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Tief im Innern des Bundesuntersuchungsgefängnisses zur vorläufigen Unterbringung und Verwahrung von extrem gefährlichen Gewaltverbrechern, dem Schwarzen Loch von Herkmoor, saß der nur als A bekannte Häftling auf seiner Pritsche. Die zwei Meter mal drei Meter große Zelle war von asketischer Kargheit: frisch geweißte Wände, ein Zementboden mit einem Abfluss in der Mitte, in der Ecke eine Toilette, ein Wasch becken, ein Heizkörper und ein schmales Metallbett. Eine in die Decke eingelassene Neonbirne in einem Drahtkäfig spendete das einzige Licht der Zelle. Einen Lichtschalter gab es nicht: Das Licht ging um 6 Uhr morgens an und um 22 Uhr aus. Hoch oben an der anderen Wand befand sich das einzige Fenster, nicht mehr als ein vergitterter Spalt, fünf Zentimeter breit und vierzig Zentimeter hoch.
Seit mehreren Stunden saß der Häftling völlig reglos auf der Matratze. Er trug einen ordentlich gebügelten grauen Overall, sein schmales Gesicht war blass und ausdruckslos, die silbrigen Augenlider halb geschlossen, das weißblonde Haar zurückgekämmt. Kein Muskel zuckte in dem Gesicht, nicht einmal die Augenlider, während er den leisen, schnellen Klangfolgen aus der Nachbarzelle lauschte.
Es war ein Trommeln: ein Klangmuster von außergewöhnlicher rhythmischer Komplexität, das lauter und leiser wurde, sich beschleunigte und verlangsamte, vom Metallgitter des Bettes über die Matratze an die Wände von dort zur Toilette ans Waschbecken und an die Gitterstäbe und dann wieder zum Anfang zurückwanderte. Zurzeit trommelte der Häftling auf das eiserne Bettgestell, dazwischen ein gelegentlicher Schlag auf die Matratze oder eine andere Variation, während er mit Mund und Zunge rasche ploppende und klickende Geräusche machte.
Die endlosen Rhythmen wurden stärker und schwächer, wie ein zunehmender und wieder nachlassender Wind, steigerten sich in die Stakkatoraserei eines Maschinengewehrs und fielen dann wieder zu einer langsamen Synkopierung ab. Manchmal schien das Trommeln fast zu ersterben, aber nie ganz – ein einzelner ostinater Bass, ein hartnäckiges tapp … tapp … tapp zeigte an, dass es weiterging.
Ein Perkussionsfan hätte vielleicht die außergewöhnliche Vielfalt der rhythmischen Muster und Stile zu würdigen gewusst, die aus Einzelzelle 45 drangen: ein Kassagbe-Kongo-Takt ging in einen langsamen Funkout über, dann in einen Pop-and-Lock, bewegte sich nacheinander durch einen Shakeout, einen melodischen Punk, einen Glam, dann durch einen langen pseudoelektronischen Riff; danach ein schneller Eurostomp mit einem überraschenden Ende, gefolgt von einem Hip-Hop Twist-Stick und einem Tom-Club. Ein Augenblick der Stille … dann setzte ein langsamer Chicago Blues ein und entwickelte sich zu unzähligen weiteren bekannten und unbekannten Taktfolgen, die sich in einem nicht abreißenden Klangband umeinander und ineinander flochten.
Der als A bekannte Häftling war allerdings kein Rhythmusfan. Er war ein Mann mit vielen Talenten – aber Trommeln gehörte nicht dazu.
Dennoch lauschte er.
Schließlich, eine halbe Stunde bevor das Licht ausging, bewegte sich A auf seiner Pritsche. Er drehte sich zum Bettgestell, schlug einmal sacht mit dem linken Zeigefinger darauf, dann noch einmal. Dann klopfte er einen einfachen Viervierteltakt. Nach einigen Minuten probierte er den Takt auf der Matratze aus, dann an der Wand und auf dem Waschbecken – als wollte er deren Timbre, Klang und Tonumfang ausprobieren –, bevor er wieder zum Bettgestell zurückkehrte. Während er mit dem linken Zeigefinger weiterhin einen Viervierteltakt klopfte, stimmte er mit dem rechten Zeigefinger einen anderen Rhythmus an. Während er diese einfache rhythmische Begleitung trommelte, lauschte er aufmerksam der virtuosen Klangflut aus der Nachbarzelle.
