Kapitel 13
Da Malden nicht die Absicht hatte, Croy bei seinem großen Abenteuer zu begleiten, musste er sich wieder an die Arbeit machen. Er verschwendete keine Zeit, seinen nächsten Auftrag auszuführen. Cutbill hatte einen Hinweis erhalten, der den Dieb nach Königsgraben führte, in das Tal unmittelbar nördlich des Schlosshügels, das der Skrait geformt hatte. Die schmalen Straßen oben auf dem Graben wurden von Spielhäusern und Bordellen gesäumt; es gab Rauschgifthöhlen und Pfandleiher, die keine Fragen stellten. Ein altbekanntes Gelände für Malden, auch wenn es für ihn dort so gut wie nichts zu holen gab. Allerdings lebten in Königsgraben immer noch alte Freundinnen und Freunde.
Eine Freundin entdeckte er kurz nach Einbruch der Dunkelheit, und zwar genau dort, wo er sie erwartet hatte. Morricent war geschminkt, um die Augen herum so stark, dass die Farbe sämtliche Falten zuschmierte. Sie arbeitete lange genug in der Leibchengasse, um sämtliche Kniffe ihres Handwerks zu beherrschen. Sie besprühte sich mit süßlichem Parfüm und sprach mit unnatürlich hoher Stimme, die beinahe schon an ein Kleinkind erinnerte. Im offenen Haar trug sie grüne Schleifen wie eine Zwölfjährige bei ihrer ersten Kirchenzeremonie. Und doch war Morricent alt genug, um Maldens Mutter sein zu können.
Seine Mutter, die ebenfalls einige Zeit in der Leibchengasse verbracht hatte, allerdings gestorben war, bevor sie sich mit weißer Schminke anmalen musste.
Malden war in einem Hurenhaus geboren worden und hatte seine Kindheit dort verbracht, hatte anfangs sauber gemacht und später gelernt, wie man die Bücher führte. Als seine Mutter frühzeitig gestorben war, war er in jungen Jahren gezwungen gewesen, das Bordell zu verlassen und seinen eigenen Weg zu finden – eine schwere Aufgabe für einen bettelarmen Jungen ohne Familie. Allerdings hatte man ihn nicht ohne Mitgefühl hinausgeworfen. Die Huren von Ness waren eine Schwesternschaft, und sie hielten besser zusammen als jede Handwerkergilde. Wann immer Malden eins der Freudenhäuser der Stadt betrat, war ihm ein herzlicher Empfang gewiss, und selbst die mehr oder weniger selbstständigen Straßenmädchen kannten sein Gesicht und hatten stets ein Lächeln für ihn übrig. Morricent bildete keine Ausnahme.
»Malden! Du bist gekommen, um einem Mädchen an einem scheußlichen Abend Gesellschaft zu leisten«, säuselte sie, als er sich neben sie an die Mauer lehnte, an der sie gewöhnlich stand und auf Kunden wartete. Die Ziegel waren nebelfeucht, den Mond umgaben dunkle Wolken. In der Tat ein schlechter Abend, um auf der Straße zu arbeiten, vor allem, wenn man so wenig Kleidung trug wie Morricent. Ein weiteres Geheimnis ihres Handwerks. »Du bist ein warmherziger Bursche. Komm, hilf mir, die Kälte zu verscheuchen!« Morricents Hand war bereits unter Maldens Wams gekrochen und zerrte an dem Gürtel, der seine Hose hielt.
Er ergriff ihr Handgelenk und schob es sanft von sich weg. Stattdessen hob er ihre Finger an die Lippen und drückte einen sanften Kuss auf den Handrücken, und ihre Augen wurden ganz groß.
»Meine Lady«, sagte er, »nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, aber … ich habe zu tun. Dringende Geschäfte.«
Er ließ die Hand los, und sie schloss die Finger rasch um die Münzen, die er hineingeschoben hatte.
»Gareth hat mich zu dir geschickt, sagte, du könntest mir vielleicht weiterhelfen.« Gareth war Morricents Zuhälter. Streng genommen kein gar so übler Kerl – seine Aufgabe bestand größtenteils darin, das Geld einzusammeln, das sein Stall verdiente. Er schlug sie nie und war eigentlich der Mittelsmann für einen reichen Spieler namens Horat, der die Stadtwächter dafür bezahlte, ihre Nasen nicht in die Angelegenheiten von Königsgraben zu stecken. Horat wiederum unterstand Cutbill, dessen Wirkungskreise weit gesteckt waren.
