Kapitel 75
Die Nacht verging ohne weiteren Zwischenfall, nachdem man Slag abgeholt hatte.
Schließlich schlief Malden ein – gewissermaßen. Größtenteils trieb er auf dunklen Strömungen seiner eigenen Gedanken dahin. Manchmal nahmen diese Gedanken einen bizarren Charakter an, manchmal waren sie auch unverständlich, und er erkannte, dass er geträumt hatte. Aber es gab keine eindeutige Unterscheidung zwischen Wachen und Schlafen.
Immerhin kam er ein wenig zur Ruhe.
Cythera erwachte, als man ihnen das Frühstück brachte. Wieder blasses Brot, dieses Mal zusammen mit einem Krug Kleinbier, das entschieden nach Pilzen schmeckte. Malden überlegte sich sogar, wie die Elfen das Brot wohl ohne Weizenmehl buken. Vermutlich zermahlten sie Pilze.
Er fragte sich, was mit Slag geschehen war.
Und war sich ziemlich sicher, dass er es nicht genau wissen wollte.
Cythera sagte nur wenig an diesem Morgen und bewegte sich kaum. Meist saß sie da und beobachtete die Kerkerwächter, die Wiedergänger, die selbst reglos dastanden. Malden fragte sich, ob sie etwas Hexenhaftes im Schilde führte. Vielleicht übernahm sie mit der hypnotischen Kraft ihres Blickes die Herrschaft über die verwesenden Gehirne. Vielleicht ließ sie sie mit den uralten Beschwörungen einer im Nebel der Zeit verschollenen Sprache in Flammen aufgehen.
Vielleicht – aber nur vielleicht – fiel ihr eine Möglichkeit ein, wie sie aus dem Käfig freikamen. Vielleicht hatte sie einen zündenden Einfall. Sie konnten die Treppe hinaufschleichen und an den Wächtern vorbeischlüpfen, die man sicherlich dort aufgestellt hatte. Sie konnten sich einen Weg durch das Elfenlabyrinth bahnen, vorbei an den Dämonen und Wiedergängern. Vielleicht schafften sie es zurück zur Oberfläche. Ins echte Tageslicht, in die Freiheit.
Bei der Vorstellung trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Es drängte ihn hinaus. Es drängte ihn so sehr hinaus, dass er sich einbildete, jeden Augenblick werde Cythera das Wort ergreifen und ihm verraten, was ihr aufgefallen sei, welche Entdeckung sie gemacht habe, und welch rettende Lösung sie gefunden habe.
Er beobachtete ihre Miene aufmerksamer, als er jemals einen Wächter vor einem Lagerhaus beobachtet hatte. Mit größerer Aufmerksamkeit, als er sie jemals an einen fetten Geldbeutel verschwendet hatte, den er stehlen, oder ein Schloss, das er knacken wollte. Jedes Zucken ihrer Mundwinkel beobachtete er, verfolgte, wie ihr Blick von einem Wiedergänger zum anderen schweifte. Als sie zum Sprechen ansetzte, war er bereit. Er sah, wie ihre Zunge Worte formte, und nickte aufgeregt und voller Erwartung.
»Der da ist größer«, sagte sie.
Malden schüttelte seinen Tagtraum ab. »Wie bitte?«
»Der Linke ist größer. Sie sehen aus, als hätten sie genau die gleiche Größe. Aber da – sieh nur! Der Boden ist uneben, also ist der Linke tatsächlich um ein Haarbreit größer als der Rechte.«
Malden sank enttäuscht in sich zusammen, jeder einzelne seiner Muskeln verlor etwas mehr an Hoffnung. »Ich glaube, da könntest du recht haben«, pflichtete er ihr bei und beschloss, sich nicht auf sie zu verlassen, wenn es um wagemutige Fluchtpläne ging.
Er war so aufgewühlt, dass er aufsprang, als ein Elfensoldat die Treppe herunterkam, und die Gitterstäbe so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Aber vermutlich wird da nur die nächste Mahlzeit gebracht, sagte er sich. Allerdings sah der Soldat nicht so gelangweilt aus wie sein Vorgänger. Eine seiner Pupillen war größer als die andere, als hätte er verbotenerweise vom Sakrament des Hieromagus genascht.
»Bist du … Malton?«, fragte er.
