Kapitel 71

Nachdem sich der Hieromagus zurückgezogen hatte, schenkten die Feiernden im Großen Elfensaal den Menschen und dem Zwerg keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Sie wichen kaum zur Seite, als die Soldaten ihre Gefangenen durch den Raum stießen. »Sie scheinen von unserem Anblick gar nicht so überrascht zu sein. Man sollte glauben, sie hätten uns erwartet«, flüsterte Malden Cythera ins Ohr.

Eine mit Edelsteinen behängte Elfendame in einem lila Gewand ging nicht aus dem Weg. Die Soldaten baten sie, Platz zu machen, aber sie lachte bloß über einen Scherz ihres Gefährten, eines Kriegers mit einem Silberreif um die Stirn.

»Es hat vielmehr den Anschein, als würden sie uns bereits kennen, und zwar schon so lange, dass wir jeden Wert als Kuriosität verloren haben«, erwiderte Cythera, während sie darauf warteten, dass die Soldaten einen Weg um die Dame herum fanden. »Aber vielleicht täuschen sie diese Gleichgültigkeit bloß vor. Hast du auch das Gefühl, dass dich jemand beobachtet?«

Was dies betraf, besaß Malden den Instinkt eines Diebes, aber er hatte sich nicht davon leiten lassen, bis Cythera ihn darauf ansprach. Auf einmal spürte er, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten und sich der Rücken spannte. »Du könntest recht haben.« Er unternahm einen kleinen Versuch. Er wandte den Kopf und versuchte den Blick des ersten Elfen einzufangen, dessen er ansichtig wurde – den eines der Jongleure. Aber der Artist wandte sich just in diesem Moment ab, um einem Krieger in Rüstung gegenüber eine freche Bemerkung zu machen. »Ah«, machte Malden. Dann musterte er einen Elfen, der seine Laute stimmte. Der Kopf des Musikers senkte sich, als er die Saiten untersuchte. »Ja, ja, ich sehe es. Sie beobachten uns, alle, und zwar ganz genau. Aber sie tun so, als wären wir überhaupt nicht anwesend. Was immer das bedeuten soll …«

»Was soll es schon groß bedeuten, verfluchte Pest?«, murmelte Slag. »Ich wette, in Kürze zerren sie uns unter die Folter. Meinst du nicht, wir müssten uns inzwischen um Wichtigeres kümmern?«

Für eine weitere Unterhaltung blieb keine Zeit mehr. Malden erhielt einen Stoß in den Rücken, und die Soldaten führten die Gefangenen aus dem Saal hinaus in einen Korridor. Die Wände des Ganges waren genauso unbearbeitet wie in dem gewundenen Tunnel zuvor, aber wenigstens war die Decke so hoch, dass sich niemand ducken musste.

In unregelmäßigen Abständen gab es Alkoven und Türen. Vor den meisten standen Elfen und sahen zu, wie die Menschen vorbeigeführt wurden. Zumindest diese Elfen trugen nicht die übertriebene Gleichgültigkeit ihrer Artgenossen im Saal zur Schau – sie starrten die Fremden offen an und flüsterten aufgeregt miteinander. Sie waren auch weitaus schlechter gekleidet und trugen die gleiche geflickte Kleidung wie die Dienerin des Hieromagus. Es handelte sich offenkundig um Sklaven oder Bauern oder wer immer in der Elfengesellschaft in Leibeigenschaft gehalten wurde. Allerdings waren diese Geschöpfe ebenso bezaubernd anzusehen wie die anderen. Sie waren von strahlender, durchsichtiger Schönheit, ihre Haut leuchtete, ihre Haut war hell und makellos. Die Gliedmaßen passten sich vollendet der schlanken Gestalt an. Malden lächelte einer hochgewachsenen Elfenfrau mit Perlen im Haar zu. Erschrocken duckte sie sich zurück in ihren Alkoven, als wären Dämonen hinter ihr her.

»Die sind alle genauso verrückt wie ihr Hieromagus«, meinte Malden mit einem Seufzer. »Ich begreife, dass man für einen Einbruch zu Tode gefoltert wird, so ist die Gesellschaft nun einmal geregelt. Aber wenn wir getötet werden, weil unsere Kleider die falsche Farbe haben, oder weil wir unwissentlich die unsichtbare Große Schildkröte beleidigt haben, die sie anbeten, dann …«

»Ich glaube, du irrst dich, was ihn betrifft«, sagte Cythera. »Den Hieromagus.«

»Ach ja?«

»Er ist nicht verrückt. Zumindest … glaube ich das nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Sakrament, das er nahm, hast du es gesehen? Es war ein Stück von einem Totenruderpilz. Eine sehr seltene Pilzart und ausgesprochen gefährlich. Man verwendet sie manchmal zur Hexerei. Meine Mutter hält sie allerdings für eine Krücke für jene, denen es an der Zweiten Sicht mangelt. Einige als Tee aufgekochte Späne gewähren Visionen von anderen Zeiten. Lebhafte, erschreckende Visionen – mächtige Ausblicke auf andere Zeitalter. Diese Visionen sind auch keine Phantome, sondern die wahren Erinnerungen derjenigen, die damals lebten. Es ist eine verführerische Droge. Nimmt man zu viel davon, kann deine … nun, nennen wir es Seele … sich verirren und den Rückweg in den Körper nicht wieder finden. Wenn der Hieromagus einen ganzen Hut isst, noch dazu regelmäßig, dann kann er sich in den Zeiten doch gar nicht mehr zurechtfinden. Hast du seine Augen gesehen?«

