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Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte Nora sich zu konzentrieren. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht in den Brunnen stürzte – und dass es sich bei dem Gefühl zu fallen in Wirklichkeit um eine Sinnestäuschung handelte. Die holographischen Wespen hatten die Besucher auseinandergetrieben und eine Panik ausgelöst. Das fürchterlich tiefe Wummern wurde lauter, ein infernalisches Getrommel, die Stroboskoplichter blinkten heller und schmerzlicher als alle, die Nora je erlebt hatte. Das waren nicht jene Stroboskoplichter, die sie bei der Generalprobe gesehen hatte; diese hier blitzten derart heftig, dass sie einem tief ins Gehirn zu dringen schienen.

Nora blickte sich um. Das holographische Bild der Mumie war verschwunden, aber die Nebelmaschinen liefen auf Hochtouren; Nebelschwaden waberten aus dem Sarkophag und füllten die Grabkammer wie ansteigendes Wasser. Mit irrsinnigem Tempo zuckten die Stroboskoplichter in den aufsteigenden Nebel.

Viola, die neben ihr stand, stolperte; Nora streckte den Arm aus und fasste die Ägyptologin bei der Hand. »Alles in Ordnung?«

»Nein, überhaupt nicht. Zum Teufel noch mal, was geht hier eigentlich vor, Nora?«

»Ich … weiß es nicht. Irgendeine schreckliche Fehlfunktion.«

»Diese Insekten – das ist keine Fehlfunktion. Die sind programmiert worden. Und diese Lichtblitze …« Viola zuckte zusammen und wandte den Blick ab.

Inzwischen reichte der Nebel ihnen bis zur Taille und stieg immer noch. Als Nora hineinstarrte, fühlte sie eine unbeschreibliche Angst in sich aufwallen. Bald würde der Nebel den ganzen Raum erfüllen und sie alle verschlingen. Es kam ihr vor, als würden sie gleich in diesem Nebel und den Wogen der blitzenden Lichter ertrinken. Man konnte Rufe hören, vereinzelte Schreie; die Menge geriet in Panik.

»Wir müssen die Leute hier rausschaffen«, keuchte sie.

»Ja, sicher. Aber, Nora, ich kann kaum noch klar denken …« Nicht weit entfernt sah Nora einen wild gestikulierenden Mann. In der einen Hand hielt er eine Dienstmarke, die in den Stroboskoplichtern aufblitzte. »Bitte bleiben Sie ruhig!«, rief er. »Ich bin Kriminalbeamter der New Yorker Polizei. Wir werden Sie hier rausholen. Aber bewahren Sie Ruhe.«

Niemand schenkte ihm die geringste Beachtung.

Näher bei sich hörte Nora eine vertraute Stimme, die um Hilfe rief. Im Umdrehen sah sie den Bürgermeister – er stand ein, zwei Meter entfernt, hatte den Oberkörper gebeugt, tastete in den Nebelschwaden herum. »Meine Frau – sie ist gestürzt! Elizabeth, wo bist du?«

Plötzlich drängte die Menge enorm schnell nach hinten, Schreie durchdrangen den Lärm, und Nora spürte, wie sie gegen ihren Willen mitgerissen wurde. Der Kriminalpolizist wurde von der Menge zu Boden gerissen.

»Hilfe!«, rief der Bürgermeister.

Nora bemühte sich, sich einen Weg zu ihm zu bahnen, aber der enorme Druck der Menge trug sie weiter weg, und dann gingen die verzweifelten Rufe des Bürgermeisters in dem Donnern aus dem Soundsystem unter.

Ich muss etwas tun.

»Alle mal herhören!«, rief sie, so laut sie konnte. »Hören Sie mir zu! Alle!«

Die Rufe um sie herum ließen nach – also mussten zumindest einige Leute sie gehört haben.

»Wenn wir hier rauskommen wollen, müssen wir zusammenarbeiten. Haben Sie mich verstanden? Alle fassen sich bei der Hand und bewegen sich in Richtung Ausgang! Nicht laufen oder drängeln! Folgen Sie mir!«

Zu ihrer Verblüffung und Erleichterung hatte ihre kleine Ansprache offenbar eine beruhigende Wirkung gehabt. Die Schreie ließen ein wenig nach, und Nora spürte, wie Viola sie an der Hand fasste.

