Kapitel 33

Die Fackel schien für die Dauer einer Unendlichkeit in den Schacht zu fallen, obwohl es in Wirklichkeit nur eine knappe Minute sein konnte. Sie landete in etwas Feuchtem, erlosch aber so schnell und so tief unten, dass unmöglich zu sagen war, wie jener Untergrund beschaffen war.

Dann herrschte wieder Dunkelheit im Schacht, und seine Geheimnisse waren abermals verborgen.

»Früher gab es mehr von uns«, sagte Slag, als sich die Überraschung über die Größe des Vinculariums etwas gelegt hatte. »Mehr Zwerge.«

»Wie viele mehr?«, fragte Croy. Anscheinend war die Schweigeregel endgültig und unwiderruflich aufgehoben. »Vermutlich könnte die gesamte Bevölkerung des Zwergenkönigreiches hier leben, ohne dass es zu eng würde.«

Slag nickte. »Bestimmt. Von uns gibt es vielleicht noch zehntausend.« Seine Lippen bewegten sich, als stelle er im Kopf Berechnungen an. »In dieser Stadt hätten Millionen Platz gefunden. Und seht euch doch nur den Entwurf an! Hm. Nicht übel. Ein Zentralschacht für Belüftung und Zugang. Eine Schichtkonstruktion, vermutlich mit Stützsäulen auf jeder Ebene … Natürlich würde man unten noch mehr davon brauchen … für das Gewicht der oberen Ebenen. Andererseits … was hält den Berg aufrecht? Das ist sehr komplizierte Ingenieurskunst.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben so viel verloren. So etwas könnte mein Volk heute gar nicht mehr bauen, und wenn sein Leben davon abhinge.«

»Slag, diese riesige Kristallkugel, die in der Schachtmitte hängt«, sagte Cythera, »wozu dient sie? Mutter hat eine, aber die hat nur die Größe eines Kohlkopfes. Sie benutzt sie zum Hellsehen. Ist das etwas Ähnliches?«

»Scheiße, keine Ahnung«, erwiderte Slag. »Ah, stimmt nicht. Ich kann mich für die Tatsache verbürgen, dass kein Zwerg jemals in eine Kristallkugel geblickt hat.« Er trat von der Kante zurück und holte wieder das Stück Holzkohle aus der Tasche. Eine Weile wanderte er umher und suchte nach etwas zum Zeichnen.

Armer Zwerg, dachte Croy. Er hat die Pracht seiner Vorfahren gesehen, und jetzt muss er weitere magische Bannzauber malen, um sich vor überwältigender Ehrfurcht zu schützen.

»Schön«, sagte Mörget. »Genug geglotzt. Schlagen wir unser Lager auf.«

Überrascht starrte Croy den Barbaren an. »Hier? Jetzt? Nachdem wir wissen, dass da draußen jemand auf uns lauert und uns an den Kragen will?«

»Ich bin müde. Die anderen sind bestimmt erschöpft. Also ja, hier. Es sei denn, du willst zur Barrikade zurück«, sagte Mörget. »Einen Platz, der sich besser verteidigen lässt, gibt es weit und breit nicht. Die … die umgestülpten Gräber dort drüben …« Er gestikulierte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Sarkophage«, sagte Croy.

»… die toten Zwerge schirmen eine Flanke ab. Jeder, der da durch will, wird zumindest aufgehalten. Auf der anderen Flanke liegt die Grube.«

»Jemand könnte aus der Tiefe heraufklettern«, gab Malden zu bedenken.

»Und jeden Moment könnte uns der Berg auf den Kopf fallen«, erwiderte Mörget. »Ich halte Wache, während du dich ausruhst, kleiner Dieb. Einerlei, was aus der Grube hervorkriecht«, sagte er und schüttelte die Axt, »ich sitze hier und warte.«

Sie stellten ihre Laternen zur traurigen Nachahmung eines Lagerfeuers auf und setzten sich im Kreis ringsum. Croy war nicht überrascht, dass Malden auf der Stelle einschlief, während Cythera niedersank und den Kopf neben die Schulter des Diebes bettete. Er war froh, dass beide ein wenig Trost in der Nähe des anderen fanden, seine Verlobte und sein bester Freund. Slag hockte allerdings unruhig da und warf die Holzkohle von einer Hand in die andere. Was Croy selbst anging, konnte er nicht ausruhen – dazu war er sich viel zu sehr der allgegenwärtigen Dunkelheit bewusst. Er musste an einem sonnigen Tag geboren worden sein. Die undurchdringliche Finsternis schlug ihm auf das Gemüt und erfüllte ihn mit Unruhe. Er würde froh sein, wenn der Dämon erschlagen war und sie von hier aufbrechen konnten.

Gib es zu. Du hast Angst.

