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Captain Hayward betrachtete die riesige Blutlache auf dem Linoleumboden des Büros. Alles war von den hektischen und letztendlich nutzlosen Bemühungen der Notfallsanitäter verschmiert, die ein Herz wieder in Gang zu bringen versucht hatten, das von dem schnurgeraden Verlauf einer 9-Millimeter-Kugel aus einer Browning Hi ausgelöscht worden war. Der Tatort wurde gerade sorgfältig untersucht, die forensischen Teams und eine Vielzahl spezialisierter Tatortermittler sortierten, stellten Schildchen auf und steckten Gegenstände in Tütchen. Sie ging wieder aus dem Büro hinaus und überließ es den Experten, in etwas, das eindeutig eine sinnlose, tragische Tat gewesen war, einen Sinn zu finden. Sie hatte noch etwas anderes zu tun: mit dem Opfer zu sprechen, bevor man es ins Krankenhaus brachte.

Sie fand Nora Kelly im Aufenthaltsraum für das Personal, zusammen mit Bill Smithback, ihrem Ehemann, dem Vorsitzenden der Abteilung für Ethnologie Hugo Menzies und mehreren Rettungssanitätern, Polizeibeamten und Museumswärtern. Die Sanitäter redeten gerade auf Kelly ein, sie solle ins Krankenhaus gehen, um sich durchchecken und behandeln zu lassen.

»Ich möchte, dass die Wachen und das Museumspersonal den Raum verlassen«, sagte Hayward. »Alle außer Dr. Kelly und Dr. Menzies.«

»Ich bleibe hier«, sagte Smithback. »Ich lasse meine Frau nicht allein.«

»Okay, Sie können auch bleiben«, sagte Hayward.

Einer der Sanitäter, der offensichtlich eine Weile mit Nora gestritten hatte, beugte sich vor, um es ein letztes Mal zu versuchen. »Hören Sie, Miss, Sie haben Hämatome am Hals und vielleicht auch eine Gehirnerschütterung. Die Auswirkungen können mit Verzögerung eintreten. Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen, damit Sie sich untersuchen lassen.«

»Nennen Sie mich nicht Miss. Ich habe einen Doktortitel.«

»Der Sanitäter hat recht«, meinte Smithback. »Du musst ins Krankenhaus, wenigstens um dich kurz untersuchen zu lassen«

»Kurz? Ich würde den ganzen Tag in der Aufnahme hocken. Du weißt doch, wie’s im St. Lukes zugeht.«

»Nora, wir kommen heute sehr gut ohne Sie zurecht«, sagte Menzies. »Sie haben einen schrecklichen Schock erlitten …«

»Bei allem Respekt, Hugo, Sie wissen genauso gut wie ich, dass jetzt, wo Dr. Wicherly … O Gott, das ist furchtbar!« Ihre Stimme versagte, und Laura Hayward nutzte die Gelegenheit, um sie anzusprechen.

»Ich weiß, Sie machen Schlimmes durch, Dr. Kelly, aber darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Nora wischte sich die Augen. »Nur zu.«

»Können Sie mir sagen, was zu dem tätlichen Angriff geführt hat?«

Nora holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Dann fing sie an, die Ereignisse zu schildern, die sich vor gerade einmal zehn Minuten in ihrem Büro zugetragen hatten, wie auch den Annäherungsversuch, den Wicherly einige Tage zuvor unternommen hatte. Hayward hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, wie auch ihr Mann, Smithback, dessen Gesicht dabei vor Wut dunkel anlief.

»Dreckskerl«, murmelte er.

Nora winkte ungeduldig ab. »Irgendwas ist heute mit Wicherly passiert. Er war nicht er selbst. Es war, als hätte er … als hätte er eine Art Anfall gehabt.«

»Warum waren Sie heute so früh im Museum?«, fragte Hayward.

