Kapitel 82
Die Elfenkinder waren genauso schön wie ihre Eltern, aber sie lachten öfter. Aethil führte ihr Gefolge durch den Kindergarten und blieb häufig stehen, um über Säuglingen zu gurren, die in schmalen Krippen aus Käferpanzern schliefen. »Sie sind so entzückend. Ich beneide die Mütter. Manchmal, wenn ich traurig bin, komme ich hierher und sehe ihnen einfach nur beim Schlafen zu.«
»Ihr habt noch keine Erben, Aethil?«, fragte Cythera.
»Was? Nein, natürlich nicht, ich … Aber das könnt ihr ja nicht wissen. Wir Elfenköniginnen unterscheiden uns von den anderen. Wenn die Zeit gekommen ist, um einen Erben zu zeugen, werde ich den richtigen Gefährten finden, und zum allerersten Mal werde ich erfahren, was echte Freude ist.« Sie musterte Slag, als dächte sie darüber nach, ob er der richtige Kandidat für diese Aufgabe sei. Der Zwerg kaute an den Fingernägeln. Die Elfenkinder schienen wenig Begeisterung in ihm zu erwecken. »Ich werde sofort empfangen und ein einziges Kind austragen, eine Tochter, die gleich nach ihrer Geburt Königin wird.«
»Ihr führt Eure Herrschaft also nicht bis zum Ende weiter?«, fragte Malden.
»Das … kann ich nicht. Ich werde die Geburt nicht überleben, müsst ihr wissen. Genau wie meine Mutter.«
Cythera stieß einen Laut tief empfundenen Mitleids aus, ein von Herzen kommendes Stöhnen. Aethil schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das aber nur wenig Wärme enthielt.
»Genug – davon müssen wir nicht sprechen. Ich zeige euch lieber die anderen Abteilungen des Kindergartens.« Sie führte sie hinaus in eine größere Höhle voller Lärm, in der Kinder sich mit den vielfältigsten Spielen beschäftigten. Die meisten davon erkannte Malden auf Anhieb, da er als Junge Gleiches oder Vergleichbares gespielt hatte. Verstecken, Fang den Oger, sogar Elfen- und Ritterspiele, bei denen die Knaben mit zerbrechlichen Lattenschwertern kämpften. Er fragte sich, ob sie den Spielen wohl ähnliche Namen gaben.
»Bis sie sieben sind, werden sie hier unterrichtet«, erläuterte Aethil und hob die Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Wir sorgen dafür, dass ihnen Geschichte und die wichtigsten Handwerke beigebracht werden und dass sie die Grundbegriffe des arkanen Wissens vermittelt bekommen. Natürlich nicht genug, um irgendwelchen Unsinn anzustellen.«
Malden sah einen kleinen Jungen, der von Drachen aus Rauch verfolgt wurde, lang gezogenen, streifenartigen Illusionen, die ein Mädchen erzeugte, das ihm lachend zusah. Um einen solchen Zauber zu meistern, hätte ein menschlicher Zauberer Jahrzehnte gebraucht, und er hätte für dieses Wissen einen schrecklichen Preis bezahlt. Hier war es Allgemeingut.
»Aus welcher Machtquelle speist sich Eure Magie?«, fragte Cythera voller Ehrfurcht vor selbst diesem kleinen Zauber. »Sicherlich werden doch keine Dämonen beschworen, damit die den Kindern solche Zauber beibringen, und kein so kleiner Elf könnte jemals die Grundsätze der Hexenkunst meistern.«
Bei dieser Vorstellung musste Aethil lachen. »Unsere Vorfahren sorgen für mehr magische Macht, als wir je anwenden könnten. Dämonen! Welch ein Unsinn! Niemand wäre so dumm, sie zu beschwören.«
Malden und Slag tauschten einen wissenden Blick. Jemand hatte den Dämon herbeibeschworen, den Mörget töten wollte. Es war Dämonen unmöglich, ungebeten auf die Welt zu kommen. Der Pakt, den der Blutgott mit der Menschheit geschlossen hatte, sah vor, dass er seine schrecklichen Kreaturen in der Seelengrube eingesperrt hielt. Ein Zauberer musste sie befreien und wurde ihrer – hoffentlich – Herr. Wer hatte also dann den formlosen Dämon herbeibeschworen, wenn es kein Elf war? Malden hatte den Hieromagus im Verdacht. Der Priesterzauberer verfügte ganz sicher über genügend Macht, und es lag wohl eher an seiner Vergesslichkeit, dass der Dämon nach Lust und Laune Jagd auf Menschen und Tiere machen konnte.
