63
Von seinem Versteck an der Tür in dem schummrigen Gang beobachtete Smithback, wie die murmelnde, murrende Menge durch den Hauptkorridor zu den Aufzügen geleitet wurde. Er wartete ein paar Minuten, bis der letzte Besucher vorbeigegangen war, dann schlich er vorwärts, duckte sich unter der Samtkordel durch und stahl sich an der Wand entlang zu jener Ecke, von wo er in die Ägyptische Halle spähen konnte. Es war nicht schwierig, sich versteckt zu halten: Das einzige Licht spendeten die Kerzen, die immer noch in dem Saal flackerten, allerdings einen Großteil im Dunkel ließen.
Vom Schatten neben dem Eingang heraus beobachtete er eine kleine Gruppe, die aus der Seitentür zum Kontrollraum kam. Da war Manetti, er trug seinen üblichen hässlichen braunen Anzug und hatte sich die Haare beeindruckend über die Glatze gelegt. Die übrigen waren Museumswachleute, bis auf einen Mann, der Smithbacks Aufmerksamkeit besonders erregte. Er war großgewachsen, hatte braunes Haar und trug zur sportlichen Hose einen weißen Rollkragenpullover. Er hatte das Gesicht, das stark bandagiert war, abgewandt. Mehr noch als die äußere Erscheinung des Mannes fiel Smithback allerdings auf, wie er sich bewegte: geschmeidig und anmutig, fast wie eine Katze. Das erinnerte ihn an jemanden …
Jetzt schritt der Mann zu einem riesigen Silberkübel voller zerstoßenem Eis. Dutzende Champagnerflaschen standen darin, die Flaschenhälse zeigten nach oben.
»Helfen Sie mir, die Flaschen hier loszuwerden«, hörte Smithback den Mann zu Manetti sagen – und da erkannte er die honigsamtene Stimme.
Special Agent Pendergast. Nicht mehr im Gefängnis? Was macht der denn hier? Plötzlich verspürte Smithback einen Kitzel der Erregung und der Überraschung: Hier spazierte der Mann, den er von dem Vorwurf befreien wollte, mehrere Morde begangen zu haben, derart lässig herum, als gehörte ihm der Laden. Aber Smithback beschlich auch ein Gefühl der Beklemmung, denn seiner Erfahrung nach tauchte Pendergast nur dann auf, wenn die Kacke wirklich am Dampfen war.
Zwei der Wachleute liefen zum Eingang des Grabmals und versuchten die Tür mittels Stemmeisen und Vorschlaghammer aufzuhebeln, aber ohne Erfolg.
Smithback wurde immer mulmiger zumute. Sicher, im Grab saßen viele Besucher fest, aber wieso jetzt plötzlich dieser verzweifelte Versuch, sie da rauszuholen? Lief da drin irgendwas schief?
Das Blut gefror ihm in den Adern, als er analysierte: Das Grab bot die perfekte Gelegenheit für einen Terroranschlag. Dort drin befand sich eine geballte Ladung Geld, Macht und Einfluss; hohe Tiere aus der Politik, dazu Führungskräfte aus Wirtschaft, Wissenschaft und Jurisprudenz – ganz zu schweigen von sämtlichen Personen, die im Museum etwas zu sagen hatten.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Pendergast zu, der soeben die Champagnerflaschen aus dem Eis zog und in einen Abfalleimer warf. Im Nu hatte er alle Flaschen aus dem Silberkessel herausgeholt, so dass darin nur ein Haufen zerstoßenes und geschmolzenes Eis übrigblieb. Jetzt trat er an einen Büfetttisch und räumte ihn mit einer weit ausholenden Hand bewegung ab, so dass die Platten mit Austern, Bergen von Kaviar, Käse, Schinken und Brot auf den Boden knallten. Wie gelähmt beobachtete Smithback, wie ein enormer Briekäse wie ein weißes Rad durch die gesamte Halle rollte, bis er in einer dunklen Ecke klatschend umkippte.
Als Nächstes ging Pendergast von Tisch zu Tisch, sammelte dabei Dutzende von Teelichtern ein und stellte sie kreisförmig um den geräumten Bereich auf, damit er Licht hatte.