»Ich hatte – habe – einen anstrengenden Tag vor mir.«

»Und Wicherly?«

»Soweit ich weiß, war er bereits seit drei Uhr früh hier.«

Hayward wunderte sich. »Warum?«

»Keine Ahnung.«

»Ist er in die Grabkammer gegangen?«

Es war Menzies, der darauf antwortete. »Ja. Die Security-Protokolle zeigen, dass er kurz nach drei die Grabkammer betreten hat, eine halbe Stunde darin verbracht hat und wieder gegangen ist. Wo er sich in der Zeit bis zur Attacke aufgehalten hat, wissen wir nicht. Ich habe überall nach ihm gesucht.«

»Ich nehme an, Sie haben ihn überprüft, bevor Sie ihn eingestellt haben. Ist er vorbestraft oder schon mal durch besondere Gewalttätigkeit aufgefallen?«

Menzies schüttelte den Kopf. »Absolut nichts dergleichen.«

Hayward sah sich um und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass an diesem Tag Visconti dem Museum zugeteilt worden war. Sie winkte ihn zu sich.

»Ich will, dass Sie die Aussagen von Dr. Menzies und von dem Wachmann aufnehmen, der Wicherly erschossen hat«, sagte sie. »Dr. Kelly können wir befragen, wenn sie aus dem Krankenhaus zurück ist.«

»Ausgeschlossen«, sagte Nora. »Ich bin bereit, meine Aussage hier und jetzt zu machen.«

Hayward ignorierte sie. »Wo ist der Pathologe?«

»Ist mit der Leiche ins Krankenhaus gefahren.«

»Funken Sie ihn an.«

Einen Augenblick später reichte Visconti ihr das Funkgerät. Dann ging er mit Menzies weg, um dessen Aussage aufzunehmen.

»Doktor?«, sagte Hayward ins Funkgerät. »Ich möchte, dass die Autopsie so bald wie möglich durchgeführt wird. Untersuchen Sie das Gehirn nach Läsionen des Schläfenlappens, vor allem im ventromedialen frontalen Kortex … Nein, ich bin kein Neurochirurg. Ich erkläre es Ihnen später.«

Sie unterbrach den Funkkontakt, dann schaute sie Nora fest in die Augen. »Sie gehen ins Krankenhaus. Jetzt.« Sie winkte den Sanitätern. »Helfen Sie ihr auf, und fahren Sie sie ins Krankenhaus.«

Dann drehte sie sich zu Smithback um. »Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen, auf dem Flur.«

»Aber ich will mit meiner Frau mitfahren …«

»Wir lassen Sie mit einem Streifenwagen ins Krankenhaus bringen, sobald wir beide uns unterhalten haben, mit Sirene, Blaulicht, dem kompletten Programm. Sie werden dort zur selben Zeit eintreffen wie der Rettungswagen.«

Hayward wechselte einige Worte mit Nora, streichelte ihr beruhigend über die Schulter und bedeutete dann Smithback mit einem Nicken, in den Flur hinauszukommen. Sie fanden eine ruhige Ecke.

»Wir haben uns seit längerem nicht mehr gesprochen«, sagte Hayward zu dem Journalisten. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir vielleicht etwas mitteilen könnten.«

Smithback schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, als er antwortete. »Ich habe die Geschichte, über die wir gesprochen haben, veröffentlicht. Zwei sogar. Sie haben keine Spuren aufgedeckt – zumindest keine, von der ich erfahren habe.«

Hayward nickte, wartete. Smithback sah sie kurz an, dann blickte er zur Seite. »Jede Spur, die ich verfolgt habe, verlief im Sande. Da habe ich … dem Haus einen Besuch abgestattet.«

»Dem Haus?«

»Sie wissen schon. Seinem Haus. Das, in dem er Viola Maskelene gefangen gehalten hat.«

»Sie haben sich da eingeschlichen? Ich wusste ja gar nicht, dass man die Ermittlungen schon abgeschlossen hat. Wann hat man denn die Versiegelung entfernt?«

Jetzt schien sich Smithback noch unbehaglicher zu fühlen.