Anscheinend wusste Aethil nichts davon, und es war zwecklos, sie danach zu befragen, aber Malden ordnete es als weiteres Geheimnis der Elfen ein.
Die Elfenkönigin führte sie weiter in eine Bibliothek, wo andere Kinder Unterricht erhielten. Während die Jüngsten alle die gleichen einfachen Kittel trugen, waren die Sechs- und Siebenjährigen anders gekleidet. Die Hälfte von ihnen trug schlecht sitzende, alte und zerlumpte Flickenhemden. Die andere Hälfte trug edle Gewänder. Das waren die Kinder der besser gestellten Klassen, vermutete Malden – auch wenn es ihn verwirrte, dass die ärmeren Kinder dieselbe Ausbildung erhielten. »In den Ländern der Menschen bringen nur die Reichen ihren Kindern das Lesen bei«, sagte er.
»Aber wie sollen die Arbeiterklassen dann etwas lernen?«, fragte Aethil ziemlich entsetzt.
»Größtenteils gar nicht«, erwiderte Malden. »Entweder sie erlernen ein Handwerk, indem sie bei einem Meister in die Lehre gehen, oder sie arbeiten ihr Leben lang als Handlanger.« Und das galt bloß für die Freie Stadt, wie er nur allzu genau wusste. Außerhalb von Ness verbrachten neun von zehn Menschen ihr Leben auf einem Bauernhof und lernten lediglich, wie man eine Sichel richtig hielt oder Getreide säte. Im ganzen Königreich von Skrae wusste vielleicht jeder Zwanzigste, wie man las und Buchstaben schrieb.
»Aber … das ist ja … barbarisch!«, stieß Aethil hervor. Aus ihrem Mund klang das Wort geradezu anstößig. »Ihr haltet euer Volk unwissend? Die meisten Menschen können nicht einmal lesen? Ich glaubte den alten Geschichten bisher nie, aber wenn …«
Cythera mischte sich eilig ein, um das Thema zu wechseln. »Unser Gespräch über Bildung erinnert mich daran, dass ich Euch unbedingt etwas fragen wollte«, unterbrach sie die Elfenkönigin.
»Ja?«, fragte Aethil. Ihr Gesichtsausdruck zeigte einen gewissen Zweifel, der Malden gar nicht gefiel.
Aber Cythera sprach schnell, und bald darauf nickte Aethil. »Als wir Euren Soldaten das erste Mal begegneten, da überraschte es mich sehr, dass sie Skraelisch sprechen – die Sprache meines Volkes. Der Akzent ist anders, und die Aussprache mancher Worte unterscheidet sich deutlich, aber wir schienen einander gut verstehen zu können.«
Darüber hatte sich auch Malden gewundert. Durch die Ereignisse – die Gefangennahme, die Kerkerhaft, den drohenden Tod und die Notwendigkeit, Slags Diener zu spielen – hatte er es wohl wieder vergessen. Aber es war auf wunderbare Weise erstaunlich. Nicht einmal alle Menschen sprachen dieselbe Sprache. Er hatte Matrosen aus Skilfing und Rifnlatt und den anderen Nördlichen Königreichen kennengelernt und sich nicht mit ihnen verständigen können. Ganz zu schweigen von der höfischen und gekünstelten Sprache des Alten Imperiums mit ihren zahllosen Zeitformen und Deklinationen. Die Zwerge hatten ebenfalls eine eigene Sprache und benutzten ein völlig anderes Alphabet. Aber die Sprachen der Elfen und der Skraelinge klangen beinahe gleich.
»Euer Soldat sagte, ich spräche Elfisch«, erzählte Cythera. »Ich hatte gehofft, Ihr könntet dieses Rätsel lösen.«
Der Zweifel in Aethils Miene wandelte sich in Mitleid. »Ihr armen Geschöpfe. Wie mir scheint, kennt ihr nicht einmal eure eigene Geschichte.«
»Wie bitte?«, fragte Cythera nach.
»Aber natürlich, euer Leben ist so kurz, und ihr habt keine Vorfahren, die euch unterrichten.« Aethil legte Cythera eine zierliche Hand auf den Arm. »Ihr sprecht unsere Sprache und wir die eure, weil es sich um dieselbe Sprache handelt.«
»Aber … wieso?«, wollte Malden wissen.
