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Captain Laura Hayward, Leiterin der Mordkommission, stand in ihrem Büro und betrachtete nachdenklich das unordentliche Dickicht, das aus ihrem Schreibtisch und aus jedem Stuhl zu wachsen schien und allmählich auch auf den Fußboden übergriff – chaotische Haufen aus Papieren und Fotos, Knäuel farbiger Schnur, CDs, vergilbte Telexblätter, Beweisetiketten, Briefumschläge. Die äußerliche Unordnung, dachte sie, spiegelt haargenau wider, wie es in mir drin aussieht.

Dieses Chaos war einmal ihr säuberlich geordnetes Beweisgebäude gegen Special Agent Pendergast gewesen, das sie Steinchen für Steinchen zusammengetragen hatte – das ganze Belastungsmaterial samt farbigen Schnüren, Fotos und Etiketten. Es hatte alles so gut gepasst. Die Spuren waren subtil, aber überzeugend gewesen und hatten ein in sich schlüssiges Bild ergeben. Ein Blutfleck an einem entlegenen Ort, einige Mikrofasern, einige Haarsträhnen, ein auf bestimmte Art gebundener Knoten, die Abfolge der Besitzer einer Mordwaffe. Die DNA-Tests logen nicht, die kriminaltechnischen Untersuchungen logen nicht, die Autopsien logen nicht. Alle Befunde deuteten auf Pendergast. Der Fall war wasserdicht.

Vielleicht zu wasserdicht. Das war, kurz gesagt, das Problem. Es klopfte leise an der Tür. Als Hayward sich umdrehte, sah sie Captain Glen Singleton, den Leiter des örtlichen Reviers, im Türrahmen stehen. Singleton war Ende vierzig, groß und schlank, hatte die geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen eines Schwimmers, ein schmales Gesicht und ein Adlerprofil.

Sein schwarzer Anzug wirkte entschieden zu teuer und zu gut geschnitten für einen Captain der New Yorker Polizei, und alle zwei Wochen ließ er sein graumeliertes Haar von dem sündhaft teuren Frisör, der in der Lobby des Carlyle residierte, perfekt in Form schneiden. Doch was bei einem anderen Polizisten vielleicht einen Hang zur Bestechlichkeit nahegelegt hätte, war bei Singleton lediglich Ausdruck eines persönlichen Hangs zum Perfektionismus. Und trotz seines Faibles für elegante Anzüge war er ein verdammt guter Polizist, einer der am höchsten dekorierten Beamten im aktiven Polizeidienst.

»Laura, darf ich?« Er lächelte und zeigte eine Reihe makelloser Zähne.

»Klar, wieso nicht?«

»Wir haben Sie gestern Abend bei dem Abteilungsessen vermisst. Gab’s ein Problem?«

»Ein Problem? Nein, nichts dergleichen.«

»Wirklich? Dann verstehe ich nicht, wieso Sie sich eine Gelegenheit zum Essen, Trinken und Feiern entgehen lassen.«

»Ich weiß nicht. Ich war wohl nicht in Stimmung, zu feiern.«

Es folgte ein betretenes Schweigen, während Singleton sich nach einem leeren Stuhl umsah.

»Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich habe gerade …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Was?«

Hayward zuckte mit den Achseln.

»Das hatte ich befürchtet.« Singleton zögerte einen Moment, schien dann zu einem Entschluss zu kommen, schloss die Tür hinter sich und trat auf Laura zu.

»Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Laura«, sagte er leise.

Aha, daher weht der Wind, dachte Hayward.

»Ich bin Ihr Freund, deshalb will ich nicht um den heißen Brei herumreden«, fuhr er fort. »Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was Sie gerade gemacht haben, aber Sie werden sich Ärger einhandeln, wenn Sie damit weitermachen.«

Hayward wartete.

»Sie haben diesen Fall lehrbuchmäßig gelöst. Sie haben alles richtig gemacht. Weshalb zerfleischen Sie sich jetzt?«

Hayward starrte Singleton einen Augenblick lang wortlos an und versuchte, ihre aufflammende Wut zu beherrschen, die, wie sie wusste, eher gegen sie selbst als gegen Singleton gerichtet war.

