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Pendergast wartete, bis Jug als Letzter aus der Gang durch die schmale Öffnung im Zaun gestiegen und verschwunden war. Alle hatten sich irrsinnig schnell durch die Lücke gezwängt, und offenbar interessierte sie nicht im Geringsten, ob er ihnen folgte – so wie er es gehofft hatte. Sie würden getrennte Fluchtrouten einschlagen, die El Glinn hervorragend choreographiert hatte, um den größtmöglichen Aufruhr und die aufwendigste Reaktion seitens des Wachpersonals hervorzurufen.

Nachdem Jug verschwunden war, packte Pendergast den durchtrennten Zaun, der an seinen angestammten Platz zurückgeschnellt war, zog ihn so weit auseinander, wie er konnte, und streckte und bog das Metall, damit die Wärter, die sicher gleich hier eintrafen, die Bresche deutlich erkannten. Dann trat er einen Schritt zurück und warf einen Blick auf die digitale Armbanduhr an seinem Handgelenk, die ein sehr viel komplexeres Innenleben besaß, als das billige Plastikgehäuse vermuten ließ. Zu diesem Innenleben gehörte unter anderem eine Empfangseinheit, die Zeitsignale eines ACTS-Satelliten herunterlud, was für die bevorstehende Operation von entscheidender Bedeutung war. Pendergast wartete bis zum vereinbarten Zeitpunkt, dann drückte er einen Knopf an der Uhr, wodurch er einen Zeitgeber aktivierte. Auf dem Display begann der Countdown bei neunhundert Sekunden.

Pendergast trat einen Schritt zurück und wartete.

Bei achthundertsechsundvierzig Sekunden ertönte das jähe Aufheulen von Alarmsirenen. Er wandte sich um und ging durch den Innenhof bis zu jener Ecke des Areals, die der Tür am nächsten war und wo zwei schäbige Zementmauern rechtwinklig zusammentrafen. Dort griff er in eine Regenrinne und zog einen langen, dünnen, röhrenähnlichen Gegenstand hervor: dieselbe Röhre, die D’Agosta einige Tage zuvor dort hinterlegt hatte. Er löste die Verschlüsse an beiden Enden, rollte die Röhre wie eine Flagge auseinander und schüttelte sie einmal kräftig. Sofort sprang sie in die vorgesehene Form: zwei gleich große Stoffquadrate von etwa einem Meter Seitenlänge, die an der einen Kante so mittels Plastikstreben verbunden waren, dass sie eine V-Form bildeten. Die Quadrate waren mit einer ultradünnen Schicht aus extrem hellem, spiegelndem Mylar überzogen. Die gesamte Konstruktion hatte Glinn aus einem der handelsüblichen Lichtreflektoren gebastelt, wie sie zum Beispiel bei Außenwerbeaufnahmen verwendet wurden.

Jetzt zog sich Pendergast in die Ecke zurück, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Backsteinmauer und ging tief in die Hocke. Er stellte das Gerät vor sich auf, zog es nahe an sich heran und vergewisserte sich, dass die beiden äußeren Enden des V-förmigen Reflektors rechts und links von ihm fest an den Mauern anlagen und einen rechten Winkel bildeten.

Es handelte sich um die simple, aber extrem verfeinerte Anwendung einer der ältesten Bühnenillusionen überhaupt: die Verwendung zweier Spiegel, um eine Person optisch zum Verschwinden zu bringen. Diesen Zaubertrick kannte man schon in den 1860er Jahren, als Professor John Peppers »Proteus-Kabinett« und Oberst Stodares »Sphinx«-Show – bei denen eine Frau in einen Kasten gesteckt wurde, der, wie anschließend gezeigt wurde, leer war – am Broadway große Erfolge feierten. Aufgestellt in der Ecke des Gefängnishofes, erzielte der Reflektor die gleiche Wirkung: Streng genommen erschuf er einen Spiegelkasten, hinter dem sich Pendergast verstecken konnte. Die reflektierende Oberfläche spiegelte die Zementwände auf beiden Seiten wider und schuf auf diese Weise dort, wo die beiden Mauern zusammentrafen, die Illusion einer leeren Ecke. Nur wer tatsächlich herüberkam und einen Blick hineinwarf, würde die Täuschung entdecken. Und genau das sollte der nun einsetzende Tumult verhindern.

