Kapitel 49
»Nein, verflucht!«, keuchte Slag. »Nein! In dem Buch stand es ganz eindeutig. So klar wie Scheißkristall. Dort lagerten die Fässer, im Haus der langen Schatten, in der Halle der Meisterstücke … das ist unmöglich. Unmöglich! Es stand im Buch, schwarz auf weiß!«
»Bücher kann man falsch auslegen«, meinte Malden, obwohl die Erklärung auch für seine eigenen Ohren ausgesprochen lahm klang. »Vielleicht hat jemand deinen Schatz umgeräumt, nachdem er davon erfahren hatte.«
»Nein. Nein!«, rief Slag aus. Seine Enttäuschung war so groß, dass ihn ein Hustenanfall überkam. »Glaub mir, man hätte es nicht entfernt. Es war noch immer da, als man die Elfen im Berg einsperrte. Verfluchte Scheiße!«
»Es tut mir wirklich leid, Slag«, sagte Cythera und strich ihm über den Rücken.
Slag war untröstlich. Er wich vor ihr zurück und sank über einem Schaukasten zusammen. »Es sollte … es hätte … Ach, Scheiße! In diesen Fässern befand sich meine Zukunft. Damit sollte mein Unglück beendet werden. Es sollte mich wieder nach ganz oben bringen, an die verdammte Spitze. Und es ist weg. Scheiße, es ist … weg.«
»Aber was war es denn?«, fragte Malden. Er bückte sich tief hinunter und untersuchte den Boden an jener Stelle, wo die Fässer angeblich gestanden hatten. Er fand eine Staubschicht, die allerdings dünner war als erwartet. Und er entdeckte fünf große runde Kreise aus blankem Fels, wo sich kein einziges Staubkörnchen gesammelt hatte. »Waren die Fässer voller Goldstaub? Oder angefüllt mit Edelsteinen verschiedener Größen und Schnitte?«
»Es war … eine Waffe«, erklärte Slag. Er musste sich setzen. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und Malden hörte, wie schwer er atmete. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie bedienen könnte, aber sie war tödlicher als alles, was die Welt zuvor erdacht hatte. Die Zwerge, die hier arbeiteten, erfanden sie … kurz vor ihrem Aufbruch.« Er schüttelte den Kopf und krümmte sich vor Schmerz zusammen.
»Streng dich nicht so an!«, mahnte Cythera, ging neben ihm in die Hocke und tupfte ihm das Gesicht mit einem Taschentuch ab.
Slag wollte ihre Hand wegstoßen, aber er war zu schwach, um sich wehren zu können. »Wir haben nur lückenhafte Berichte, was es mit dieser Waffe auf sich hatte, was sie … ausrichtete. Ich langweile dich nicht mit den Einzelheiten, mein Junge. Ich weiß nur, dass sie einen Ritter in voller Rüstung aus großer Entfernung hätte töten können, ohne dass er es bemerkt hätte. Natürlich verrieten wir den Menschen nichts davon – stell dir bloß die Katastrophe vor, wenn sie sie in die Finger bekommen hätten. Aber als das Abkommen unterzeichnet wurde und es uns verboten war, von … von …« Er musste so heftig husten, dass sein Gesicht rot anlief.
»Ihr wolltet nicht, dass wir über solche Macht verfügen. Wir hatten bereits genug Schaden angerichtet«, sagte Malden, der sich alles zusammenreimte. »Uns sollte keine so tödliche Waffe in die Hände fallen. Das kann ich gut verstehen. Also habt ihr diese magische Waffe für alle Zeiten versiegelt und ihr Vorhandensein vergessen. Zumindest beinahe.«
»Keine … keine …«
»Malden, lass ihn in Ruhe!«, mahnte Cythera.
Der Dieb nickte und beschloss, keine Fragen mehr zu stellen – zumindest im Augenblick nicht.
»Keine Magie«, brachte Slag schließlich hervor. »Keine … Magie. Oder … ich würde nicht …« Er ließ den Kopf auf die Brust sinken.
»Sag einfach nichts mehr«, schlug Cythera vor.
Slag schüttelte abermals den Kopf. »Es tut mir leid.«
»Was? Wofür solltest du dich entschuldigen?«, fragte Malden.
Slag runzelte die Stirn. »Ich führte euch beide hierher. Für … nichts. Ich schulde euch eine Erklärung. Obwohl ich … es mir schwerfällt. Es gibt gewisse Dinge, die du nicht über mich weißt, mein Junge. Peinliche Dinge, die ich nie erzählte. Ich glaube … glaube …«
Slags Gesicht wurde wieder schneeweiß, und er starrte zu Boden.
Vorsichtig und gequält beugte er sich nach vorn.