Plötzlich kam ein Mann in die Halle gelaufen. Er brachte eine Flasche, die Pendergast ihm sofort aus den Händen riss, sich anschaute und dann in den Berg aus zerstoßenem Eis steckte. Weitere Männer rannten herbei, der eine schob einen Karren, randvoll mit Flaschen und Laborausrüstung – Bechergläser und Messkolben mit nach oben enger werdendem Hals –, die ebenfalls ins Eis gesteckt wurden.
Pendergast richtete sich auf und krempelte, mit dem Rücken zu Smithbacks Versteck, die Ärmel auf. »Ich brauche einen Freiwilligen.«
»Was machen Sie da eigentlich?«, fragte Manetti.
»Ich stelle Nitroglyzerin her.«
Schweigen.
Manetti räusperte sich. »Das ist doch verrückt. Es muss eine bessere Möglichkeit geben, ins Grab zu gelangen, als sich den Weg freizubomben.«
»Keine Freiwilligen?«
»Ich fordere eine Spezialeinheit an«, sagte Manetti. »Wenn wir da einbrechen wollen, brauchen wir Profis. Wir können die Tür doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts in die Luft jagen.«
»Also gut«, sagte Pendergast. »Wie wär’s mit Ihnen, Mr. Smithback?«
Smithback, der im Dunkeln stand, schrak zusammen, zögerte, schaute sich um. »Wer, ich?«
»Sie sind der einzige Smithback hier.«
Smithback trat aus dem Schatten der Türöffnung und betrat die Halle; erst jetzt drehte sich Pendergast um und sah ihm in die Augen.
»Na ja, klar«, stammelte Smithback. »Ich helfe immer gern … Moment mal. Haben Sie Nitroglyzerin gesagt?«
»Ganz recht.«
»Angesichts meiner mangelnden Erfahrung mit der Synthese und der daraus resultierenden mangelnden Reinheit des Ergebnisses nehme ich an, dass unsere Chancen ein wenig besser als fünfzig Prozent stehen.«
»Chancen? In welcher Hinsicht?«
»Dass wir eine vorzeitige Detonation überleben.«
Smithback schluckte. »Sie müssen besorgt darüber sein, was gerade im Grab passiert.«
»Ich habe, ehrlich gesagt, schreckliche Angst, Mr. Smithback.«
»Meine Frau ist da drin.«
»Dann haben Sie ja einen besonderen Anreiz, mir zu helfen.« Smithback richtete sich auf. »Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.«
»Danke.« Pendergast wandte sich zu Manetti um. »Sorgen Sie dafür, dass alle die Halle verlassen und in Deckung gehen.«
»Ich fordere eine Spezialeinheit an, und ich empfehle dringend …«
Pendergasts Miene brachte den Sicherheitschef rasch zum Schweigen. Die Wachleute eilten aus der Halle, dicht gefolgt von Manetti mit seinem knisternden Funkgerät.
Pendergast blickte wieder zu Smithback. »Also, wenn Sie meine Anweisungen nun bitte peinlich genau befolgen, besteht die reelle Chance, dass wir es schaffen.«
Er machte sich wieder daran, die nötigen Utensilien aufzustellen, drehte die Flaschen im Eis, um sie schneller zu kühlen, nahm einen Messkolben, schob ihn tief in das zerstoßene Eis und steckte ein Glas-Thermometer in den Kolben. »Das Problem ist, Mr. Smithback, dass wir keine Zeit haben, das hier vorschriftsmäßig zu tun. Wir müssen die Chemikalien schnell mischen. Was eventuell zu einem nicht wünschenswerten Ergebnis führen könnte.«
»Hören Sie, was passiert eigentlich da drin?«
»Wir wollen uns bitte auf das vorliegende Problem konzentrieren.«
Smithback holte nochmals tief Luft und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Sämtliche Gedanken an die große Geschichte waren wie weggeblasen. Nora ist da drin, Nora ist da drin – der Satz hämmerte in seinem Kopf wie ein Trommelschlag.