»Seine Pupillen waren von unterschiedlicher Größe.«

»Ja. Ich glaube, dass jedes Auge in andere Zeiten blickt. Falls ich recht habe, erklärt das auch die Feiernden.«

»Eine ungewöhnliche Gesellschaft«, meinte Malden.

»Alle waren nur seinetwegen da. Sie spielten eine Szene, bildeten einen breiten Strom sinnlicher Genüsse, die ihn verlocken sollen, in der Nähe des eigenen Körpers zu bleiben.«

»Dann wollen wir hoffen, dass sie in ihrem Bemühen nicht nachlassen«, sagte Malden. »Zumindest bis er sich wieder erinnert, was er mit uns anstellen wollte.«

Slag schnaubte. »Wohl eher, bis er es wieder vergessen hat. So lange müssen wir nicht darüber nachgrübeln, was unser Schicksal ist.«

Bei diesen Worten krampften sich Maldens Eingeweide zusammen.

Der Seitengang endete in einem weiteren Saal, der allerdings bedeutend kleiner war. Ein schmales Fenster öffnete sich zum Zentralschacht hinaus. Wendeltreppen im Boden führten zu der Ebene darunter.

»Ich sage den Kerkerwärtern Bescheid«, verkündete einer der Elfensoldaten und stieg mit der Fackel in der Hand nach unten.

Und so blieben sie eine Weile allein. Es war eine willkommene Atempause. Malden hätte sich gern auf den staubigen Boden gesetzt, um sich auszuruhen, aber er wollte die Soldaten nicht verärgern.

Slag stolperte auf das Fenster zu. Einer der Elfen zog das Schwert, aber Slag blieb nicht stehen. Als er die Öffnung erreicht hatte, legte er die Hände auf den Sims, und einen Moment lang glaubte Malden, er wolle in die Höhe klettern und hinausspringen. Stattdessen blickte der Zwerg bloß nach oben, und sein ganzer Körper erbebte vor Schluchzern.

Malden wurde klar, dass Slag zum ersten Mal die künstliche Sonne des Vinculariums sah. Er trat an seine Seite. »Die erwachte vor einer Weile zum Leben, es war wie ein Sonnenaufgang.«

»Sie ist so verdammt schön«, murmelte Slag.

»Haben deine Vorfahren sie gebaut?«

»Die Elfen jedenfalls nicht, so sicher, wie man scheißt. Sieh dir die Rohre an, die oben herauskommen! Die müssen entflammbares Gas zu der Lampe transportieren … Unter dem Erdboden gibt es überall Taschen, die mit diesem Dunst gefüllt sind. Gräbt man eine Mine, sind sie eine Gefahr – aber die Erbauer dieses Ortes müssen eine Möglichkeit gefunden haben, das Zeug zu nutzen. Ich fasse es nicht.«

Der Dieb lächelte. »Seltsam. Ich hatte immer den Eindruck, dass Zwerge die Sonne hassen und ihr Licht meiden. Ist es da nicht merkwürdig, dass sie sich unter der Erde eine eigene Sonne geschaffen haben?«

»Wirklich merkwürdig«, stimmte Slag ihm zu. »Echtes Sonnenlicht verbrennt mir die Haut und blendet mich. Aber das Licht hier unten hat eine andere Farbe, und irgendwie macht das den Unterschied aus. Es ist richtig angenehm, unverwandt hineinzusehen. Ha! Thur-Karas. Das Haus der langen Schatten. Jetzt verstehe ich.« Er blickte zu Malden auf. »Lass mich einen Moment in Ruhe, mein Junge, ja? Diese Sonne möchte ich eine Weile ganz für mich betrachten. Wahrscheinlich bekomme ich keine zweite Gelegenheit dazu.«

Malden klopfte dem Zwerg auf die Schulter und kehrte zu Cythera zurück. Die Elfen beäugten ihn misstrauisch, hielten ihn aber nicht auf. Als Cythera die Finger in Maldens Hand schob, stießen sich zwei der Wächter an und tauschten ein anzügliches Grinsen.

Malden beachtete sie nicht und widmete seine Aufmerksamkeit der sanften Hand, die er da hielt. Cytheras Finger zitterten im Rhythmus ihres Herzschlages. Er versuchte ihrem Blick zu begegnen, aber sie starrte bloß geradeaus, tief in Gedanken versunken.

Kurz darauf kehrte der Elf aus der Tiefe zurück, um zu verkünden, der Kerker erwarte sie.

Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
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