»Man hatte sie nicht entfernt.«

»Wie bitte?« Hayward hob die Stimme. »Sie haben unbefugt einen versiegelten Tatort betreten?«

»So sehr war er nun auch nicht gesichert!«, sagte Smithback rasch. »Ich habe während der ganzen Zeit, als ich dort war, nur einen Polizisten gesehen.«

»Schauen Sie, Mr. Smithback, ich will nichts mehr davon hören. Ich kann und werde nicht außerhalb des Gesetzes operieren …«

»Aber dort, in dem Haus, bin ich draufgestoßen.«

Hayward sah ihn schweigend an.

»Na ja, ich kann’s zwar nicht beweisen. Es ist eigentlich nur so eine Theorie. Zuerst habe ich gedacht, ich hätte da was ganz Heißes, aber später … Wie auch immer, deshalb habe ich Sie in dieser Sache noch nicht angerufen.«

»Raus mit der Sprache.«

»In einem Kleiderschrank habe ich mehrere von Diogenes’ Jacketts gesehen.«

Hayward verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.

»Bei dreien handelt es sich um sehr teure Kaschmir- oder Kamelhaarjacketts, elegant, italienisches Design. Und dann waren da ein paar große, weite, kratzige Tweedsakkos, ebenfalls teuer, aber in einem ganz anderen Stil – Sie wissen schon, altmodischer englischer Professor.«

»Und?«

»Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber etwas an diesen Tweedsakkos – na ja, sie kamen mir beinahe wie eine Verkleidung vor. Fast so, als ob Diogenes …«

»… ein Alter Ego hätte.« Hayward merkte, worauf Smithback hinauswollte, und war plötzlich sehr interessiert.

»Genau. Und was für eine Art Alter Ego würde denn Tweedjacken tragen? Ein Professor.«

»Oder ein Kurator«, sagte Hayward.

»Genau. Und dann dämmerte mir, dass Diogenes wahrscheinlich als einer der Kuratoren hier am Museum auftritt. Ich meine, alle sagen doch, dass es sich bei dem Diamantenräuber um jemanden aus dem Museum gehandelt haben muss. Er hatte keinen Partner – vielleicht war Diogenes ja selber der Mann im Museum. Ich weiß, es klingt verrückt …« Smithback verstummte, er schien unsicher.

Hayward sah ihn forschend an. »Offen gestanden, finde ich das gar nicht verrückt.«

Smithback hielt inne und blickte sie überrascht an. »Sie finden das gar nicht verrückt?«

»Nein, überhaupt nicht. Es passt besser zu den Fakten als jede andere Theorie, die ich gehört habe. Ja, Diogenes ist einer der Kuratoren in diesem Museum.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte Diogenes die Diamanten denn stehlen … und dann zu Staub zertrümmern und per Post wieder hierherschicken?«

»Vielleicht hatte er ja irgendeine persönliche Rechnung mit dem Museum zu begleichen. Aber das wissen wir erst, wenn wir ihn gefasst haben. Gute Arbeit, Mr. Smithback. Es gibt da nur noch eine Sache.«

Smithback kniff die Augen zusammen. »Darf ich raten?«

»Ganz richtig. Dieses Gespräch hat niemals stattgefunden. Und solange ich Ihnen nichts anderes sage, dürfen Sie diese Spekulationen niemandem gegenüber erwähnen. Nicht einmal gegenüber Ihrer Frau. Und mit Sicherheit nicht gegenüber der New York Times. Haben wir uns da verstanden?« Smithback nickte seufzend.

»Gut. Jetzt muss ich Manetti suchen. Aber zuerst lassen Sie mich den versprochenen Streifenwagen anfordern, damit Sie endlich ins Krankenhaus kommen.« Sie lächelte. »Sie haben es sich verdient.«