»Natürlich verrate ich dir alles, was du wissen willst, Malden. Für Worte brauchst du nichts zu bezahlen.«
»Ah, aber ich raube dir deine kostbare Zeit. Wie ich erfuhr, hattest du gestern Abend einen Kunden, einen haarigen Burschen mit einem Muttermal genau hier.« Malden deutete auf eine bestimmte Stelle im Gesicht. »Ein geschwätziger Kerl. Prahlte über angeblich große Pläne.«
Morricent nickte und beugte sich dicht zu Malden hinüber, um zu flüstern. »Er versprach, mich das nächste Mal an einen netten Ort mitzunehmen. Sogar ein Zimmer in einem Gasthaus, mit Wein und Gebäck, statt wie üblich ein kaltes Stück Mauer und ein Pfefferminzzweig, den ich danach kaue.« Sie hob die Schultern. »In dieser Richtung werden mir dauernd Versprechungen gemacht, also zeigte ich mich wohl nicht begeistert genug. Er versuchte mir weiszumachen, dass er zu so viel Geld kommen wird, dass ich mich darum reiße, sein Liebchen zu werden. Dann erzählte er mir von der Sache, die er sich da ausgedacht hat, beschrieb mir alles bis ins Kleinste, und ich muss zugeben, es hörte sich gar nicht so schlecht an. So einfach wie Mehlsieben, sagte er immer wieder, und keine Kumpane, mit denen man teilen muss.«
Malden ließ sich die Einzelheiten berichten, dann verbeugte er sich und nahm erneut ihre Hand. »Er ist einer deiner Stammkunden?«, fragte er.
Morricent nickte.
Weitere Münzen fanden den Weg in ihre Hand. Dieses Mal Silber. »Von heute an siehst du ihn vielleicht viel seltener«, flüsterte Malden. »Und selbst wenn er zurückkommt, wird es kein Zimmer in einem Gasthaus geben, fürchte ich.«
Morricent rieb über eine der Münzen, die er ihr gegeben hatte. Er wusste, was sie da tat – auch ohne sie ins Licht zu halten, verriet ihr der Tastsinn den Wert. »Ich glaube, ich kann mir selbst ein Zimmer leisten, so viel Gebäck, wie ich will, und ein Bett für mich allein. Das ist ein seltenes Geschenk, das man schätzen sollte. Danke, Malden.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Er war Ehrenmann genug, sich die weiße Farbe erst vom Gesicht zu wischen, als er die Leibchengasse hinter sich gelassen hatte.
Das Unternehmen würde in dieser Nacht stattfinden, genau auf der anderen Seite der Stadt. Malden musste sich beeilen, wenn er Morricents Kunden auf frischer Tat ertappen wollte. Es handelte sich auch um keinen gewöhnlichen Einbruch, und er musste erst darüber nachdenken, wie er den Möchtegerndieb davon abhalten sollte.
Am besten konnte er immer in der klaren Luft der Hausdächer nachdenken. Er rannte los, überquerte Gassen und kam gut voran auf den Schrägdächern des Qualmbezirks, dem Viertel aus Werkstätten und Gerbereien, das die wohlhabenden Gegenden der Stadt weiter oben auf dem Hügel von den ärmeren Gebieten unten an der Stadtmauer trennte.
Einige der Manufakturen und Schmieden im Qualmbezirk waren die ganze Nacht über geöffnet. Die großen Öfen, in denen Eisen geschmolzen wurde, durften niemals erkalten, weil es einfach zu teuer war, wieder die richtige Hitze darin zu erzeugen. Davon abgesehen waren einige Gewerbe so sehr gefragt, dass die Werkstattvorsteher ihre Lehrlinge rund um die Uhr beschäftigten. Sie nahmen ihre Plätze an den Werkbänken ein oder schliefen schichtweise auf behelfsmäßigen Lagern. Darum musste Malden sich vorsehen, als er über den Dachfirst einer Werkstatt und dann an der Ziegelseite eines Schmelzturmes entlangeilte. Zwar hätte er bei einer Entdeckung mühelos entkommen können, aber jeder ehrliche Bürger, der ihn dort oben auf den Dächern entdeckte, wusste genau, dass er keiner gesetzestreuen Tätigkeit nachging. Man würde lauthals »Haltet den Dieb!« rufen, und der Aufruhr würde den Mann aufscheuchen, dem seine Aufmerksamkeit galt. Damit würde alles zunichte gemacht. Der Betreffende würde seinen Plan aufgeben und flüchten – oder er würde zumindest übervorsichtig sein und jeden Augenblick damit rechnen, dass sich jemand an ihn heranschlich und ihm die Hand auf die Schulter legte. Das würde Maldens Vorhaben erheblich erschweren. Und es gefährlich machen. Der Mann wäre bewaffnet und verzweifelt genug, beim ersten Anzeichen von Gefahr anzugreifen.