»Nein.«
»Oh.« Verwirrt starrte der Soldat an den Gitterstäben vorbei, als erinnere er sich nicht mehr daran, warum er gekommen war. Dann stieg er die Treppe wieder hinauf.
»Warte!«, rief Malden. »Wir brauchen Decken. Es war letzte Nacht sehr kalt. Und wir können nicht allein von Pilzen leben. Wir brauchen bessere Kost.«
Der Soldat wandte sich langsam um. »Du«, sagte er.
Malden wartete. Schließlich verlor er die Geduld. »Ja?«, fragte er.
»Bist du Sir Croys Knappe?«
»Nein«, erwiderte Malden.
»Oh.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging der Soldat weiter.
Eine Stunde später kehrte er zurück. Diesmal stellte er keine Fragen, sondern riss die Käfigtür auf und packte Malden. Cythera schrie auf und flehte ihn an, Malden nicht mitzunehmen, aber der Elf beachtete sie nicht.
»Schon gut«, beruhigte Malden sie. »Dir wird nichts geschehen. Croy kommt. Croy rettet dich«, sagte er. Croy ist tot, dachte er. Wäre er noch am Leben, wäre er schon längst hier. »Cythera. Wenn ich sterbe – dann mit deinem Namen auf den Lippen.«
Sie schrie weiter, während man ihn die Stufen hinaufführte. Er hörte sie noch, als man ihn durch den Gang trieb.
Der Soldat zerrte Malden in einen Seitenkorridor, dann stieß er ihn durch eine Tür. Der Raum bot den größtmöglichen Gegensatz zu dem Kerker. Er barst vor Farben, Lauten und duftendem Räucherwerk, und die Veränderung war so überwältigend, dass Malden auf den dicken Teppich zu stürzen drohte und sich kaum mit den Händen abfangen konnte.
Benommen blickte er auf, um zu sehen, wo er eigentlich war. Die Wände waren mit Wandteppichen in jeder vorstellbaren Farbe bedeckt, die Möbel wiesen die verschiedensten Stilrichtungen und bizarrsten Formen auf. Musikanten hoch oben auf einer Chorempore spielten laute Melodien. In der Raummitte lag der Hieromagus auf einem hellgelben Diwan. Das formlose Gewand berührte den Boden.
»Eure Herrlichkeit strahlt das Licht der Seele aus, Hieromagus«, sagte der Soldat. »Das ist Malton, wie Ihr gewünscht habt.«
»Mein Name ist nicht Malton!«, begehrte der Dieb auf.
Der Hieromagus setzte sich langsam auf. Obwohl der Raum weit mehr als nur einen Blickfang bot, fasste der Elf doch ganz deutlich einen Ort jenseits dieser Umgebung ins Auge. »Er sagt die Wahrheit. Du hast den Falschen gebracht.«
Der Soldat fiel auf die Knie. »Meine Ehre, meine Treue, mein Leben, meine Liebe, alles gehört Euch. Er war der einzige Mann, der sich noch im Kerker aufhielt.«
»Dann muss er dienen«, sagte der Hieromagus. »Komm näher, Kind!«
»Ich bin kein Kind«, protestierte Malden.
»Für die Ältesten sind alle anderen Rassen Kinder«, erklärte der Hieromagus. Sein Lächeln verriet echte Wärme. »Tritt näher! Ich muss dafür sorgen, dass du nicht wegläufst. Sir Croy gab mir sein Wort, und das mag bei einem Edelmann genügen. Bei einem Untertan sind handfestere Maßnahmen nötig, fürchte ich.«
Malden merkte einen Augenblick zu spät, was der Hieromagus vorhatte. Eine unglaublich dünne Hand schnellte aus dem Gewand hervor und packte Malden am Knöchel.
Eine unsichtbare Schlange peitschte ihm um das Bein und schlug ihm die Zähne tief in die Wade. Die Muskeln zogen sich schmerzhaft zusammen und entspannten sich nicht mehr, wie sehr sich der Dieb auch abmühte.
Er wollte der bösen Berührung des Hieromagus entkommen. Es war nicht möglich. Sein Bein wurde in einem qualvollen Würgegriff gefangen gehalten. Er konnte kaum laufen, und er wusste, dass er nicht mehr rennen konnte, solange sich die Muskeln nicht wieder entspannten. Das war natürlich Absicht.
Malden war an die Leine gelegt worden.