»Warum? Weil der falsche Mann im Gefängnis sitzt. Agent Pendergast hat weder Torrance Hamilton noch Charles Duchamp oder Michael Decker ermordet. Sein Bruder Diogenes ist der wahre Täter.«

Singleton seufzte. »Hören Sie. Wir wissen, dass Diogenes die Diamanten des Museums gestohlen und Viola Maskelene entführt hat. Das belegen die Aussagen von Lieutenant D’Agosta, von dem Gemmologen Kaplan und von Maskelene selbst. Aber das macht ihn noch nicht zum Mörder. Dafür haben Sie nicht den geringsten Beweis. Andererseits haben Sie hervorragende Arbeit geleistet und nachgewiesen, dass Agent Pendergast diese Morde begangen hat. Lassen Sie los, Laura.«

»Ich habe genau die Beweise gefunden, die ich finden sollte. Und das ist das Problem. Ich war voreingenommen. Man hat den Verdacht gezielt auf Pendergast gelenkt.«

Singleton runzelte die Stirn. »Ich habe in meiner Laufbahn oft erlebt, dass man jemandem ein Verbrechen anhängen wollte. Aber kein Mensch hätte sich einen so komplexen und raffinierten Plan ausdenken können, wie das in diesem Fall erforderlich gewesen wäre.«

»D’Agosta hat mir die ganze Zeit gesagt, dass Diogenes Pendergast den Verdacht auf seinen Bruder lenkt. Als Pendergast in Italien war, um sich zu erholen, hat Diogenes alle not wendigen Beweise gesammelt – Blut, Haare, Fasern, alles. D’Agosta hat darauf beharrt, dass Diogenes noch am Leben ist; dass er Viola Maskelene entführt hat; dass er hinter dem Diamantenraub steckt. Er hatte recht, und das bringt mich auf den Gedanken, dass er auch in allen anderen Punkten recht haben könnte.«

»D’Agosta hat Riesenmist gebaut!«, polterte Singleton los. »Er hat mein – und Ihr – Vertrauen missbraucht. Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Disziplinarausschuss seine Entlassung aus dem Polizeidienst bestätigen wird. Als leuchtendes Vorbild ist er denkbar schlecht geeignet. Wollen Sie sich wirklich zum Ziel setzen, in seine Fußstapfen zu treten?«

»Ich will nur die Wahrheit aufdecken. Ich bin dafür verantwortlich, dass man Pendergast unter Anklage gestellt hat und ihm jetzt die Todesstrafe droht. Und ich bin die Einzige, die diesen Fehler wiedergutmachen kann.«

»Dazu müssten Sie beweisen können, dass ein anderer die Morde begangen hat. Haben Sie auch nur den geringsten Beweis gegen Diogenes?«

Hayward runzelte nachdenklich die Stirn. »Margo Green hat ihren Angreifer als …«

»Margo Green wurde in einem abgedunkelten Raum angegriffen. Man wird ihre Zeugenaussage in der Luft zerreißen.« Singleton zögerte. »Hören Sie, Laura«, sagte er mit sanfterer Stimme. »Wir beide können doch offen miteinander reden.

Ich weiß, was Sie durchmachen. Eine Beziehung zwischen Kollegen ist nie leicht. Sie zu beenden ist sogar noch schwerer.

Und da Vincent D’Agosta bis zum Hals in dieser Sache drinsteckt, wundert es mich nicht, dass Sie einen Anflug von …«

»Das mit D’Agosta und mir ist lange vorbei«, fiel Laura ihm ins Wort. »Mir gefällt diese Unterstellung nicht. Und das Gleiche gilt übrigens für Ihren Besuch hier.«

Singleton hob einen Papierstapel vom Besucherstuhl, packte ihn auf den Boden und setzte sich. Er senkte den Kopf, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und sah dann seufzend hoch.

»Laura«, sagte er, »Sie sind die jüngste Mordkommissarin in der Geschichte der New Yorker Polizei. Sie sind doppelt so gut wie jeder Mann in einer vergleichbaren Position. Commissioner Rocker betet Sie an. Der Bürgermeister betet Sie an. Sogar Ihre eigenen Mitarbeiter beten Sie an. Sie sind so gut, dass Sie eines Tages den Posten des Commissioners übernehmen werden. Ich bin nicht in irgendjemandes Auftrag hierhergekommen. Ich bin aus eigenem Antrieb hier. Weil ich Sie warnen möchte. Es ist zu spät, Laura. Das FBI hat Pendergast am Haken und treibt den Fall mit Feuereifer voran. Die sind überzeugt, dass er Decker umgebracht hat, und sie interessieren sich nicht für Ungereimtheiten. Alles, was Sie haben, Laura, ist ein Verdacht … und ein bloßer Verdacht ist es nicht wert, dass Sie dafür Ihre Karriere wegwerfen. Denn genau das wird dabei herauskommen, wenn Sie sich in dieser Sache mit dem FBI anlegen – und verlieren.«

Sie schaute ihn unverwandt an, atmete dann einmal tief durch.

»Sei’s drum.«