Bei achthunderteinundzwanzig hörte Pendergast, wie sich die elektronischen Riegel lösten; die Tür sprang auf, und aus der nahe gelegenen Wachstation 7 stürmten vier Wärter mit gezückten Elektroschockern in den Hof 4.

»Der Zaun ist aufgeschnitten!«, rief einer und zeigte auf das klaffende Loch auf der gegenüberliegenden Seite.

Während die vier über den Asphalt zu der Bresche spurteten, stand Pendergast auf, ließ die beiden Seiten des Mylar-Reflektors zusammenschnappen, rollte ihn wieder zu einer kompakten Röhre zusammen und steckte ihn in die Regenrinne zurück. Dann schlüpfte Pendergast durch die Tür ins Ge fängnisgebäude und sprintete in den nahe gelegenen Toiletten raum. Schnell betrat er die zweitletzte Kabine, stellte sich auf das Klobecken und hob die Schallschutzplatte darüber an. In einem kleinen Plastikbeutel, der mit Klebeband an der Ober seite der Platte befestigt war, fand er einen flachen 4-Gigabyte-Flash-Memory-Chip, eine Kreditkarte, eine Injektionsspritze, etwas Klebeband und eine winzige Ampulle mit brauner Flüssigkeit darin. Nachdem Pendergast diese Gegenstände eingesteckt hatte, verließ er den Toilettenraum und huschte über den Korridor zur Wachstation 7. Genauso wie Glinn vorhergesagt hatte: Von den fünf Wachleuten, die Dienst taten, hatten vier auf den Fluchtversuch reagiert; den fünften Wärter hatten sie, umgeben von einer Wand aus Videomonitoren, allein in der Überwachungszentrale zurückgelassen. Der Mann schrie Befehle in ein Mikrofon, schaltete einen Monitor nach dem an deren an und suchte hektisch nach den entsprungenen Häftlingen. Um mit diesem Massenausbruchsversuch fertig zu werden, hatte man alle verfüg baren Kräfte mobilisiert. Nach dem auf geregten Geplapper des Wärters zu urteilen, hatte man einen der Gefangenen schon wieder eingefangen.

Wie Glinn vorausgesehen hatte, stand die Tür zur Wachsta tion 7 nach dem eiligen Losstürmen der Wachleute offen. Pendergast schlich sich hinein, nahm den Wärter in den Schwitzkasten und verpasste ihm eine Spritze. Er sackte ohne ein Wort zusammen; Pendergast ließ ihn zu Boden gleiten, legte die Hand halb auf das Kommunikationsmikrofon des Wärters und schrie hinein: »Ich seh einen! Den schnapp ich mir!«

Rasch kleidete er den bewusstlosen Wärter aus, während geschriene Gegenanweisungen aus dem Lautsprecher schallten, die ihm befahlen, auf seiner Station zu bleiben. In weniger als einer Minute trug Pendergast Uniform und war ausgestattet mit Dienstmarke, Tränengas, Elektroschocker, Schlagstock, Funkgerät und Notrufeinheit. Er war zwar schlanker als der bewusstlose Wärter, aber nach einigen kleineren Anpassungen wirkte die Verkleidung ganz passabel.

Als Nächstes griff Pendergast hinter das große Regal mit den Rechnern, bis er den richtigen Port ausfindig gemacht hatte. Dann holte er den Flash-Drive aus dem Plastikbeutel und steckte ihn in die Schnittstelle. Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Wärter zu, knebelte ihn mit Klebeband, fesselte ihm die Hände hinter dem Rücken und verschnürte seine Beine in Höhe der Knie. Sodann schleppte er den bewusstlosen Mann zur nahe gelegenen Herrentoilette, setzte ihn auf ein Klobecken, band den Oberkörper mit Klebeband am Wasserkasten fest, damit er nicht vornüberfiel, verschloss die Kabine und kroch unter der Tür hindurch.

Pendergast trat vor einen der Spiegel, zog sich den Verband vom Gesicht und stopfte ihn in den Mülleimer. Dann köpfte er die Glasampulle über einem der Waschbecken und massierte sich das Tönungsmittel ins Haar, das sich dadurch von Hellblond zu einem unauffälligen Mittelbraun verfärbte. Nach Verlassen der Herrentoilette ging er über den Korridor und bog nach rechts ab. Kurz bevor er zur ersten Videokamera kam, blieb er stehen und blickte auf die Uhr: sechshundertsechzig Sekunden.

