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Als Captain Laura Hayward am Tatort eintraf, hatten die Tatortteams ihre Untersuchungen schon fast abgeschlossen. So war es ihr lieber. Sie hatte sich bei der Polizei von der Pike auf hochgearbeitet und wusste, dass die Spezialisten von der Spurensicherung und Kriminaltechnik gute Arbeit leisteten, auch ohne dass ihnen dabei eine leitende Ermittlungsbeamtin ständig über die Schulter schaute.

Am Eingang zur Ägyptischen Galerie, dort, wo man die Tatortabsperrungen errichtet hatte, ging sie durch einen Sicherheitskordon aus Polizisten und Museumswachleuten, die sich in gedämpftem Beerdigungston miteinander unterhielten. Sie entdeckte Jack Manetti, den Sicherheitschef des Museums, und bedeutete ihm mit einem Nicken, sie zu begleiten. Sie schritt an die Schwelle der Grabkammer, blieb stehen, atmete die schwere, staubige Luft ein und begann mit einer kurzen Bestandsaufnahme.

»Wer war gestern Nacht hier, Mr. Manetti?«

»Ich habe eine Liste mit den Namen aller zugangsberechtigten festen Mitarbeiter und Zeitarbeitskräfte. Es sind eine ganze Menge, aber sie haben offenbar alle vorschriftsmäßig ausgecheckt, bis auf zwei Techniker: das Opfer und der Mann, der noch vermisst wird: Jay Lipper.«

Hayward nickte und machte sich auf den Weg durch das Grab, wobei sie sich die Anordnung der Räume, Stufen und Korridore einprägte und ein dreidimensionales Bild davon in ihrem Kopf entwarf. Nach ein paar Minuten erreichte sie einen gro ßen Raum mit mehreren Säulen. Rasch nahm sie das Bild in sich auf: die mit Computerausrüstung beladenen Tische, die Pizzakartons und das Gewirr von Kabeln und Drähten. Alle Gegenstände waren mit gelben Beweissicherungsschildern versehen.

Ein Sergeant, zehn Jahre älter als sie, kam herüber, um sie zu begrüßen. Wenn sie sich recht erinnerte, hieß er Eddie Visconti. Er wirkte kompetent, hatte einen offenen, freundlichen Blick, war ordentlich gekleidet und benahm sich respektvoll, aber nicht unterwürfig. Sie wusste, dass einige einfache Polizisten es nur schwer ertragen konnten, einer Frau unterstellt zu sein, die halb so alt und doppelt so gebildet war wie sie. Visconti vermittelte den Eindruck, als könne er damit um gehen.

»Sie haben das Verbrechen als Erster aufgenommen, Sergeant?«

»Ja, Ma’am. Mein Partner und ich.«

»In Ordnung. Könnten Sie mir eine kurze Zusammenfassung geben?«

»Zwei Computertechniker haben Überstunden gemacht: Jay Lipper und Theodore DeMeo. Sie hatten schon die ganze Woche bis spät in die Nacht gearbeitet – sie standen unter Termindruck wegen der bevorstehenden Ausstellungseröffnung.« Sie wandte sich an Manetti. »Wann ist die?«

»Heute in acht Tagen.«

»Fahren Sie fort.«

»DeMeo ist gegen zwei losgegangen, um Pizza zu holen. Lipper blieb hier. Wir haben das bei der Pizzeria überprüft …«

»Sagen Sie mir nicht, wie Sie an Ihre Informationen gekommen sind, Sergeant. Halten Sie sich bitte einfach an den Tathergang.«

»Ja, Captain. DeMeo kehrte mit der Pizza und den Getränken zurück. Wir wissen nicht, ob Lipper schon gegangen war oder ob er in der Zwischenzeit angegriffen wurde, aber wir wissen, dass die beiden nicht mehr dazu gekommen sind, die Pizza zu essen.«

Hayward nickte.

»DeMeo hat die Pizzas und die Getränke auf dem Tisch abgestellt und ist in die Grabkammer gegangen. Wie es scheint, hat der Mörder ihm dort bereits aufgelauert.« Visconti ging auf die Grabkammer zu. Hayward folgte ihm.