Pünktlich um zehn ging das Licht aus; die Zelle versank im Dunkeln. Eine Stunde verstrich, dann eine weitere. Das Getrommel des Häftlings änderte sich auf subtile Weise. Behutsam ließ er sich vom Trommler führen. Mal griff er eine ungewöhnliche Synkope auf, dann wieder übernahm er einen Dreier- anstelle eines Zweiertakts und fügte diese Variation seinem einfachen Repertoire hinzu. Immer enger verknüpfte er das eigene Trommeln mit dem Klanggewebe von nebenan, nahm Anregungen von seinem Zellennachbarn auf, folgte dessen Tempo oder verlangsamte es, je nach Vorgabe des Trommlers.
Es war Mitternacht, aber der Trommler in Zelle 45 machte weiter – ebenso wie der Häftling namens A. A stellte fest, dass das Trommeln – das er immer als krude, ja primitive Tätigkeit betrachtet hatte – eine erstaunlich angenehme Wirkung auf den Geist ausübte. Es öffnete eine Tür, die aus der engen, hässlichen Wirklichkeit seiner Zelle hinaus in einen weiten, abstrakten Raum mathematischer Präzision und Komplexität führte. Er trommelte weiter, folgte immer noch der Führung des Häftlings in 45 und steigerte fortlaufend die Komplexität seiner eigenen Rhythmusfolgen.
Die Nacht verstrich. Die wenigen anderen Häftlinge, die in Einzelhaft saßen – es waren nicht viele, und ihre Zellen befanden sich alle am anderen Ende des Gangs – schliefen längst. Doch die Insassen von 44 und 45 trommelten noch immer gemeinsam weiter. Und während der Häftling namens A diese seltsame neue Welt äußerer und innerer Rhythmen immer weiter erforschte, fing er allmählich an, den Mann in der angrenzenden Zelle und sein psychisches Leiden besser zu verstehen – was seine Absicht gewesen war. Was er über den Mann erfuhr, war nichts, das man in Worte fassen konnte; es war für Sprache nicht zugänglich, ebenso wenig wie für psychologische Theorien, psychotherapeutische oder auch medikamentöse Behandlungen.
Durch die gewissenhafte Nachahmung der vielschichtigen Trommelklänge gelang es dem Häftling in 44 jedoch ganz allmählich, eine Verbindung zu dem Trommler herzustellen und in dessen Welt vorzustoßen. Allmählich verstand er den Trommler, auf einer elementaren, neurologischen Ebene – was ihn motivierte, warum er handelte, wie er handelte.
Langsam, behutsam tastete A sich weiter vor, unternahm einen ersten Versuch, den Rhythmus auf bestimmten experimentellen Wegen zu verändern, um auszuprobieren, ob er die Führung übernehmen und den Trommler dazu bringen konnte, ihm einige Takte lang zu folgen. Als das Experiment glückte, veränderte er kaum merklich das Tempo, variierte er den Rhythmus. Dabei achtete er sorgfältig darauf, keine abrupten Wechsel zu vollziehen: jeder neue Takt, jeder veränderte Rhythmus war ein genau berechneter, präzise gesteuerter Schritt auf dem Weg zum angestrebten Ziel.
Im Verlauf einer weiteren Stunde vollzog sich ein Wandel in der Dynamik zwischen den beiden Gefangenen. Ohne es zu merken, war der Trommler nicht mehr derjenige, der führte, sondern derjenige, der folgte.
Der Häftling A veränderte weiterhin sein Trommeln, verlangsamte und beschleunigte es um winzigste Bruchteile, bis er sicher war, dass nun er den Rhythmus vorgab; dass der Trommler in der angrenzenden Zelle unbewusst seinem Tempo und seiner Führung folgte. Dann begann er, unendlich geduldig, sein eigenes Trommeln zu verlangsamen; nicht auf direktem Wege, sondern über wechselnde Beschleunigungen und Verlangsamungen, über Riffs und Umstellungen, die er von seinem Zellennachbarn übernommen hatte und die er jedes Mal in einem etwas langsameren Tempo enden ließ, bis die Laute schließlich so langsam und schläfrig aufeinander folgten wie zähe Melassetropfen.
Und dann hörte er auf.
Nach einigen zögernden, ins Leere laufenden Schlägen hielt der Mann in Einzelzelle 45 ebenfalls inne.
Eine ganze Weile blieb es still.
Und dann hörte er eine atemlose, heisere Stimme aus Zelle 45.