»Slag, du solltest dich wirklich hinlegen«, schlug Cythera vor.
Der Zwerg schob ihre Hände beiseite, nun wieder mit der nötigen Kraft. »Ich habe etwas gehört. Löscht das Licht!«, raunte er mit heiserer Stimme.
»Aber …«, setzte Cythera an, doch Slag überhörte ihren Einwand. Er schlug auf die Flamme der Laterne. Sie erlosch mit einem Zischen und einer gekräuselten Rauchfahne. Malden blies seine Kerze aus, und sie standen in tiefer Finsternis.
Allerdings nicht in völliger Stille.
Während sein Sehvermögen so gut wie nutzlos geworden war, schärften sich Maldens andere Sinne. Vor allem seine Ohren, und er hörte, was den Zwerg so beunruhigt hatte. Ein leises Pochen. Nicht weit entfernt klopfte etwas mit Knochenfingern auf den nackten Fels.
Vielleicht waren ihnen die Wiedergänger von oben gefolgt. Bei dem Gedanken zogen sich Maldens Eingeweide zusammen. Vielleicht bewegte sich in genau diesem Augenblick eine Legion untoter Elfen auf die Halle der Meisterstücke zu.
Er versuchte den Atem anzuhalten.
Das rhythmische Geräusch kam näher. Es klang nicht so, wie wenn ein Mensch an einer Tür pocht. Ein Mensch klopft zwei- oder dreimal, dann hört er auf und wartet auf eine Antwort. Dies ähnelte einem stetigen Trommeln, einer Klopfkaskade, die kein Ende nahm. Der Laut schien keinem regelmäßigen Muster zu unterliegen – er ertönte völlig unregelmäßig und unberechenbar, aber er hörte nie auf.
Er kam immer näher, Zoll um Zoll, bis er die offen stehende Tür erreicht hatte.
Und dann verstummte er.
Wenn sie uns hier drinnen nicht hören, dachte Malden, dann gehen sie vielleicht wieder. Vielleicht lassen sie uns in Ruhe und kehren in ihre Gräber zurück …
Vor der Tür flammte ein Licht auf. Lange gelbe Strahlen strichen die Wand hinauf und herunter, und die Lichtquelle am Türrahmen war so grell, dass sie Maldens an die Dunkelheit gewöhnte Augen blendeten.
Dann traf ihn ein Strahl genau in die Augen, und er zuckte zurück – geradewegs in ein Gestänge aus Piken, die krachend zu Boden fielen.
Die Tür öffnete sich quietschend, und zwei Gestalten traten ein. Ihre Silhouetten waren so schmal wie Zaunlatten, aber keine von ihnen war groß genug, um ein Wiedergänger zu sein. Einer der Besucher erreichte kaum die Höhe von vier Fuß. Der andere wies nur ein Viertel dieser Höhe auf, etwa die Größe einer Katze.
Als sich Maldens Augen von der Blendung erholt hatten, sah er, wie das Licht zuerst Cythera und dann Slag berührte. Der größere der Neuankömmlinge lachte aufgeregt, als Slag einen Arm hob, um sich vor dem Licht zu schützen. Dann stellte er seine Laterne ab, und Malden sah die beiden Gestalten zum ersten Mal richtig.
Der Kurze hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Goblin. Lange Hängeohren und einen Mund voll schiefer Zähne. Seine Augen waren riesig und von milchiger Farbe, ohne Pupillen oder Iris. Das verfilzte Haar war blau und führte als breiter Fellstreifen den Rücken hinunter. Hände und Füße erschienen viel zu groß für die stockähnlichen Glieder, und er stand nie ganz still, sondern hüpfte ständig auf und ab. Er berührte den Boden mit langen, knorrigen Fingern und klopfte unablässig auf die Steinfliesen, als könne er sie nicht ruhig halten.
Der größere der beiden war ein Zwerg in einem Lederkittel. Eine Frau. Malden hatte noch nie zuvor eine Zwergenfrau gesehen, und das allein wäre schon eine Überraschung gewesen. Sie war so dürr wie Slag, obwohl ihre Hüften und Brüste üppig ausgeprägt waren. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Dutzend Zöpfen geflochten, die steif vom Kopf wegstanden. Ihre Augenbrauen waren über dem Nasenrücken zusammengewachsen, auf der Oberlippe sprossen dunkle Haare. Sie hielt die kleinere Kreatur an einer Lederleine.
In ihren Augen schimmerte helle Bosheit.
Sie hörte nicht auf zu lachen, trat auf Slag zu, der sich an einen Schaukasten abstützte, beugte sich vor und lachte ihm ins Gesicht. »Und, suchst du etwas Bestimmtes?«