Der Nebel reichte ihr jetzt bis zur Brust. Gleich würden sie alle vollständig darin eingehüllt sein und nichts mehr sehen können.

»Sagen Sie es weiter! Halten Sie einander an der Hand! Folgen Sie mir!«

Nora und Viola bewegten sich vorwärts, führten die Menschenmenge an. Noch ein lautes Gebrumme, das eher einem Gefühl denn einem Geräusch ähnelte; wieder lief eine Woge durch die Menge, in der jetzt absolute Panik ausgebrochen war und völliges Chaos herrschte.

»Halten Sie einander an den Händen!«, rief sie.

Aber es war zu spät: Die Leute hatten den Verstand verloren. Nora spürte, wie sie mitgerissen, ihr die Luft buchstäblich aus der Lunge gepresst wurde.

»Aufhören zu schieben!«, rief sie, aber niemand hörte mehr zu. Viola, neben ihr, bat ebenfalls um Ruhe, doch auch ihre Worte gingen in der Panik der Menge und den tiefen Brummgeräuschen, die die Grabkammer erfüllten, unter. Die Stroboskoplichter blitzten weiter, wobei jeder Blitz eine kurze, blendende Lichtexplosion in dem Nebel auslöste. Und mit jedem Blitz fühlte sich Nora merkwürdiger, schwerer … fast betäubt. Das war nicht nur Angst, die sie da spürte, sondern etwas anderes. Was passierte mit ihrem Kopf?

Die Menge drängte auf die Halle der Streitwagen zu, eine gedankenlose, animalische Panik hatte sie ergriffen. Nora hielt sich mit aller Kraft an Violas Hand fest. Plötzlich mischte sich in die tiefen Brummgeräusche ein bislang unbekannter Laut – ein hoher, klagender Ton an der Schwelle der Hörbarkeit, er senkte und hob sich wie das Klagen einer Todesfee. Der rasiermesserscharfe Schrei verwirrte Noras Geist wie ein Schuss und steigerte das merkwürdige Gefühl der Fremdheit, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Ein weiteres Wogen der Menge führte dazu, dass sie Violas Hand verlor.

»Viola!«

Wenn Viola ihr geantwortet hatte, so war es in dem Tumult untergegangen.

Mit einem Mal ließ der Druck rings um Nora herum nach – als wäre plötzlich ein Korken entfernt worden. Sie keuchte, holte tief Luft, schüttelte den Kopf, um wieder klarer denken zu können. Der Nebel in der Grabkammer schien das Gegenstück zu einem anderen zu sein, einem, der sich in ihrem Kopf ausbreitete.

In der Düsternis vor Nora tauchte ein Pfeiler auf. Sie hielt sich daran fest, erkannte ein Flachrelief. Plötzlich wusste sie, wo sie sich befand. Direkt vor ihr lag die Tür zur Halle der Streitwagen. Wenn sie doch nur dort hineinkommen könnte, raus aus diesem infernalischen Nebel …

Sie drückte sich flach gegen die Wand, dann tastete sie sich daran entlang, hielt sich aus der panischen Menge heraus, bis sie die vor ihr liegende Tür erkennen konnte. Mehrere Leute zwängten sich dort hindurch, sie rangelten und drängelten, rissen einander an der Kleidung, bildeten einen verdammten Flaschenhals des Wahnsinns und der Panik. Wieder dieses grotesk-tiefe Dröhnen aus den versteckten Lautsprechern, dazu eine Steigerung des todesfeeartigen Wehklagens. Unter dieser Lärmattacke verspürte Nora einen jähen Schwindel, so als würde sie in eine Tiefe hinabgezogen; jene Art von furchtbarem Schwindel, den sie manchmal bekam, wenn sie hohes Fieber hatte. Sie taumelte und versuchte, sich auf den Beinen zu halten. Jetzt hinzufallen konnte das Ende bedeuten.

