38
Mrs. Doris Green blieb an der offenen Tür zum Krankenzimmer stehen. Das nachmittägliche Licht schien durch die teilweise verdunkelten Fenster und warf friedliche Streifen aus Licht und Schatten auf das Bett ihrer Tochter. Ihr Blick schweifte über die medizinischen Geräte, die in regelmäßigem Rhythmus seufzten und piepten, und blieb schließlich auf dem Gesicht ihrer Tochter ruhen.
Es war blass und schmal, eine einzelne Locke ringelte sich über Stirn und Wange. Mrs. Green trat ans Bett und schob die Locke sanft an den richtigen Platz.
»Hallo, Margo«, sagte sie leise.
Die Maschinen seufzten und piepten weiter.
Sie setzte sich auf die Bettkante und fasste die Hand ihrer Tochter. Die Hand war kühl und federleicht. Sie drückte sie sanft.
»Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne scheint, und der Winter scheint endgültig vorbei zu sein. Im Garten kommen die ersten Krokusse heraus, stecken einfach ihre kleinen grünen Spitzen aus der Erde. Weißt du noch, als du ein kleines Mädchen warst, erst fünf Jahre alt – du konntest es nicht sein lassen, sie abzupflücken? Einmal hast du mir eine ganze Faust voll halbzerdrückter Blumen gebracht, quasi den Garten leer geräumt. Ich war damals so verärgert …«
Ihre Stimme stockte, und sie verstummte. Einen Augenblick später betrat die Krankenschwester den Raum. Ihre Unbekümmertheit brachte ein wenig Normalität in die dünne Atmosphäre aus bittersüßer Erinnerung.
»Wie geht es Ihnen, Mrs. Green?«, fragte sie und arrangierte ein paar Blumen in einer Vase.
»Ganz gut, danke, Jonetta.«
Die Krankenschwester überprüfte die medizinischen Apparate, machte sich rasch Notizen auf einem Klemmbrett. Sie stellte den Tropf ein, untersuchte den Tubus, dann hantierte sie da und dort im Zimmer, arrangierte einen weiteren Blumenstrauß und stellte einige der Genesungskarten neu hin, die auf dem Tisch und der Abstellplatte standen.
»Der Arzt müsste gleich kommen, Mrs. Green«, sagte sie lächelnd und ging in Richtung Tür.
»Danke.«
Abermals senkte sich Stille über den Raum. Doris Green strich ganz leicht über die Hand ihrer Tochter. Die Erinnerungen kehrten zurück, überfielen sie ohne erkennbare Ordnung: wie sie mit ihrer Tochter vom Steg am See ins Wasser gesprungen war, den Umschlag mit dem Ergebnis ihrer College-Aufnahmeprüfung geöffnet hatte; wie sie zu Erntedank den Truthahn gebraten hatten, wie sie Hand in Hand am Grab ihres Ehemannes standen …
Sie schluckte und streichelte weiter Margos Hand. Da spürte sie, dass jemand hinter ihr stand.
»Guten Tag, Mrs. Green.«
Sie dreht sich um. Vor ihr stand Dr. Winokur, ein dunkler, attraktiver Mann in blütenweißem Kittel, der Selbstvertrauen und Mitgefühl ausstrahlte. Doris Green fühlte, dass es sich nicht nur um seine Art handelte, beruhigend mit Kranken umzugehen: Dieser Arzt sorgte sich wirklich um seine Patienten. »Können wir uns vielleicht draußen im Wartezimmer unterhalten?«, fragte er.
»Ich würde lieber hierbleiben. Wenn Margo uns hören könn te – und wer weiß, vielleicht kann sie’s ja –, würde sie alles wissen wollen.«
»Also gut.« Er hielt inne, nahm auf dem Besucherstuhl Platz, legte die Hände auf die Knie. »Kurz gesagt: Wir haben einfach keine Diagnose. Wir haben alle Tests gemacht, die uns einfielen; wir haben die führenden Koma- und Neurologiespezialisten des Landes konsultiert, im Doctors’ Hospital in New York und im Mount Auburn Hospital in Boston – und wir haben einfach noch immer keinen Ansatzpunkt. Margo liegt in tiefem Koma, und wir wissen nicht, warum. Die gute Nachricht ist, es gibt keine Hinweise auf einen dauerhaften Gehirn schaden. Andererseits haben sich ihre Vitalfunktionen nicht gebessert, und einige lassen allmählich nach. Sie reagiert einfach nicht auf die normalen Behandlungen und Therapien. Ich könnte Ihnen ein Dutzend Theorien aufzählen, die wir aufgestellt haben, samt einem Dutzend Behandlungsmöglichkeiten, die wir ausprobiert haben, aber es läuft einfach leider alles darauf hinaus, dass sie bei ihr nicht anschlagen. Wir könnten Ihre Tochter ins Southern Westchester verlegen. Aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es gibt dort unten nichts, was wir nicht auch hier zur Verfügung haben, und es könnte sein, dass ihr die Verlegung nicht gut bekommt.«
»Ich würde es lieber sehen, dass sie hierbliebe.«
Winokur nickte. »Ich muss sagen, Mrs. Green, Sie sind der Patientin eine wundervolle Mutter. Ich weiß, dass das hier extrem schwierig für Sie ist.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich dachte schon, ich hätte sie verloren. Ich dachte, ich hätte sie beerdigt. Danach konnte nichts mehr schlimmer sein. Ich weiß, dass sie genesen wird – ich weiß es.«
Dr. Winokur lächelte matt. »Sie könnten recht haben. Die Medizin kennt nicht alle Antworten, vor allem nicht in einem Fall wie diesem. Ärzte sind fehlbarer und Krankheiten sehr viel komplexer, als den meisten Leuten klar ist. Margo ist nicht allein. Es gibt Tausende wie sie im ganzen Land, sehr krank und ohne Diagnose. Ich sage Ihnen das nicht, um Sie zu trösten, sondern um Ihnen alle Informationen zu geben, über die ich verfüge. Ich spüre, dass es Ihnen so am liebsten ist.«
»Ja, so ist es.« Sie blickte vom Arzt zu Margo und wieder zurück. »Komisch, ich bin nicht sehr religiös, aber ich bete täglich für sie.«
»Je länger ich Arzt bin, desto mehr glaube ich an die Heilkräfte des Gebets.« Er hielt inne. »Haben Sie irgendwelche Fragen? Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Sie zögerte. »Ja, es gibt da etwas. Ich habe einen Anruf von Hugo Menzies erhalten. Kennen Sie ihn?«
»Ja, natürlich – Margos Vorgesetzter im Museum. Er war doch bei ihr, als sie den Anfall erlitt?«
»Ganz recht. Er hat mich angerufen, um mir zu erzählen, was passiert ist, was er gesehen hat – er wusste, dass ich es wissen wollte.«
»Natürlich.«
»Haben Sie auch mit ihm gesprochen?«
»Ja, gewiss. Er war sehr freundlich – er ist mehr als einmal nach ihrem Rückfall kurz vorbeigekommen, um sich nach Margos Zustand zu erkundigen. Er scheint höchst besorgt.«
Mrs. Green lächelte schwach. »Einen so fürsorglichen Vorgesetzten zu haben ist ein Segen.«
»Ganz gewiss.« Dr. Winokur erhob sich vom Stuhl.
»Ich bleibe noch eine Weile bei ihr sitzen, Doktor, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Doris Green.