Aethil legte den Kopf schief. »Was wisst ihr über eure Vergangenheit? Bringt man euch überhaupt bei, dass euer Volk aus dem Alten Imperium kam, und zwar, weil man es ins Exil geschickt hatte? Dass ihr nur mit der notwendigsten Habe an den Küsten dieses Kontinents gelandet wart? Es klingt, als brächte man euch nichts über das Zeitalter der Bruderschaft bei, das unsere Völker teilte.«
»Nein, das hat keiner je erwähnt«, gestand Malden ein. »Weil es so ein Zeitalter gar nicht gab.« Er warf Cythera einen Blick zu. »Oder doch? Wir kämpften gegen die Elfen, und wir siegten. Das habe ich gelernt.«
Aethil lachte. »Oh, vielleicht. Aber erst später. Als ihr hier gelandet wart, da gab es ein paar Scharmützel, das ist richtig, da wir nicht wussten, was ihr wolltet. Aber bald wurde uns klar, dass ihr euch nicht einmal selbst ernähren konntet. Ihr wusstet nicht, welche Pflanzen essbar sind und welche giftig. Ihr hattet noch nie zuvor Schnee gesehen, und ihr wart nicht auf den ersten Winter vorbereitet. Ihr wärt ausgestorben, hätten wir kein Mitleid mit euch gehabt.«
Cythera schüttelte den Kopf. »Ihr sagt, dass unsere Vorfahren nur durch die Elfen überlebten? Dass wir nicht ständig Krieg um das Land führten?«
»Wohl kaum. Der Kontinent ist gewaltig. Es gab mehr als genug Platz für unsere beiden Nationen. Wir nahmen euch unter unsere Fittiche. Brachten euch bei, wie man hier überlebt, und noch vieles andere mehr. Wir lehrten euch unsere Sprache und sogar die Ausübung von Magie. Jahrhundertelang lebten wir miteinander – heirateten sogar untereinander, obwohl aus diesen Verbindungen nie Nachwuchs hervorging.« Sie schenkte Slag einen sehnsuchtsvollen Blick. »Oh, ihr Menschen! Wir liebten euch, wie Älteste ihre Nachkommen lieben sollten.«
»Aber dann geschah etwas«, sagte Malden. »Etwas veränderte sich. Es gab einen Krieg. Einen Krieg, der wie lange dauerte? Zwanzig Jahre?« Er sah, dass Cythera nickte.
»O ja«, stimmte Aethil ihm zu. »Und er endete erst, als wir an diesen Ort kamen.«
»Aber … warum das Ganze? Wenn wir doch zusammen so glücklich waren?«
Aethil blinzelte. »Ihr wisst nicht einmal etwas über die Prophetin? Wie eine von uns – eine der Ältesten, eine unserer Hieromagi – ihr eigenes Volk verriet? Wie sie eurem Volk die Religion brachte und sie gegen uns wandte? Sie verlangte, dass die Menschen sie anbeten, und das taten sie auch. Dann ging sie zu weit und verlangte, dass auch wir sie anbeten, dass wir uns von den Vorfahren lossagen und sie als einzige Göttin annehmen sollten. Als wir uns weigerten, übertrug sie euch unsere Vernichtung.«
»Wir … sie … wer … was?« Malden war so verwirrt, dass er keinen Satz zusammenbrachte. Davon hatte er noch nie gehört.
»Ihr erhobt euch gegen uns, und wir wurden völlig überrascht«, fuhr Aethil fort. »Alles geschah mit großer Heimlichkeit und Berechnung. In einer Nacht erschlugt ihr neun von zehn Ältesten in ihren Betten. Die wenigen Überlebenden hielten noch zwanzig Jahre lang durch, aber am Ende zogen wir uns hierher zurück.«
»So erzählt man sich die Geschichte bei uns wirklich nicht«, hielt Cythera dagegen.
Das stimmte allerdings. Malden spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Falls dies alles der Wahrheit entsprach … Er war nie besonders stolz auf sein Land oder sein Volk gewesen. Dazu waren alle viel zu niederträchtig und scheinheilig. Aber er hätte nie gedacht, dass die Geschichte aus Massenmord und Verrat bestand.
Anscheinend hatte sein Volk gute Gründe gehabt, dass man die Elfen wegsperrte und vergaß. Plötzlich verstand er, warum das Vincularium so viele Jahrhunderte lang nicht aufgebrochen worden war – weil keiner seine Geheimnisse ans Tageslicht hatte bringen wollen.