Nein, wenn Malden ihn überwältigen wollte, musste er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite haben. Das war die beste Lektion, die er von Cutbill gelernt hatte – wenn das Opfer wusste, dass man kam, dann war das Spiel bereits vorbei. Besser, der Mann sah ihn nicht. Ahnte nicht einmal, dass es jemand auf ihn abgesehen hatte.
Morricents Stammkunde war Lehrling bei einem Stellmacher und hieß Pathis. Er hatte das ehrwürdige Alter von dreißig Jahren erreicht, ohne je in seinem Beruf voranzukommen – entweder war er zu faul, um sich ernsthaft zu bemühen, oder sein Meister hatte kein Vertrauen in seine Arbeit. Gefangen in einer Beschäftigung niedrigster Art und vom Wissen geplagt, viel zu alt zu sein, um sich jemals verändern zu können, hatte er offenbar jeden Tag mit Pläneschmieden verbracht und sich eine Möglichkeit einfallen lassen, genügend Geld zusammenzubekommen, um ein neues Leben zu beginnen. Vermutlich hatte Pathis noch nie von Cutbill gehört und wusste gar nicht, dass es in der Freien Stadt bereits ein organisiertes Heer von Verbrechern gab. Bestimmt war ihm nicht klar, dass die Mächtigen in Ness nicht viel von Diebstahl auf eigene Faust hielten.
Als sich die Gelegenheit bot, auf einfache Weise schnell etwas Geld zu machen, hatte Pathis mit beiden Händen zugegriffen. Möglicherweise war es die erste gewinnbringende Unternehmung, die er in seinem ganzen Leben in Angriff genommen hatte, und womöglich war es auch die letzte. Die Werkstatt, in der er arbeitete, grenzte an eine Mietkoppel, ein leeres Grundstück zwischen zwei Werkstätten, das an Bauern vermietet wurde, die ihr Vieh zum Markt trieben. Wahrscheinlich hatte er die Herden gesehen, die jeden Tag über die Weide gescheucht wurden, und über den Preis nachgedacht, den sie erbrachten. Natürlich war es nicht einfach, Schafe, Kühe oder Pferde zu stehlen, da jedes Tier das Brandzeichen seines Besitzers trug, und kein Händler kaufte einem Dieb Vieh ab, ohne dessen Herkunft zu kennen.
Zumindest niemand, der besagtes Vieh schlachten wollte, um das Fleisch oder die lebenden Tiere zu verkaufen. Aber zwei Straßen von dem Stellmacher entfernt gab es eine Gerberei. Das konnte Pathis unmöglich entgangen sein – der Gestank, der davon ausging (und von allen anderen Orten dieser Art), der Gestank nach Tod und Verwesung, verlieh dem Stinkviertel seinen Namen und die niedrigen Mieten. Gerber brauchten ständig Nachschub an Tieren und waren wenig geneigt, allzu viele Fragen zu stellen. Tiere waren ihr Werkzeug. Zumindest tote Tiere.
Und so war in dem ansonsten unfruchtbaren Garten von Pathis’ Verstand ein simpler, hässlicher, bösartiger und doch großartiger Plan erblüht.
Malden kletterte zur Spitze des Turmes und hatte eine umfassende Aussicht auf sämtliche Straßen der Umgebung. Er wusste nicht, ob Pathis aus seiner Werkstatt oder seiner Kammer unten im Stinkviertel kam, vielleicht auch aus einer Schenke, nachdem er sich genug flüssigen Mut angesoffen hatte, um seinen hinterhältigen Plan auszuführen. Aber von dem Turm aus würde Malden den Möchtegerndieb mit Sicherheit entdecken.
Er brauchte nicht lange zu warten. Pathis erschien im Grünmantelsteg, stieg den Hügel vom Stinkviertel hinauf und machte sich nicht einmal die Mühe, die üppigen Schatten der dunklen Nacht zu nutzen. Er sah genauso aus, wie man ihn Malden beschrieben hatte, und er hielt bereits das Messer in der Hand.
Malden blieb außer Sicht, kletterte den Turm hinunter und gelangte in eine dunkle Gasse dicht bei den Mietkoppeln. Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen.