Zwischenspiel
Der Wirt des Meilenhauses Zum Astrologen hatte immer geglaubt, mit einem erfolgreichen Leben gesegnet zu sein. Auf der Straße zwischen Rotwehr und Helstrow herrschte ständiger Handelsverkehr, also war er bei seinen Einnahmen nicht auf die Bauern der Gegend angewiesen. Er lebte so nahe an der Königsfestung, dass sein Haus nie von Banditen überfallen wurde. Als Sohn eines Bauern hatte man von ihm erwartet, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ein winziges Stück Land zu bearbeiten, bis er mit fünfundzwanzig Jahren gebeugt und verbraucht gewesen wäre. Umso glücklicher schätzte er sich, dass seine Hauptbeschäftigung darin bestand, den Bediensteten Befehle zu erteilen und gelegentlich einen Becher Ale zu füllen.
Aber an dem Abend, als der Priester kam, hätte der Wirt nur zu gern den Platz mit dem niedrigsten Diener in Skrae getauscht.
»Ich bin gekommen, um meinen Besitz abzuholen. Sobald ich ihn habe, gehe ich in Frieden«, sagte der Priester. Er sah nicht nach viel aus, der kleine Mann aus Ness in der ungefärbten Priesterkutte. Das Messer in seiner Hand war winzig, die Klinge kaum länger als ein Kinderfinger.
Als er eingetreten war und den Wirt angesprochen hatte, war dieser gerade fleißig mit dem Zählen der Münzen in seiner Kasse beschäftigt gewesen. Diese Tätigkeit gehörte nicht zu seinen starken Seiten, und er hatte den Faden verloren. Vermutlich war er daher etwas unfreundlich gewesen und hatte den Priester angeschnauzt, sich einen Platz zu suchen und das Maul zu halten.
Noch hatte er nicht geahnt, wie schnell sich Umstände verändern konnten, als das Messer durch die Luft sauste und das Gesicht des Priesters zu einer Fratze aus dem Höllenpfuhl des Blutgottes wurde.
Der Wirt starrte auf die Wunde an seinem Arm. Sie war bestenfalls einen Zoll lang, blutete aber heftig. Der Wirt drückte einen Wischlappen fest auf die Wunde, aber der Stoff war innerhalb kürzester Zeit durchgeblutet. »Ich sage Euch, mein Freund, ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht! Ich habe noch nie etwas von diesem Grafschaftsvogt gehört. Bitte, lasst mich den Schnitt verbinden …«
Der Priester hob nie die Stimme. Er wurde nie zornig. Aber das Messer in seiner Hand schnitt durch die Luft. »Du lügst mich an. Der Vogt schrieb mir erst vor wenigen Tagen. Die Botschaft wurde in diesem Haus abgeschickt. Er behauptete, meinen Besitz zu haben, und ich könne ihn einsammeln, wann es mir recht sei. Nun, hier bin ich. Wo ist der Grafschaftsvogt? Wo finde ich das, was mir gehört? Solltest du mich noch einmal anlügen, schlitze ich dir den anderen Arm auf.«
Der Wirt warf einen Blick auf seine Gäste, ungefähr ein Dutzend Händler und Handwerker aller möglichen Gewerbe sowie drei Zwerge aus Rotwehr. Sie waren von ihren Tischen aufgesprungen, hatten Essen und Trinken stehen gelassen und sich an die rauchgeschwärzten Wände gedrängt. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten.
»Da war ein Mann … vor ein, zwei Tagen, richtig«, stammelte der Wirt. Ihm war leicht schwindelig, vermutlich durch die Angst. Er trat einen Schritt zurück, fort von dem Priester, und wäre beinahe in einer Pfütze seines eigenen Blutes ausgerutscht, die sich auf dem Boden gebildet hatte. »Das könnte ein Vogt gewesen sein. Er sah jedenfalls nach einem Gesetzeshüter aus.«
»Gut«, sagte der Priester. »Das ist doch schon ein guter Anfang.«
»Aber dann habe ich ihn für einen Betrüger gehalten. Er hat sich verdrückt, ohne die Rechnung zu bezahlen.«
»Er war Beamter der Krone. Also. Was meinen Besitz angeht …«
»Darüber weiß ich doch nichts«, beteuerte der Wirt. »Bitte!«, flehte er, als sich das Messer wieder näherte. »Bitte, was auch immer es war, was auch immer es wert war, nehmt es aus meiner Kasse, ich gebe es Euch freudig. Nur – nehmt das Messer weg. Ich bitte Euch!«
»Dein ganzes Geld würde nicht decken, was man mir schuldet«, sagte der Priester. »Ich bin wegen eines Mannes gekommen, eines Leibeigenen, der mir weggelaufen ist. Sein Name ist Malden. Was ist mit ihm?«
»Malton, sagt Ihr? Ich bin nicht so gut mit Namen …«
»Ein schlanker Bursche, nicht gerade groß. Trägt einen grünen Umhang. Er ist mit einigen Gefährten unterwegs – Komplizen, die ihm bei der Flucht halfen.«
»O ja, o ja!« Der Wirt lachte beinahe vor Erleichterung. »Die waren hier, am gleichen Abend wie Euer Vogt. Er war mit einem Ehrenmann, einer Dame und einem Zwerg unterwegs. Und da war noch so ein großer Hurensohn, der das halbe Gesicht rot bemalt hatte. Den ließen sie im Stall schlafen, wie es sich für einen Wilden gehört. Die haben ihre Rechnung aber bezahlt und waren am nächsten Tag schon vor der Morgendämmerung weg. Bitte – nicht!«
Das Messer befand sich keinen Zoll vom Gesicht des Wirtes entfernt. Es schien in der Luft zu schweben, als wäre es nicht mit der Hand des Priesters verbunden. Auf der blutig verschmierten Klinge sah der Mann sein eigenes Gesicht gespiegelt.
»Nur noch eine Frage, dann bedanke ich mich und gehe.«
»Alles! Ich sage Euch alles!« Ob es stimmte oder nicht, beschloss der Wirt. Das war kein Mann, der die Antwort Ich weiß es nicht gelten ließ.
»In welche Richtung sind sie aufgebrochen?«
Der Wirt stieß mächtig auf, als ihn eine Woge der Übelkeit durchfuhr. Er hatte keine Ahnung, was er erwidern sollte. Er hatte die Abreise nicht beobachtet – er hatte noch fest geschlafen und wusste es auch nur, weil es ihm der Stallbursche erzählt hatte. Er musste erahnen, was der Priester hören wollte. Und wenn er sich irrte …
»Sie wandten sich nach Osten«, sagte jemand.
Das Messer verschwand. Der Wirt sank rückwärts gegen die Theke, unfähig, noch einen Augenblick länger auf den Beinen zu stehen. Der Priester hatte bereits den Raum durchquert und beugte sich über einen Mann, der wie ein wandernder Barbier-Feldscher aussah. »Sie reisten nach Osten. Ich kam aus dieser Richtung und begegnete ihnen, als sie gerade die Straße verließen. Es sah aus, als wollten sie in Richtung Fluss, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wozu das gut sein sollte.«
»Das war sehr hilfreich«, sagte der Priester. Das Messer verschwand, und er nahm sich die Zeit, alle Gäste nacheinander anzulächeln. »Ich entschuldige mich für die Störung. Bitte, genießt eure Mahlzeiten. Ich halte euch nicht länger auf.«
Und damit verschwand er in der Nacht. Einfach so.
Der Barbier-Feldscher eilte zu dem Wirt, der mit dem Gesicht auf der Theke lag, die Beine im Hocker verfangen. Der Heiler zog mit entschlossenen Bewegungen das Spültuch von der Wunde und untersuchte den Schnitt. »Bei den acht Ellbogen des Blutgottes«, fluchte er.
»Es ist nur … ein Kratzer«, beharrte der Wirt.
»Er hat die Hauptader deines Armes getroffen, ohne sie vorher auch nur abzuklopfen«, murmelte der Feldscher. Er griff nach einem Beutel am Gürtel und zog einen schmutzigen Verbandstreifen hervor. »Gewöhnlich benötige ich drei Versuche, um diese Ader zu finden, und das auch nur, wenn mein Patient festgehalten wird und ich mir Zeit lassen kann. Wer war dieser Mann? Wo wurde er ausgebildet? Vielleicht auf der Universität von Vijn? Von dort kommen gute Ärzte, heißt es.« Der Barbier-Feldscher arbeitete schnell, um den Blutfluss aufzuhalten.
»Überlebe ich das?«, fragte der Wirt.
»Oh, sicher«, erwiderte der Feldscher. »Iss viel Fisch aus einem kalten Fluss und erleichtere dich dreimal täglich mit einem Brechmittel, das ich dir gebe, dann stehst du bald wieder auf den Füßen. Natürlich könnte sich die Wunde entzünden, dann verlierst du den Arm. Aber du wirst auf jeden Fall überleben.«
»Entschuldigung«, sagte jemand, aber der Wirt konnte ihn nicht sehen. »Entschuldigung. He! Hier unten, verfluchte Pest!«
Trotz seiner Schwäche beugte sich der Wirt über die Theke und spähte nach unten, wo einer der Zwerge zu ihm aufblickte. Der Wirt hatte sich an Zwerge gewöhnt, da es in Rotwehr so viele von ihnen gab und sie oft geschäftlich nach Helstrow reisen mussten. Er hatte die Gruppe zuvor kaum beachtet, allerdings war eine Frau dabei. So tief im Süden begegnete man nur selten weiblichen Zwergen.
Aber der, der ihn ansprach, war ein Mann, ein winziger Bursche mit buschigem Bart und einem Haarschopf wie ein Schrubber, den man schon vor Jahren auf den Müll hätte werfen sollen. Seine Augen waren knopfartig und dunkel, leuchteten aber voller Tatkraft.
»Du hast etwas von einem wilden Mann mit einem rot bemalten Gesicht erzählt.«
Der Wirt runzelte die Stirn. Nicht schon wieder, dachte er. Nicht noch mehr Fragen! »Das trifft zu«, erwiderte er. »Und wenn du nichts dagegen hättest …«
»Er reiste mit den anderen? Bist du sicher? Denk gut darüber nach, Mensch! Es ist wichtig.«
»Ja doch, du blöder kleiner Kerl«, knurrte der Wirt. Funken tanzten ihm vor den Augen. Das war kein gutes Zeichen, oder?
»Sie fuhren nach Osten? Auf den Wald und die dahinterliegenden Berge zu? Und das war nicht gelogen, nur um dieses Arschloch von der Spur abzubringen? Entschuldigung! Ich muss das wissen!«
Der Barbier-Feldscher antwortete für den Wirt, dem es schwerfiel, ruhig zu atmen. »Ja, ja, genau wie ich dem Schlächter sagte. Nach Osten!«
Der Zwerg nickte und rannte zu seinen Gefährten zurück. Eine Weile flüsterten sie aufgeregt miteinander, dann flitzten sie in Richtung der Ställe aus der Gaststube hinaus. Der Wirt sah sie nie wieder.
Wenigstens hatten sie im Voraus bezahlt.