»Reichen Sie mir die Flasche mit der Schwefelsäure, aber trocknen Sie sie vorher ab.«
Smithback fand die Flasche, zog sie aus dem Eis, wischte sie ab und reichte sie Pendergast, der den Inhalt ganz vorsichtig in den gekühlten Messkolben füllte. Ein unangenehmer, beißender Geruch stieg auf. Als Pendergast meinte, die erforderliche Menge in den Messkolben hineingegossen zu haben, trat er einen Schritt zurück und verschloss die Flasche. »Überprüfen Sie die Temperatur.«
Smithback spähte auf das Glas-Thermometer, zog es aus dem Messkolben und hielt es nah an eine der Kerzen, um es abzulesen.
»Unnötig zu erwähnen«, sagte Pendergast trocken, »dass Sie mit der Kerzenflamme äußerst vorsichtig umgehen müssen. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass diese Säuren menschliches Fleisch binnen Sekunden zersetzen.«
Smithbacks Hand zuckte zurück.
»Geben Sie mir die Salpetersäure. Dasselbe Prozedere bitte.« Smithback wischte die Flasche ab und reichte sie Pendergast. Pendergast schraubte den Verschluss auf, hielt die Flasche hoch und begutachtete das Etikett.
»Wenn ich das jetzt dazugieße, möchte ich, dass Sie die Lösung mit dem Thermometer umrühren und alle dreißig Sekunden die Temperatur messen.«
»Okay.«
Pendergast maß die Säure in einem Messzylinder ab, dann goss er sie in winzigen Portionen in den eisgekühlten Kolben, während Smithback umrührte.
»Minus zwölf Grad Celsius«, sagte Smithback.
Weiter höchst langsames Eingießen.
»Minus acht … minus vier … steigt schnell an … minus ein Grad …«
Die Mischung begann zu schäumen; Smithback spürte den Dampf auf seinem Gesicht und roch den widerwärtigen Gestank. Das Eis um den Kolben begann zu schmelzen.
»Atmen Sie die Dämpfe nicht ein«, sagte Pendergast und hielt mit dem Eingießen inne. »Und rühren Sie weiter.«
»Zwei Grad … zweieinhalb … ein Grad … minus eins …«
»Die Temperatur stabilisiert sich«, sagte Pendergast, dem die Erleichterung deutlich anzuhören war. Er fuhr fort, die Salpetersäure einzugießen, immer nur ein winziges bisschen. In der Stille meinte Smithback, etwas zu hören. Er horchte genau: Das war das Geräusch ferner Schreie, gedämpft zu einem leisen Flüstern. Dann ein Rumpeln aus der Richtung des Grabs, dann noch eines, das rasch zu einem dumpfen Donnern anschwoll. Mit einem Mal richtete er sich auf. »Herrgott, die Leute trommeln gegen die Tür des Grabmals!«
»Mr. Smithback! Lesen Sie weiter die Temperatur ab.«
»Okay. Minus ein Grad … minus zwei … minus drei.«
Das gedämpfte Gedonner setzte sich fort. Pendergast goss so langsam ein, dass Smithback meinte, den Verstand zu verlieren.
»Minus sechs.« Smithback versuchte sich zu konzentrieren.
»Minus acht. Bitte, beeilen Sie sich.« Smithback zitterte die Hand, und als er das nächste Mal das Thermometer herauszog, um es abzulesen, spritzte er ungeschickt ein paar Tropfen der Schwefel-Salpetersäure auf seinen Handrücken.
»Scheiße!«
»Weiter rühren, Mr. Smithback.«
Ihm war, als wäre seine Hand mit geschmolzenem Blei bespritzt worden; dann sah er Rauch von den schwarzen Flecken aufsteigen, die die Säure in seine Haut gebrannt hatte. Pendergast hatte aufgehört einzugießen. »Ich übernehme. Halten Sie Ihre Hand in das Eis.«
Smithback steckte seine Hand hinein, während sich Pendergast ein Päckchen Backpulver schnappte und am oberen Rand aufriss. »Zeigen Sie her.«
Smithback zog seine Hand aus dem Eis. Pendergast schüttete das Backpulver über die Verbrennungen, wobei er ohne Unterbrechung weiterrührte. »Die Säuren sind jetzt neutralisiert. Es wird eine hässliche Narbe zurückbleiben – mehr nicht. Bitte übernehmen sie wieder, während ich die nächste Beimengung vorbereite.«
»Okay.« Smithbacks Hand fühlte sich an, als stünde sie in Flammen, aber der Gedanke, dass Nora in dem Grab gefangen war, ließ den Schmerz bedeutungslos werden.