Sie hörte einen Ruf und erblickte durch den wirbelnden Nebel eine Frau auf dem Boden liegen. Instinktiv beugte sich Nora vor, packte die ausgestreckte Hand der Frau und zog sie hoch. Ihr Gesicht war blutverschmiert, ein Bein in groteskem Winkel abgeknickt und offenkundig gebrochen – aber sie lebte noch.

»Mein Bein«, stöhnte die Frau.

»Legen Sie den Arm um meine Schulter!«, schrie Nora.

Nora drängte sich in den Strom der Menschen, und so wurden sie beide durch den Durchgang in die Halle der Streitwagen mitgerissen. Ein fürchterlicher, kaum auszuhaltender Druck … und plötzlich hatten sie Platz um sich herum. Desorientiert schauten sich die Leute um, mit zerrissenen, blutverschmierten Kleidern, wimmernd, nach Hilfe kreischend.

Die Frau sackte gegen Noras Schulter wie ein nasser Sack. Hier blieben sie wenigstens von diesem mörderischen Trommelfeuer verschont …

Hatte sie gedacht. Aber merkwürdigerweise waren sie weder den Geräuschen noch dem Nebel oder den Stroboskoplichtern entronnen. Ungläubig blickte Nora sich um. Der Nebel stieg weiterhin schnell an, und noch mehr Lichter blitzten von der Decke – erbarmungslose, blendende Lichtexplosionen, von denen jede Noras Gedanken noch ein wenig mehr zu benebeln schien.

Viola hat recht, dachte sie verschwommen und verwirrt. Das hier war keine Fehlfunktion. Im Drehbuch waren keine Stroboskoplichter, keine Nebel in der Halle der Streitwagen vorgesehen; nur in der eigentlichen Grabkammer.

Das hier war geplant – ganz bewusst.

Nora griff sich mit einer Hand an den pochenden Kopf und drängte die Frau weiter, schleppte sie mühsam voran, auf den Zweiten Reiseabschnitt des Gottes und den dahinter liegenden Grabausgang zu. Doch wieder versperrte ein Menschengewühl die schmale Tür.

»Einer nach dem anderen!«, schrie Nora.

Direkt vor ihr wollte sich ein Mann gerade einen Weg durch die Menge bahnen. Mit ihrem freien Arm packte Nora ihn am Kragen seines Smokings, so dass er fast gestürzt wäre. Er blickte sich gehetzt um und wollte ihr einen Faustschlag verpassen.

»Schlampe!«, brüllte er. »Ich bring dich um!«

Nora wich entsetzt zurück; der Mann wandte sich ab und griff und riss brutal an den Leuten, die vor ihm waren. Aber es war nicht nur er: Ringsum schrien die Besucher, sie tobten vor Wut, rollten wild mit den Augen – es war das absolute Tollhaus, eine Höllenvision wie von Hieronymus Bosch.

Nora spürte das sogar in sich selbst: eine überwältigende Erregtheit; eine trübe, unkoordinierte Wut; ein Gefühl, als drohe der Untergang der Welt. Doch in Wirklichkeit war gar nichts passiert. Kein Brand, kein Terrorattentat – nichts, was diese Art von Massenhysterie gerechtfertigt hätte.

Nora sah den Museumsdirektor, Frederick Watson Collopy. Sein Gesicht war übel zugerichtet, und er humpelte schwankend auf den Ausgang zu. Als er Nora erblickte, hellte sich sein Gesicht auf. Ein hungriger Ausdruck trat in seine Augen, als er durch das Gedränge auf sie zutaumelte. »Nora! Helfen Sie mir!«

Er packte die verletzte Frau. Nora wollte ihm gerade für seine Hilfe danken, da stieß er sie grob zu Boden.