Er wartete, bis auf dem Display sechshundertvierzig erschien, dann ging er weiter, locker und gelassen, während er ständig mit einem Auge auf die Uhr sah. Er wusste, viele Blicke würden auf die Videomonitore gerichtet sein. Er trug zwar Wärteruniform, ging aber in die falsche Richtung – weg vom Ausbruchsversuch –, außerdem war sein Gesicht noch immer voller blauer Flecke und stark geschwollen. Man kannte ihn gut in Gebäude C. Jeder, der einen Blick von ihm erhaschte, würde ihn erkennen.

Pendergast wusste allerdings auch, dass dieses besondere Videobild zehn Sekunden lang – von sechshundertvierzig bis sechshundertdreißig – von dem Flash-Drive gesteuert werden würde, den er in den Sicherheitscomputer eingeschoben hatte. Der Flash-Drive würde vorübergehend zehn Sekunden lang das Videobild dieser Kamera speichern und es noch einmal abspielen. Dann würde das Bild zur nächsten Videokamera in der Reihe springen und den Vorgang wiederholen. Die Programmschleife würde nur einmal für jede Kamera durchlaufen: Pendergast verfügte somit über ein Zehn-Sekunden-Zeitfenster, nicht mehr, um durch jedes Blickfeld zu gehen. Sein Timing musste perfekt sein.

Ohne Zwischenfälle passierte er die Überwachungskamera und ging weiter über die langen, leeren Korridore von Ge bäude C – wegen des Fluchtversuchs waren die Wärter in andere Bereiche abgezogen worden. Manchmal ging er schneller, dann wieder langsamer, so dass er an jeder Überwachungskamera just in jenem Augenblick vorbeikam, in dem das Videosignal wiederholt wurde. Häufig quäkte sein Funkgerät. Einmal kam ihm eine kleine Rotte von Wärtern entgegengelaufen, rasch bückte er sich, um einen Schnürsenkel zuzubinden, und wandte dabei sein geschwollenes, zerschrammtes Gesicht ab. Sie rannten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Er kam am Speisesaal und der Küche von Gebäude C vorbei, aus denen es stark nach Desinfektionsmitteln roch. Wieder bog er um eine Ecke, dann um noch eine, bis er schließlich den letzten Abschnitt des Korridors vor dem Checkpoint und der Sicherheitstür zwischen dem Gebäudekomplex C des Bundesgefängnisses und dem Gebäudekomplex B des Staates New York erreichte.

In Gebäude C war Pendergasts Gesicht bekannt. In Gebäude B hingegen überhaupt nicht.

Er näherte sich der Sicherheitstür, wischte die Kreditkarte durch den Schlitz, legte zur Überprüfung des Fingerabdrucks die Hand auf den Berührungsbildschirm und wartete.

Sein Herz schlug etwas schneller als normal. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.

Bei exakt zweihundertneunzig Sekunden leuchtete das Lämpchen in der Sicherheitstür grün auf, und die Metallschlösser öffneten sich.

Pendergast betrat das Gebäude B und bog um die erste Ecke im Gang, dann blieb er in dem toten Winkel stehen, den die leichte Biegung erzeugte. Er streckte die Hand nach der tiefsten Schnittwunde auf seiner Wange aus und zog mit einem heftigen Ruck die Wundnaht heraus. Sowie das warme Blut aus der Wunde rann, verrieb er es über Gesicht, Hals und Hände. Anschließend zog er sein Hemd hoch und blickte kurz auf die Wundnaht an seiner Seite, dort, wo die Klinge eingedrungen war. Pendergast holte tief Luft. Dann riss er auch diese Wunde auf.

Die Wunden mussten so frisch wie möglich aussehen.

Bei einhundertundzehn Sekunden hörte Pendergast das Geräusch von sich rasch nähernden Schritten, und kurz darauf rannte, wie zuvor geplant, einer der entflohenen Häftlinge an ihm vorbei; Jug war brav der Fluchtroute gefolgt, die Glinn für ihn vorgesehen hatte. Natürlich würde er damit keinen Erfolg haben – man würde ihn am Ausgang zu Gebäude B schnappen, wenn nicht vorher; aber auch das war Teil des Plans. Pochos Gang diente lediglich als Ablenkungsmanöver. Keiner von ihnen würde entkommen.

Jug war kaum an ihm vorbeigelaufen, da schrie Pendergast auf, warf sich auf den Fußboden und drückte gleichzeitig den Alarmknopf an seiner Notrufeinheit:

»Beamter verletzt! Hilfe! Beamter verletzt!«