Kapitel 100
Die Gefahr war nicht vorüber. Kurz nachdem die letzten Elfen durch den Tunnel an die frische Luft gelangt waren, brach die Gruft zusammen. Malden und Slag halfen verletzten Elfen aus der Höhlenöffnung, während Croy und Aethil die anderen anwiesen, so schnell wie möglich den Berg hinunterzulaufen.
Die Elfen wirkten völlig überwältigt, als sie hinaustraten, konnten einfach nicht begreifen, wo sie waren oder was das alles bedeuten sollte. Nach Maldens Dafürhalten rettete sie diese Verwirrung. Hätten sie innegehalten und mit klarem Kopf über das Geschehen nachgedacht, hätten sie womöglich allen Mut verloren und an Ort und Stelle verharrt.
Und das wäre ihr Untergang gewesen. Der ganze Berg erbebte. Aus der Höhe regneten Schnee und Felsen in die Tiefe. Die Bergspitze sah ganz anders aus, als Malden sie in Erinnerung hatte. Croy hatte sie als Wolkenklinge bezeichnet – jetzt erinnerte sie eher an ein Dutzend Klingen, die sich einander zuneigten. Unter seinen entsetzten Blicken brach eine der Klingen ab und zerschellte, als sie auf dem Hang auftraf.
»Das war der letzte Elf, mein Sohn!«, brüllte Slag über das ohrenbetäubende Grollen eines Berges hinweg, der in Stücke brach. »Jeder ist draußen! Und nun renn um dein beschissenes Leben!«
Das brauchte man Malden nicht zweimal zu sagen. Er jagte den Hang hinunter, sprang über Steine und rollte weiter, wenn der sich aufbäumende Erdboden ihn von den Füßen holte. Er schrie sein Entsetzen hinaus, blieb aber in Bewegung, rannte weiter nach unten, nur weg von den Felsen, die an ihm vorbeikugelten. Ein Stein von der Größe seiner Faust schoss ihm wie ein von einem Bogen abgeschossener Pfeil am Ohr vorbei. Staub füllte ihm Nase und Mund, bis er kaum noch atmen konnte.
Er hörte erst auf zu rennen, als es plötzlich wieder bergauf ging, und dann auch nur, weil er nicht mehr konnte. Er stieg weiter, so schnell es seine Muskeln zuließen, während die Wolkenklinge in einem gewaltigen Strudel aus Staub und Nebel verschwand und sich die Erde unter ihm aufbäumte. Er kletterte noch lange, nachdem seine Fingerspitzen bluteten, lange nachdem ihm die Schmerzen in der Seite, in den Lungen, in den Schnitten, Prellungen und Abschürfungen jeden Gedanken aus dem Kopf getilgt hatten.
Und dann stieg er endlich über einen letzten Felsen und stand vor einem offenen Festungstor, hinter dem Hunderte ebenmäßige Elfengesichter ihm entgegenblickten. Elfen und Croy und Cythera und Slag – und Herward.
Er hatte es zu der Festung geschafft, die der Einsiedler als sein Zuhause betrachtete.
Malden schleppte sich hinein. Hinter ihm schlug das Tor zu. Er warf sich zu Boden. Die Welt bewegte sich noch immer, wenn auch nicht mehr ganz so gewalttätig wie zuvor. Und lange Zeit tat er nichts, als zu atmen und in den Staub und den Rauch in der Luft zu starren. Endlich, nachdem das Grollen und Kreischen zersplitternden Felsens und heulender Staubstürme verebbt war, sah er wieder nach oben und entdeckte den blauen Himmel über sich.
Nichts als blauer Himmel, so weit das Auge reichte.
Schließlich vernahm er die Klagen der Elfen. Sie hatten alles verloren – ihre Heimat, ihre Vorfahren, ihren Hieromagus. Alles bis auf ihr Leben. Aber dann hörte er einen Menschen weinen und wandte den Kopf. Auf der anderen Seite des Festungshofes saß Cythera ganz allein und schluchzte.
Er ging auf sie zu. Er sagte kein Wort.