Nora sah ihn erschrocken an. »Was zum Teufel machen Sie da?« Sie trat vor, um der Frau zu helfen, aber Collopy packte sie mit unglaublicher Kraft und klammerte und krallte sich wie ein Ertrinkender an ihr fest. Sie versuchte sich ihm zu entwinden, aber in seiner rasenden Verzweiflung verfügte er über enorme Kräfte und schlang einen Arm um Noras Hals. »Helfen Sie mir!«, kreischte er wieder. »Ich kann nicht gehen!« Nora versetzte Collopy mit dem Ellbogen einen Schlag gegen den Solarplexus, und er taumelte zurück, klammerte sich aber immer noch an ihr fest.

Neben ihr bewegte sich etwas rasend schnell, und Nora sah Viola, die Collopy wütend gegen die Schienbeine trat. Der Museumsdirektor schrie auf, löste seinen Griff und brach, sich windend und üble Flüche ausstoßend, auf dem Boden zusammen. Nora packte Viola am Arm. Gemeinsam wichen sie vor der Menschenmenge zurück und taumelten auf die Rückwand der Halle der Streitwagen zu. Man hörte einen Knall und das Geräusch von splitterndem Glas: ein Schaukasten war umgestürzt.

»Mein Kopf, mein Kopf!«, stöhnte Viola und presste die Handflächen auf die Augen. »Ich kann nicht klar denken.«

»Es ist, als wären alle verrückt geworden.«

»Ich hab das Gefühl, ich werde verrückt.«

»Das kommt von den Stroboskoplichtern, glaube ich«, sagte Nora und hustete. »Und den Geräuschen … vielleicht auch irgendeiner Chemikalie im Nebel.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Plötzlich erschien über den beiden Frauen ein wirbelndes Bild – eine riesige, dreidimensionale, sich drehende Spirale. Dumpf ächzend begann die Spirale, sich zu drehen, ganz langsam … Und dann erscholl ein durchdringender Ton, und noch einer, eine Viertelnote höher, und noch einer, die dissonant pochten und schlugen, während die Spirale sich schneller zu drehen begann. Wie hypnotisiert starrte Nora darauf. Es handelte sich um eine holographische Projektion, es musste so sein. Und doch wirkte sie so real, dabei ähnelte sie nichts, was sie je gesehen hatte. Sie zog Nora vorwärts, saugte sie in sich hinein, zog sie hinunter in einen Mahlstrom des Wahnsinns. Nora musste alle Kräfte aufbieten, um sich von dem Anblick loszureißen. »Nicht hinsehen, Viola!«

Viola zitterte am ganzen Leib, richtete den Blick aber immer noch auf das wirbelnde Bild.

»Hören Sie auf!« Nora schlug ihr mit der freien Hand ins Gesicht.

Viola schüttelte nur den Kopf, um sich von der Wirkung des Schlages zu befreien; ihre Augen blickten völlig panisch, starr.

»Die Show!«, sagte Nora und schüttelte sie. »Die stellt irgendwas mit unseren Gedanken an!«

»Was?« Viola klang, als stände sie unter Drogen. Und als sie Nora anschaute, waren ihre Augen blutunterlaufen – genauso wie Wicherlys es gewesen waren.

»Diese Vorführung. Sie wirkt auf unser Bewusstsein. Schauen Sie nicht hin, hören Sie nicht hin!«

»Ich … verstehe nicht!« Viola verdrehte die Augen so sehr, dass man das Weiße darin sehen konnte.

»Runter auf den Boden! Halten Sie sich Augen und Ohren zu!«

Nora riss einen Streifen von ihrem Kleid ab und verband Viola die Augen. Gerade als sie dasselbe bei sich selbst tun wollte, erhaschte sie einen Blick auf einen Mann, der in einem Alkoven in der gegenüberliegenden Ecke stand; er trug einen weißen Frack und hatte eine Augenmaske angelegt. Völlig ruhig, mit gerecktem Kopf und vor der Brust verschränkten Armen stand er stocksteif da, als warte er auf irgendetwas. Menzies.

Eine weitere Sinnestäuschung?

»Finger in die Ohren!«, schrie Nora und kauerte sich neben Viola.

So hockten sie in der Ecke, die Augen fest geschlossen, die Ohren verstopft, und versuchten, sich den Eindrücken dieser grässlichen, grotesken Schau des Todes zu verschließen.