Kapitel 83
Aethil verließ sie eine Weile, vielleicht weil ihr das Gespräch zugesetzt hatte. Sie setzte sich zu einer Gruppe von Kindern, die mit einer Geschichtslektion kämpften, und half ihnen bei den schwierigen Wörtern und den komplizierten Zeiten der Elfenschrift. Malden sah, mit welcher Liebe und Ehrerbietung die Kinder ihre Königin betrachteten, und er glaubte, endlich ihren Platz in der Elfengesellschaft begriffen zu haben. Sie gab dem Volk etwas, woran es glauben konnte, sie war das Sinnbild seiner Traditionen und Herkunft. Der Hieromagus musste sie wirklich als ausgesprochen nützlich betrachten, nachdem sie die Untertanen so gut bei Laune hielt. Aber warum hatte er sich dann die Mühe gemacht, dass sie sich in den vermeintlichen Ritter verliebte – was sie in den Augen ihrer Untertanen doch nur in Verruf brachte? Er kam nicht dahinter.
Bei dem Gedanken an den Zwerg wandte sich Malden um und sah, wie er an einem Regal hochkletterte. Zu diesem Zweck hatte man eine Leiter an der Wand befestigt. Slag zog einen schmalen Band vom obersten Brett, dann stieg er wieder nach unten und blätterte darin. Anscheinend fand er das Gesuchte nicht, denn er erklomm abermals die Leiter.
Cythera ergriff den Saum seines Gewandes und zog ihn zurück. »Lasst uns einen Plan schmieden!«, raunte sie. »Der Rundgang endet gleich. Eine solche Gelegenheit bietet sich nie wieder.«
»Du meinst, wir sollten uns davonmachen?«, fragte Malden und nickte zugleich. »Irgendjemand muss Aethil ablenken. Slag, du könntest eins der Kinder packen und drohen, es zu …«
»Auf gar keinen Fall!«, rief Cythera. Aethil blickte von ihrem Unterricht auf und sah die zwei Menschen und den Zwerg fragend an. Cythera lächelte breit und verneigte sich vor Slag, wie man es von einer anständigen Schildmaid verlangen konnte.
Als sie wieder unbeobachtet waren, fuhr sie fort. »Das erlaube ich nicht, Malden. Diese Kinder sind unschuldig. Glaubst du denn an gar nichts?«
»Erst dann wieder, wenn ich diesem hübschen Käfig entronnen bin«, erwiderte er.
»Beruhigt euch! Wir können sowieso nicht fliehen. Wohin sollten wir denn?«
»Der Fluchtschacht, den Balint für uns geöffnet hat …«, brachte Malden seinen Gefährten in Erinnerung.
Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Vergiss es, mein Junge. Der befindet sich auf der anderen Seite des verdammten Vinculariums. Einmal angenommen, wir schaffen es zurück zum Zentralschacht, dann könnte ich euch dorthinführen. Aber du hast ja diese Wurmtunnel gesehen, die die Elfen gegraben haben. Sie würden uns erwarten. Nein, wir brauchen einen besseren Plan, als einfach nur abzuhauen. Ich glaube immer noch, dass wir die Königin so weit bringen, dass sie ein gutes Wort für uns einlegt und dieser Hieromagus uns freilässt. Sie tut alles, was ich …«
Er unterbrach sich, weil Aethil ihre Lektion beendet hatte und zu ihnen zurückkehrte. »Entschuldigt bitte«, sagte sie. »Ihr habt so geduldig auf mich gewartet. Aber lasst uns den Rundgang fortsetzen. Ich habe euch noch etwas sehr Wichtiges zu zeigen.«
»Natürlich, Euer Hoheit«, sagte Cythera.
»Sir Croy? Was sucht Ihr dort oben?«, fragte Aethil.
Der Zwerg war zu den Regalen zurückgekehrt. Er reckte sich an dem oberen Brett entlang, um ein Buch herauszunehmen, das er nicht erreichen konnte.
»Was? Ich will bloß …«
Seine Finger stießen gegen den gesuchten Band, und er polterte zu Boden. Der Rücken zerbrach in zwei Teile, und die Hälfte der Seiten verwandelte sich in silbrige Flocken.
»Verfluchte Scheiße, Schwanzlutscher!«, brüllte der Zwerg lautstark.
Plötzlich starrten ihn die Elfenkinder mit großen Augen an. Slag wurde feuerrot und kletterte eilig wieder nach unten.
Aethil hatte das Buch aufgehoben, das er heruntergestoßen hatte. Vorsichtig schob sie die losen Seiten, die sich bei ihrer Berührung nicht in Staub verwandelt hatten, zurück in den Einband. »Was wolltet Ihr damit?«, fragte sie.
»Dieses Buch hielten die Zwerge für verloren!«, rief Slag aus. Er griff danach, aber Aethil hielt es außerhalb seiner Reichweite. »Ich kann kaum fassen, dass ich es gefunden habe!«
»Ein Zwergenbuch? Ja, ich erkenne einige dieser Runen, aber nicht viele.« Aethil runzelte die Stirn. »Sir Croy, was soll denn ein Mensch damit anfangen?«
Slags Augen weiteten sich, und er brachte keinen Ton hervor.
Was sollte ein Mensch mit einem Zwergenbuch anfangen?
Malden, der nie um eine rasche Ausrede verlegen war, eilte zu Hilfe. »Sir Croy ist ein großer Gelehrter. Er hat die Überlieferungen sämtlicher Rassen von Skrae studiert«, erklärte er eifrig. »Selbst die dieser verräterischen Halsabschneider.«
»Diese abgefeimten Hurensöhne«, stimmte Slag ihm zu. »Ich sage immer, trau niemals einem Zwerg!«
»Ich wusste gar nicht, dass es noch Zwerge gibt«, wunderte sich Aethil und betrachtete das Buch. »Es muss zurückgeblieben sein, als sie diesen Ort aufgaben. Wollt Ihr das Buch lesen?«
Slag nickte vorsichtig. »Es ist von geringem … akademischen … Wert, aber … nun ja …«
»Dann schenke ich es Euch«, sagte Aethil. Sie kniete nieder und überreichte es Slag. »Vielleicht gebt Ihr mir etwas anderes dafür.« Für Maldens Dafürhalten bestand nicht der geringste Zweifel, welches Geschenk sie sich erhoffte. »Aber lest es später. Wir sollten nun wirklich die Halle der Ältesten aufsuchen.«
»Was gibt es dort zu sehen?«, wollte Malden wissen.
Aethil lächelte. »Unsere Vorfahren. Wie versprochen. Ich will, dass ihr sie kennenlernt.«