Kapitel 67
Malden und Cythera nahmen je einen von Slags Armen, aber die Beine musste der Zwerg selbst bewegen. Er stolperte vorwärts, offensichtlich allein von seinem Instinkt angetrieben. Er verdrehte die Augen, bis sein Blick schließlich auf Maldens Gesicht fiel. »Mein Junge«, stöhnte er. »Mein Junge. Bist du’s?«
Malden hob den Kopf des Zwerges an, damit er besser sehen konnte. »Ich bin’s tatsächlich«, versicherte er ihm. Sie bewegten sich noch immer durch den roh behauenen Tunnel, vor sich und hinter sich die Elfenkrieger. »Fühlst du dich besser?«
»Ich glaube, ich habe gekotzt«, sagte Slag.
»Und nicht zu knapp«, erwiderte Malden.
»Oh. Das erklärt alles.«
»Was denn?«
»Warum mein Bart wie ein Arschloch riecht.«
Unvermittelt fiel sein Kopf nach vorn, und er bewegte die Beine nicht mehr. Sein Körper wurde schwer, und er rutschte Cythera einfach aus den Händen, obwohl sie noch fester zugriff, um ihn aufrecht zu halten. Malden wollte ihn hochziehen, aber er war völlig erschlafft. Er würde keinen weiteren Schritt mehr tun. Malden sah Cythera an und schüttelte den Kopf.
»Hallo!«, wandte sich Cythera an den Elfen vor ihr. »Unser Freund kann nicht weiter. Er ist krank und muss sich ausruhen.«
Der Elf wandte den Kopf und musterte sie von Kopf bis Fuß, als begutachte er ein Pferd, das er zu kaufen beabsichtigte. »Trag ihn! Oder ich durchbohre ihn auf der Stelle, und wir lassen ihn zum Sterben liegen.«
Cythera starrte den Elfen böse an. »Deine Befehle lauteten, uns lebend abzuliefern.«
Der Elf hob die Schultern. »Befehle! Ehrlich gesagt bekommen wir so viele davon. Und manchmal widersprechen sie einander. Bis wir zu Hause sind, hat der Hieromagus bestimmt vergessen, warum er den Befehl erteilte. Hebt ihn auf und bewegt euch, und sprecht mich nicht wieder an.«
Der Elf wandte sich ab, und Malden wusste, dass jede weitere Diskussion sinnlos war. In seinem Leben hatte er zu viele Stadtwächter, Weibel und Soldaten kennengelernt – und war meistens der Gegenstand ihres Zornes gewesen –, um den Ausdruck im Gesicht des Elfen misszuverstehen. Man hatte ihm eine Aufgabe übertragen, eine Aufgabe, die ihm nicht behagte und die er so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Slag war lediglich Teil dieser Aufgabe, bestenfalls ein Hindernis. Jede geringfügige Störung, alles, was für den Elfen mehr Arbeit bedeutete, würde ausreichen, dass er Gewalt anwendete. »Sie mögen ja keine Menschen sein, aber manche Verhaltensweisen sind offenbar allgemeingültig«, flüsterte Malden Cythera zu.
»Bitte, Malden – ich kann ihn nicht allein halten!«, keuchte Cythera und gab sich größte Mühe, damit Slag nicht zu Boden glitt.
Malden bückte sich seufzend. Er schob die Hände unter Slags schweißfeuchte Achseln – auch wenn sein verletzter Arm protestierte – und hob den Zwerg an, während Cythera die Fußgelenke umfasste. Sie musste rückwärts gehen und Malden dabei ansehen.
»Pass auf deinen Kopf auf!«, warnte er sie. »Dort vorn wird die Decke niedriger.«
Sie zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein, bevor sie sich an einem Vorsprung anstieß.
»Ich habe versucht, einen Ausweg zu finden«, sagte sie mit leiser Stimme. »Mir fällt nichts Brauchbares ein. Ich könnte mich unsichtbar machen und fliehen. Ich könnte losgehen und mich nach … Hilfe umsehen. Aber ich fürchte, man würde an euch beiden Vergeltung üben.«
Vermutlich hatte sie recht. »Sie haben Befehl, uns lebend abzuliefern, aber offensichtlich ist es ihnen gleichgültig, in welchem Zustand wir uns bei unserer Ankunft befinden. Wir brauchen bloß zu atmen. Ich fürchte, uns bleibt keine andere Möglichkeit als abzuwarten, wohin sie uns bringen.«
Cythera nickte. Sie schürzte die Lippen und betrachtete Slag. »Wird er wieder gesund? Du hast offenbar Balint eingeholt. Hat sie dir verraten, welches Gift sie verwendet hat, oder dir das Gegenmittel ausgehändigt?«
Malden schüttelte den Kopf. »Sie war nicht sonderlich mitteilsam. Sie schlug mich mit einem Schraubenschlüssel.«
»Nein!«
Malden grinste, auch wenn ihm dabei der Kiefer wehtat. »An ihrer Stelle hätte ich das Gleiche getan. Sie sagte bloß, dass das Gegenmittel ihn am Leben erhält, er aber eine Weile krank sein wird.«
»Du hast ihn gerettet«, sagte sie und schenkte ihm ein schmales Lächeln. Dann errötete sie und sah weg.
»Dafür bin ich dankbar«, meinte er. »Ich habe dich noch einmal lächeln gesehen. Natürlich hätte ich andere Umstände vorgezogen. Aber als ich zur Halle zurückkehrte und ihr beide weg wart – nun … Ich wusste nicht, was ich denken sollte.«
Sie runzelte die Stirn. »Sie kamen ohne Vorwarnung. Sie stießen die Tür auf und waren plötzlich überall. Ich konnte nicht gegen alle auf einmal kämpfen, und Slag war kaum bei Bewusstsein. Also ergab ich mich.«
Malden nickte verständnisvoll. »Kaum einer von uns hat wohl erwartet, hier unten auf lebende Elfen zu treffen.«
»Es blieb keine Zeit, dir eine Botschaft oder eine Warnung zu hinterlassen. Sie fragten mich, wo die anderen steckten, und ich sagte, wir beide seien allein und hätten uns verirrt. Dann wachte Slag kurz auf und fragte, ob du schon zurückgekehrt seist.« Sie schloss erschöpft die Augen.
»Pass auf deinen Kopf auf!«, mahnte er.
»Ich glaube, sie haben uns seit unserer Ankunft beobachtet. Sie wissen von Mör… Ich meine, sie wissen, dass es noch mehr von uns gibt. Ich glaube nicht, dass sie die anderen schon gefasst haben. Ich redete auf sie ein, um sie zu überzeugen, dass du aus dem Vincularium geflohen seist, aber …«
»Einige Worte habe ich mitbekommen. Du nanntest mich einen Schurken.«
»Ich habe versucht, sie von deiner Spur abzulenken, Malden.« Ihre Miene veränderte sich. »Was ist mit Balint und ihrer Mannschaft? Sind sie entkommen? Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sie uns helfen, aber …«
»Vermutlich sind sie tot«, fiel Malden ihr ins Wort. Genau wusste er es nicht. Aber er hatte die Schreie gehört und hoffte um ihretwillen, dass seine Vermutung zutraf. Diese Laute waren keine Überraschungsschreie anlässlich einer Gefangennahme gewesen. Es waren Schmerzensschreie gewesen. »Obwohl ich nicht die geringste Vorstellung habe, warum sie getötet wurden und wir nicht.«
Cythera betrachtete Slags Füße. »Sie haben Befehl, jeden Zwerg zu töten, der ihnen begegnet«, flüsterte sie. »Ich glaube, sie machen die Zwerge eher für ihre Gefangenschaft in dieser Unterwelt verantwortlich als uns.«
Malden runzelte die Stirn. »Es waren ja auch die Zwerge, die sie verrieten und hier einsperrten. Aber dann … warum ist Slag …«
Sie warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ein Elf zuhörte. »Ich habe ihnen weisgemacht, er sei ein Mensch«, flüsterte sie dann.
»Slag? Ein Mensch?«
»Ein sehr kleiner Mensch. Schließlich trägt er Menschenkleidung. Und keiner der Elfen hat je zuvor einen Menschen oder einen Zwerg gesehen. Sie stellten viele Fragen, aber ich konnte sie überzeugen.«
»Und damit sein Leben retten. Ich wünschte, Balint und ihre Freunde wären so geistesgegenwärtig gewesen. Nein, sie werden uns nicht helfen, jetzt nicht mehr.«
»Also bleibt uns nur eine Hoffnung …«
Er wusste, dass sie Croys Namen nicht laut aussprechen wollte. Sie wollte den Elfen nicht noch mehr verraten. »Vorausgesetzt, er lebt noch. Und dass er seine Freiheit bewahren kann, obwohl jeder Elf im Vincularium nach ihm Ausschau hält.«
»Ihr da!«, sagte der Elf hinter Malden und stach ihm mit der Speerspitze in den Rücken. Nicht hart genug, um die Haut zu durchbohren. »Was hast du da gesagt? Euer Dialekt klingt so verquer, dass ich euch nicht verstehe. Plant ihr irgendetwas? Menschen sollen äußerst hinterhältig sein. Was plant ihr?«
»Wir überlegen, wer von euch der Hübscheste ist«, erwiderte Malden.
Der Elf stieß ihn wieder mit dem Speer, diesmal aber härter.
»Tatsächlich haben wir uns über euren Dialekt gewundert«, sagte Cythera.
»Dialekt? Ich spreche doch gar keinen Dialekt«, erwiderte der Soldat. »Ich spreche wie ein Elf.« Er schien über keine große Vorstellungskraft zu verfügen.
»Natürlich, natürlich«, beschwichtigte ihn Cythera. »Vergib mir! Eigentlich wollte ich bloß fragen, wie es kommt, dass ihr unsere Sprache sprecht, die Sprache von Skrae.«
Der Elf blickte verdutzt drein. Danach zu urteilen, wie er die Augen zusammenkniff und die Stirn in Falten legte, zeigte er diesen Gesichtsausdruck häufiger. »Ich spreche doch kein Skraelisch. Ich spreche die Sprache der Vorfahren.«
»Das erklärt natürlich alles«, sagte Malden. Er zog eine Grimasse, die nur Cythera sehen konnte, verdrehte die Augen und beulte mit der Zunge die Wange aus. Beinahe hätte sie gelacht. Sie hob die Hand an den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken.
Dabei ließ sie einen von Slags Knöcheln fallen. Der Zwerg bewegte sich in Maldens Armen. Eines seiner Augen öffnete sich einen Spaltbreit. »Mein Junge, bin ich tot?«
»Ich habe dir ein Gegenmittel beschafft, alter Mann«, sagte Malden.
»Ah«, machte Slag, dessen Kinn sich im Rhythmus mit Maldens Schritten bewegte. »Und dann … die Elfen …«
»Die haben uns gefangen genommen. Aber sie haben den Befehl, uns nicht zu töten. Den Grund dafür kennen wir aber nicht.«
»Das ist doch klar«, brabbelte der Zwerg mit einem schläfrigen Lächeln. »Sie haben uns nicht getötet, weil … weil …«
»Weil?«, fragte Cythera.
»… weil sie uns zuerst foltern wollen. Das ist ein uralter Elfenbrauch.«