»Waffe?«

»Bislang unbekannt. Was immer es war, es war nicht scharf. Die Schnittwunden und Verletzungen weisen stark ausgefranste Ränder auf.«

Sie betraten die Grabkammer. Mit einem Blick erfasste Hayward die Szene: die riesige Blutlache, den verschmierten Blutfleck auf dem Steinsarg, die in einen Nebenraum führende Blutspur und die hellgelben Etiketten der Spurensicherung, die alles bedeckten wie frisch gefallenes Herbstlaub. Sie sah sich gründlich im Raum um, machte nacheinander alle Blutspritzer ausfindig, prägte sich Form und Größe der Flecke ein.

»Eine Untersuchung der Blutspritzer deutet darauf hin, dass sich der Mörder von links mit erhobener Waffe auf das Opfer stürzte, es überwältigte und ihm dabei den Hals teilweise aufgeschlitzt und die Drosselvene durchtrennt hat. Auch als das Opfer schon tödlich verletzt am Boden lag, hat der Täter weiterhin wie wild auf es eingestochen. Das Opfer weist mehr als hundert Stiche in Hals, Kopf, Schultern, Unterleib, Beinen und Gesäß auf.«

»Gibt es Hinweise auf ein sexuelles Motiv?«

»Kein Sperma oder andere Körperflüssigkeiten. Geschlechtsorgane unberührt, Analabstrich negativ.«

»Fahren Sie fort.«

»Anscheinend hat der Täter das Brustbein des Opfers mit seiner Waffe halb durchschlagen und halb durchhackt. Dann hat er die inneren Organe herausgerissen, sie in den Kanopenraum getragen und in mehrere sehr große Gefäße geworfen.«

»Sagten Sie heraus gerissen?«

»Ja, die Eingeweide wurden nicht herausgeschnitten, sondern herausgerissen.«

Hayward ging zu der kleinen Kammer hinüber und sah hinein. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung rutschte auf Händen und Knien herum und fotografierte die Blutflecken auf dem Boden mit einer Makrolinse. An der Wand stand eine Reihe Kisten mit feuchtem Spurenmaterial, fertig zum Abtransport.

Sie sah sich um und versuchte, sich den Angriff zu vergegenwärtigen. Dass sie es mit einem geistesgestörten Täter, sehr wahrscheinlich einem Soziopathen, zu tun hatten, war ihr bereits klar.

»Nachdem er die Organe auseinandergeschnitten hatte«, fuhr Sergeant Visconti fort, »ist der Täter zur Leiche zurückgekehrt, hat sie zum Sarkophag geschleift und hineingehievt. Dann hat er die Grabkammer durch die Haupttür verlassen.«

»Er muss über und über mit Blut besudelt gewesen sein.«

»Ja. Und mit Hilfe eines Spürhundes konnten wir seine Fährte tatsächlich bis in den fünften Stock verfolgen.«

Hayward horchte auf. Das war ein Detail, von dem sie noch nichts gehört hatte. »Die Spur führt nicht aus dem Museum hinaus?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Man kann nie sicher sein. Aber wir haben noch etwas anderes im fünften Stock entdeckt. Einen Schuh, der dem vermissten Techniker, Lipper, gehört.«

»Tatsächlich? Glauben Sie, dass der Mörder ihn als Geisel genommen hat?«

Visconti verzog das Gesicht. »Möglich.«

»Oder seine Leiche getragen hat?«

»Das wäre auch möglich. Lipper ist ein schmächtiger Mann, kaum eins siebzig groß, siebenundsechzig Kilo schwer.«

Hayward zögerte, fragte sich kurz, was für ein Martyrium Lipper gerade durchstehen mochte – oder schon durchlaufen hatte. Dann wandte sie sich an Manetti.

»Ich will, dass das Museum geschlossen wird«, sagte sie.

»Wir öffnen in zehn Minuten. Wir reden hier von fast zweihunderttausend Quadratmetern Ausstellungsfläche, zweitausend Mitarbeitern – das kann nicht Ihr Ernst sein.« Der Sicherheitschef geriet ins Schwitzen.