»Er wusste es«, sagte Cythera leise. »Der Hieromagus hat die Zukunft gesehen. Er sah das alles hier. In seinen letzten Augenblicken sprach sein Geist zu mir. Einen Augenblick lang blickte ich in sein Herz. Er wusste, dass das, was er sah, unabänderlich war. Für sein Volk gab es keine andere Rettung.«
»Was sagst du da?«
»Er war nicht unser Feind. Er war nie unser Feind gewesen. Alles, was er tat, sollte uns zu diesem Augenblick hinführen. Er war sehr verwirrt, Malden, hatte sich in der Zeit verirrt – so sehr verirrt, dass er uns nicht einfach sagen konnte, was er tat. Also hatte es den Anschein, als sei er unser Feind, aber … nein.«
»Warum hat er uns dann mit aller Kraft bekämpft?«
»Aber genau das ist es doch – das hat er gar nicht getan. Er half uns auf jede erdenkliche Weise«, erklärte Cythera. »Er verabreichte Aethil den Liebestrank – damit sie im richtigen Augenblick zuhörte, als Slag ihr befahl, wie eine echte Königin zu handeln. Es war sein Plan, uns aus dem Kerker zu entlassen und uns große Teile seines Reiches zu zeigen. Damit wir erfuhren, dass sein Volk nicht böse ist. Dass wir früher einmal zusammenlebten und die Möglichkeit haben, wieder eins zu werden.« Sie schüttelte den Kopf. »Selbst am Ende, dort in der Höhle – er wollte mir nicht wehtun, als er Flüche in mich ergoss. Malden! Er wusste, dass nur so der Tunnel zu öffnen war. Er wusste, dass allein ich dazu fähig war. Lautlos sprach er zu mir mit seinen letzten Gedanken, bevor er starb.«
»Und was sagte er?«
»Rette mein Volk. Zeig ihnen einen Wald und lass sie dort leben. Er wusste die ganze Zeit, wie es enden würde. Und er opferte alles, damit wir leben können.«
Croy nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf das Haar. »Er war ein echter Anführer, bereit, für seine Überzeugung zu sterben. Er war gar nicht böse. Genau wie Mörget, der starb, um den Dämon zu vernichten, gegen den er sich verschworen hatte. Sie waren beide Helden.«
»Wenn du es so sehen willst«, flüsterte Cythera.
Malden beobachtete, wie sich die beiden umarmten, und kämpfte gegen seine aufwallende Eifersucht an. Er zog sich in eine Ecke des Hofes zurück, wo er allein sein konnte. Dort holte er das Pergament aus seinem Gewand. Das er an Prestwickes Körper gefunden hatte.
Er wollte es entfalten, aber da stand Aethil mitten auf dem Hof. »Sir Croy!«, rief sie. »Wo ist Sir Croy?«
Bevor Croy antworten konnte, sprang Slag auf und winkte. »Hier drüben, meine Liebste!«, rief er zurück.
Aethil rannte auf den Zwerg zu und riss ihn in einer leidenschaftlichen Umarmung von den Füßen. »Sir Croy, Ihr seid in der Tat ein edler Ritter! Ihr habt mein Volk vor der völligen Vernichtung bewahrt. Die vor uns liegende Zeit wird voller Schwierigkeiten sein. Wir müssen wieder lernen, wie man über der Erde lebt. Aber wir werden leben. Dank Euch werden wir leben. Mein Liebster, ich kann Euch niemals entgelten, was Ihr alles getan habt. Bittet mich um eine Belohnung – was immer Ihr wollt. Liebend gern gewähre ich Euch die Freiheit, die Ihr Euch so ersehnt …«
Der echte Croy räusperte sich.
Malden sah, wie Slag rot anlief. »Aethil, meine … äh … liebe, süße, verständnisvolle Aethil«, sagte der Zwerg, »ziehen wir uns an ein ruhiges Plätzchen zurück!«
»O ja!«, rief Aethil.
»Um … zu reden. Ich muss Euch etwas sagen.«
Malden lächelte, aber zu einem lauten Lachen konnte er sich nicht durchringen.
Ihm gingen andere Gedanken durch den Kopf. Vorsichtig entfaltete er das Pergament und las die dort niedergeschriebenen Worte. Es waren nur wenige. Eine kurze Beschreibung von Maldens Aussehen und eine Liste der Tavernen, in die er in Ness einzukehren pflegte. Das war alles. Einzelheiten, die für einen Meuchler auf der Suche nach seinem Opfer nützlich waren. Es gab keinen ausdrücklichen Befehl zum Mord an dem Dieb, keine blumigen Verlautbarungen, warum er gerechtfertigt sei. Nicht die geringste Erklärung, warum Malden sterben sollte.
Es gab auch keine Unterschrift. Nur ein kleines Zeichen ganz unten auf der Seite, eine unbeholfene Zeichnung. Sie zeigte ein Herz, von einem Schlüssel durchbohrt.