Pendergast holte noch eine Flasche aus dem Eis, wischte sie ab und tat ein wenig von dem Inhalt in einen kleinen Messbecher. Das Geschrei aus dem Grab klang inzwischen noch verzweifelter.
»Während ich gieße, drehen Sie den Kolben langsam, wie einen Betonmischer in seinem Eisbad; halten Sie ihn dabei schräg, und lesen Sie alle fünfzehn Sekunden die Temperatur ab. Nicht rühren – Sie dürfen nicht einmal mit dem Thermometer gegen das Glas kommen. Verstanden?«
»Ja.«
Quälend langsam goss Pendergast, während Smithback weiter drehte.
»Die Temperatur, Mr. Smithback?«
»Minus zwölf … minus sieben, sie schießt in die Höhe … plus zwei …« Dass Pendergast inzwischen Schweiß auf der Stirn stand, machte Smithback fast mehr Angst als alles andere.
»Immer noch zwei Grad … Beeilen Sie sich, bitte, um Gottes willen!«
»Immer weiter drehen«, sagte Pendergast, dessen ruhiger Tonfall in krassem Kontrast zu seiner feuchten Stirn stand.
»Minus vier …« Das Donnern in der Ferne ging unvermindert weiter. »Minus sieben … minus elf … minus zwölf …«
Wieder goss Pendergast eine kleine Menge in den Kolben, worauf die Temperatur erneut in die Höhe schoss. Sie warteten, es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor.
»Können Sie das jetzt nicht schnell alles zusammenmischen?«
»Wenn wir uns in die Luft jagen, gibt es für die Leute da drin keine Hoffnung mehr, Mr. Smithback.«
Smithback bezwang seine Ungeduld, las die Temperatur ab und drehte den Kolben, während Pendergast weitergoss, winzige Menge um winzige Menge, und zwischen dem Eingießen kleine Pausen einlegte. Endlich kippte er den Kolben.
»Erste Phase beendet. Nehmen Sie den Scheidetrichter und gießen Sie aus dem Krug dort etwas destilliertes Wasser hinein.«
Smithback nahm den Trichter in die Hand, der wie eine langgezogene Glühbirne aussah; unten besaß die Glasröhre einen Absperrhahn. Er zog den Glasstöpsel aus dem oberen Teil und füllte den Trichter mit Wasser aus einem Krug, der im Eis stand.
»Stecken Sie ihn aufrecht ins Eis, wenn ich bitten darf.« Smithback schob den Scheidetrichter ins Eis.
Pendergast nahm den Kolben in die Hand und goss mit unendlicher Sorgfalt den Inhalt in den Scheidetrichter. Unter Smithbacks Blicken vollzog Pendergast den letzten Schritt. Jetzt lag eine weiße Paste im Messkolben. Pendergast hielt den Kolben hoch, begutachtete ihn kurz, dann wandte er sich zu Smithback um. »Gehen wir.«
»Das war’s? Wir sind fertig?« Smithback hörte noch immer den Lärm aus dem Grabmal, der zu einem Crescendo angewachsen war, das von einem immer hysterischeren Kreischen untermalt wurde.
»Ja.«
»Also, beeilen wir uns, und sprengen wir die Tür auf!«
»Nein – die Tür ist zu dick. Selbst wenn wir es könnten, wir würden dadurch unzählige Menschenleben gefährden. Dem Lärm nach zu urteilen, haben sich die Leute unmittelbar hinter der Tür versammelt. Ich kenne einen besseren Zugang.«
»Wo ist der?«
»Folgen Sie mir.« Pendergast hatte sich bereits umgedreht und steuerte aus der Halle hinaus. Den Messbecher schützend im Arm haltend, verfiel er in einen katzenhaften Laufschritt.
»Draußen, in der U-Bahn-Station. Um dorthin zu kommen, müssen wir das Museum verlassen und uns den Weg durch die Schaulustigen vor dem Haus bahnen. Ihre Aufgabe, Mr. Smithback, ist es, dafür zu sorgen, dass ich heil durch die Menge komme.«