»Wenn Sie ein Problem damit haben«, sagte Hayward mit leiser Stimme, »kann ich Commissioner Rocker anrufen. Er wird den Bürgermeister anrufen, und dann wird Ihnen der Beschluss auf offiziellem Wege zugestellt – zusammen mit dem ganzen üblichen Staub, der dabei aufgewirbelt wird.«

»Das wird nicht nötig sein, Captain. Ich werde die … vorübergehende … Schließung des Museums veranlassen.«

Sie sah sich um. »Wir sollten ein kriminalpsychologisches Täterprofil anfordern.«

»Schon erledigt«, sagte der Sergeant.

Hayward warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Wir hatten noch nicht miteinander zu tun, oder?«

»Nein, Ma’am.«

»Es ist eine Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«

»Vielen Dank.«

Sie wandte sich um und eilte zügigen Schrittes aus aus dem Grab. Die anderen folgten ihr. Sie durchquerte die Ägyptische Galerie, ging auf den Sicherheitskordon am gelben Absperrband zu und winkte Sergeant Visconti zu sich heran. »Sind die Spürhunde noch im Gebäude?«

»Ja.«

»Ich will, dass alle verfügbaren Leute – Polizisten und Museumswachleute – das Museum vom Keller bis zum Dach durchsuchen. Erste Priorität: Lipper finden, vorausgesetzt, er ist noch am Leben und wird als Geisel festgehalten. Zweite Priorität: den Mörder finden. Ich will beide, bevor dieser Tag zu Ende geht. Klar?«

»Ja, Captain.«

Sie hielt inne, als ob ihr plötzlich etwas eingefallen wäre. »Wer leitet die Grabausstellung?«

»Eine Kuratorin namens Nora Kelly«, antwortete Manetti.

»Stellen Sie mir bitte eine Verbindung zu ihr her.«

Haywards Aufmerksamkeit wurde von einer plötzlichen Unruhe im Kordon der Wachleute und Polizisten abgelenkt, wo sich eine laute, flehentliche Stimme erhoben hatte. Ein dünner Mann mit hängenden Schultern, der eine Busfahreruniform trug, riss sich von den Polizisten los und kam, mit vor Kummer verzerrtem Gesicht, schnurstracks auf Hayward zu.

»Sie!«, rief er. »Helfen Sie mir! Finden Sie meinen Sohn!«

»Und wer sind Sie, bitte?«

»Larry Lipper. Ich bin Larry Lipper. Der Vater von Jay Lipper. Er wird vermisst. Ein Killer läuft frei herum, und ich will, dass Sie ihn finden!« Der Mann brach in lautes Schluchzen aus. »Sie müssen ihn finden.«

Die Heftigkeit seines Kummers ließ die beiden Polizisten, die ihm nachgesetzt hatten, innehalten.

Hayward nahm seine Hand. »Genau das wollen wir gerade tun, Mr. Lipper.«

»Finden Sie ihn! Finden Sie ihn!«

Hayward sah sich um und entdeckte eine Beamtin, die sie kannte. »Sergeant Casimirovic?«

Die Frau trat vor.

Hayward deutete mit einer Kinnbewegung auf Lippers Vater und formte lautlos mit den Lippen: »Helfen Sie mir.«

Die Beamtin trat auf sie zu, legte den Arm um Larry Lipper und führte ihn behutsam von Hayward weg. »Sie kommen mit mir, Sir. Wir suchen uns einen ruhigen Platz, an dem wir uns hinsetzen und warten können.« Sergeant Casimirovic führte den Mann, der laut weinte, sich aber nicht wehrte, zurück durch die Menge.

Manetti, mit einem Funkgerät in der Hand, tauchte wieder an Haywards Seite auf. »Hier – Dr. Kelly ist dran.«

Sie nahm das Funkgerät, nickte ihm dankend zu. »Dr. Kelly? Hier spricht Captain Hayward von der New Yorker Polizei.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Stimme aus dem Handy.

»Der Kanopenraum im Grab des Senef. Wozu ist der da?«

»Dort wurden die mumifizierten Organe des Pharao aufbewahrt.«

»Könnten Sie das bitte etwas genauer erklären.«

»Zum Mumifizierungsvorgang gehört, dass man die inneren Organe des Pharao entfernt, um sie getrennt zu mumifizieren und in Kanopen zu lagern.«

»Die inneren Organe, sagen Sie?«

»Genau.«

»Vielen Dank.« Mit nachdenklicher Miene gab Hayward das Funkgerät Manetti zurück.