»Wer … wer bist du?«
»Ich bin Aloysius Pendergast«, antwortete er. »Und ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Eine Stunde später herrschte himmlische Ruhe. Pendergast lag mit geschlossenen Augen, aber immer noch wach auf seiner Pritsche. Zu einer bestimmten Zeit öffnete er die Augen und sah prüfend auf das schwach leuchtende Zifferblatt seiner Uhr – den einzigen Gegenstand, den Gefangene laut gesetzlicher Vorschrift behalten durften. Zwei Minuten vor vier Uhr morgens. Er wartete, jetzt mit geöffneten Augen, bis um Punkt vier Uhr ein tanzender grüner Lichtpunkt auf die gegenüberliegende Wand fiel, kurz hin und her flackerte und schließlich allmählich zum Stillstand kam. Der Häftling erkannte den Punkt – das war ein grüner DPSS-Laser 532nm –, nichts anderes als der Strahl eines teuren Laserstifts, der von einem verborgenen Platz weit außerhalb der Gefängnismauern an seine Wand geworfen wurde.
Schließlich fing der Lichtpunkt an zu blinken, wiederholte mehrmals in einem einfachen monophonen Code eine kurze Einleitung – eine komprimierte Botschaft, um die Übertragung kurz zu halten. Eine viermalige Wiederholung stellte sicher, dass Pendergast den Code erkannte. Nach einer kurzen Pause wurde die eigentliche Nachricht übermittelt:
SENDUNG ERHALTEN
ANALYSE OPTIMALER FLUCHTWEGE
LÄUFT NOCH
MÖGLICHERWEISE NEUER AUSTRAGUNGSORT
IHRERSEITS NÖTIG
ANWEISUNGEN FOLGEN SCHNELLSTMÖGLICH
FOLGENDE FRAGEN – ANTWORT AUF
ÜBLICHEM WEGE
BESCHREIBEN SIE: HOFGANG – PRIVILEGIEN
UND ZEITPLAN
BESORGEN SIE: STOFFPROBEN VON WÄRTER-UNIFORM,
HOSE UND HEMD
Es folgten weitere zum Teil seltsame, zum Teil naheliegende Aufforderungen und Fragen. Pendergast machte sich keine Notizen, sondern blieb völlig reglos liegen und prägte sich alles ein. Bei der letzten Frage zuckte er allerdings leicht zusammen.
SIND SIE BEREIT ZU TÖTEN?
Damit verschwand das Laserlicht. Pendergast setzte sich auf. Er griff unter die Matratze und zog einen harten, ausgefransten Segeltuchfetzen und eine Zitronenscheibe von einer kürzlich eingenommenen Mahlzeit heraus. Dann zog er einen Schuh aus, ging damit zum Waschbecken, ließ das Wasser laufen, gab einige Tropfen in die Seifenmulde und tauchte den Schuh hinein. Als Nächstes drückte er den Saft der Zitronenscheibe in das Wasser. Dann kratzte er mit Hilfe des harten Stoffrestes etwas Schuhcreme vom Schuh. Kurz darauf hatte sich die kleine Flüssigkeitsansammlung in der Emaillevertiefung dunkel verfärbt. Pendergast hielt einen Moment inne, horchte ins Dunkel, um sicherzugehen, dass niemand auf sein Tun aufmerksam geworden war. Dann zog er das Bettzeug von der Ecke seiner Matratze, riss von einer unauffälligen Stelle einen langen Stoffstreifen ab und legte diesen auf den Waschbeckenrand. Er zog den Schnürsenkel aus dem Schuh, tauchte das zuvor angespitzte Metallende in die Flüssigkeit und beschrieb den Baumwollstreifen mit einer winzig kleinen, ordentlichen Schrift, die kaum mehr als einen blassen Abdruck hinterließ.
Gegen Viertel vor fünf hatte er alle Fragen beantwortet. Er legte den Stoffrest auf den Heizkörper, bis die Schrift durch die Hitze dunkel und fest geworden war. Dann rollte er den Streifen auf, hielt aber plötzlich inne und fügte noch eine kurze Zeile am Ende hinzu. »Behalten Sie Constance weiter im Auge. Und seien Sie guten Mutes, mein lieber Vincent.«
Er legte die Nachricht erneut auf die Heizung, um diese letzte Nachricht einzubrennen, rollte den Stoffstreifen straff zusammen und steckte ihn in den Abfluss seiner Zelle. Dann füllte er seinen Abfalleimer mit Wasser, goss es in den Abfluss und wiederholte die Prozedur ein Dutzend Mal.
Noch eine Stunde bis zum Wecken. Er legte sich aufs Bett, faltete die Hände über der Brust und war sofort eingeschlafen.