sich vielleicht wieder nur um eine holographische Projektion handelte, dann aber zog der andere sich wie aufs Stichwort die Maske vom Gesicht.

Auch Pendergast hatte den Mann entdeckt; die Wirkung der Enttarnung war ganz erstaunlich. Pendergast erstarrte und schrak zusammen – fast so, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Sein sonst so blasses Gesicht lief feuerrot an. Smithback hätte wetten können, dass die Reaktion des Mannes im Frack noch stärker ausgefallen war. Er duckte sich, wie jemand, der im nächsten Moment losspringen wollte. Dann riss er sich zusammen und erhob sich langsam zu voller Größe.

»Du!«, sagte er. Einen Augenblick wurde er wieder still. Und dann entfernte er – mit seiner langen, spinnenartigen Hand – den Kopfhörer und die Ohrstöpsel und ließ sie langsam und bewusst zu Boden fallen.

Wieder war Smithback überrascht. Den Mann kannte er doch; das war Noras Chef, Hugo Menzies. Trotzdem sah er ganz anders aus. Seine Augen waren flammend rot, seine Glieder bebten. Das Gesicht war ebenso dunkelrot wie das Pendergasts – und seine Miene war voller Wut.

Pendergasts Hand ging zu seiner Waffe. Dann hielt er inne, die Waffe halb gezogen, wie paralysiert.

»Diogenes …«, sagte er mit erstickter Stimme.

Gleichzeitig hörte Smithback, wie jemand aus einem fernen Winkel seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah, wie Nora sich aufrappelte, gestützt von Viola Maskelene. Pendergast blickte hinüber und bemerkte ebenfalls die beiden Frauen.

In diesem Augenblick huschte Menzies unglaublich schnell in die Dunkelheit. Pendergast wandte sich um, so als wollte er die Verfolgung aufnehmen – dann aber drehte er sich wieder zu Viola um, das Gesicht vor Unentschlossenheit verzerrt.

Smithback sprintete zu den beiden Frauen hinüber und half ihnen auf. Kurz darauf stand Pendergast neben ihnen und schloss Viola in die Arme.

»O mein Gott«, sagte sie, halb keuchend und halb weinend.

»O mein Gott, Aloysius …«

Aber Smithback hörte das kaum. Er hatte die Arme um Nora gelegt und streichelte mit der einen Hand ihr verschmutztes und blutverschmiertes Gesicht. »Geht’s dir gut?«

Sie zuckte zusammen. »Kopfschmerzen. Ein paar Kratzer. Es war so furchtbar.«

»Wir bringen euch hier raus.« Er drehte sich zu Pendergast um. Der hielt zwar noch immer Viola in den Armen, und seine Hände ruhten dabei auf ihren Schultern, aber er richtete den Blick wieder in die Dunkelheit, in der Hugo Menzies verschwunden war.

Hinter ihnen, aus der Grabkammer, hörte Smithback das gedämpfte Geplärre von Polizeifunkgeräten. Strahlen von Taschenlampen stachen durch die Düsternis, die Polizei war da, ein Dutzend oder mehr uniformierte Beamte, die verwirrt dreinschauten und mit gezogenen Waffen die Halle der Streitwagen betraten.

»Was zum Teufel geht hier vor?«, fragte der Leiter, ein Lieutenant. »Wo sind wir hier?«

»Im Grab des Senef«, antwortete Pendergast.

»Was ist mit der Explosion?«

»Die war nötig, um sich Zutritt zu verschaffen, Lieutenant.« Captain Hayward kam auf sie zugeeilt und zeigte ihre Dienstmarke. »Und nun hören Sie mir gut zu. Wir haben Verletzte hier, noch viel mehr weiter hinten in dem Grab. Wir brauchen Notfallsanitäter, mobile Erste-Hilfe-Stationen, Rettungswagen. Verstehen Sie? Lieutenant D’Agosta befindet sich hinten im Grab, bereit, die eingeschlossenen Opfer hierher zurück zum Ausgang zu begleiten. Er braucht Verstärkung.«

»Verstanden, Captain.« Der Lieutenant wandte sich zu seinen Beamten um und brüllte einige Befehle. Mehrere Polizisten steckten ihre Waffen ins Holster zurück und gingen weiter ins Grab hinein, während der Lichtschein ihrer Taschenlampen auf und ab ruckte. Hinter sich vernahm Smithback, wie die Menge näher kam, hörte das Stöhnen, Seufzen und Husten der Leute, gelegentlich unterbrochen von wütenden, unzusammenhängenden Schreien. Es klang wie ein wandelndes Irrenhaus.

Pendergast half bereits Viola in Richtung Ausgang. Smithback legte den Arm um Nora; sie blieben zurück und gingen auf das Loch zu, das in der einen Ecke der Grabkammer klaffte. Augenblicke später hatten sie das verpestete Grab verlassen und standen in der hell erleuchteten U-Bahn-Station. Auf dem Bahnsteig kam ihnen eine Gruppe von Rettungssanitätern entgegengelaufen, einige trugen zusammenklappbare Tragen.

»Wir nehmen sie mit«, sagte einer der Sanitäter, als Nora und Smithback auf sie zukamen, während die übrigen durch die Bresche in das Grab liefen.

Kurz darauf lagen Viola und Nora angeschnallt auf den Tragen und wurden die Treppe hinaufgeschleppt. Pendergast stieg ihnen voran. Die Röte war aus seinem Gesicht gewichen, so dass es nun aschfarben und unergründlich wirkte. Smithback ging neben Nora.

Sie lächelte, streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. »Ich wusste, du würdest kommen.«