Wie die meisten Knaben in Skrae war Croy in dem Glauben aufgewachsen, dass Ritter furchtlos waren, dass sie sich in Gefahren stürzten, ohne nachzudenken. Diese Illusion hatte er sich bis zu seiner ersten Schlacht bewahrt. Er hatte sich übergeben müssen, während er darauf wartete, dass der Feind anrückte, und hatte versucht, seine Schande zu verbergen, indem er das Erbrochene vergrub. Sir Orne, ebenfalls ein Ancient Blade, hatte ihn ausgelacht, aber dann hatte er ihm das Geheimnis verraten, wie man die Angst verlor.

Es ist ein Schauspiel. Eine Maske, die man trägt, um seine Feinde das Fürchten zu lehren. Genau wie sie vorgeben, furchtlos zu sein, um dir Angst zu machen. Aber um ehrlich zu sein – wir sind alle bereit zum Davonlaufen, und zwar jedes Mal. Wir wollen davonlaufen, bis wir unsere Mütter gefunden haben und in ihre Röcke weinen können.

Aber wie besiegt man diese Furcht?, hatte Croy gefragt.

Das ist ein Kampf, den du nie gewinnst. Du kannst nur hoffen, dass dir die Maske nicht im falschen Augenblick verrutscht. So hatte Sir Orne zu ihm gesprochen. Croy hatte die Lektion nie vergessen.

Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhielt er sich leise mit Mörget und dem Zwerg.

»Was kannst du uns über diese Stadt erzählen?«, fragte er Slag. »Du scheinst genauso überrascht zu sein wie wir, dass sie so groß ist.«

»Wie wahr, mein Junge. Leider gibt es nur wenig zu berichten, da selbst die gelehrtesten Zwerge das Vincularium für einen Mythos aus der Vergangenheit halten, den man besser vergessen sollte. Es war eine großartige Stadt in den Tagen, bevor die Menschen ins Land kamen, aber das wisst ihr ja schon. Damals trug sie einen anderen Namen. Thur-Karas.«

»Was bedeutet das?«, wollte Mörget wissen.

Slag zupfte sich am Bart. »Haus der langen Schatten ist die beste Übersetzung, die ich anzubieten habe. Was mir genauso verflucht wenig sagt wie euch.«

»Klingt unheilvoll«, brummte Mörget mit grimmigem Gesichtsausdruck.

»Namen sind oft bedeutungslos oder werden aus Gründen gewählt, die für uns unerforschlich sind«, meinte Croy. »Meiner bedeutet beispielsweise nichts.«

»Wirklich?« Mörget klang überrascht. »Ich hätte gedacht, dass ein Mann von deinem Rang einen Namen von Bedeutung trägt.«

»Du erweist mir zu viel Ehre. Meine Mutter hat den Namen ausgewählt. Vor mir trug ihn ein Onkel, ihr Lieblingsbruder. Das ist alles.«

»Er muss doch irgendwo herkommen«, überlegte Mörget.

Croy hob die Schultern. »Vermutlich wurde mein Onkel nach einem anderen Croy benannt, vielleicht einem Vorfahren. Wie weit diese Kette zurückreicht, vermag ich nicht zu sagen. Malden und Cythera könnten dir vermutlich ähnliche Geschichten erzählen. So ist es Brauch in Skrae.«

Mörget schüttelte den Kopf. »Namen sollten mächtig sein. In meinem Land, im Osten, sagen wir, dass der Name eines Mannes sein Schicksal ist.«

Croy hob die Brauen. »Eine bemerkenswerte Vorstellung. Wenn du also einen Mann kennenlernst, weißt du sofort etwas über seinen Charakter. Sehr nützlich.«

»Wenn du gegen einen Mann kämpfst, willst du wissen, ob sein Name Mörder oder Feigling bedeutet. Das ist ein wichtiger Hinweis.«

Croy öffnete seinen Rucksack und holte eine Flasche Ale hervor. Er trank einen Schluck, dann reichte er sie an Slag weiter, der sich ausgiebig bediente. Mörget trank natürlich nichts davon, also gab der Zwerg den Krug an den Ritter zurück. »Also, was bedeutet Mörget nun?«, wollte Croy wissen. »Zweifellos etwas Gewalttätiges und Energisches.« Er fuchtelte mit einer Faust in der Luft herum und lachte.

»Kaum. Er bedeutet einfach nur, dass ich der Sohn von Mörg bin.«

»Und wer ist dann Mörg?«, fragte Slag.

Mörget sah aus, als wolle er darüber lieber nicht sprechen. Es war das erste Mal, dass Croy den Barbaren dabei ertappte, keine Begeisterung für etwas aufzubringen. Dabei hatte Mörget ihm doch erzählt, sein Vater sei ein großer Häuptling der Barbaren, ein Anführer unter Männern.

»Manchmal nennen sie ihn Mörg den Weisen. Das kommt eurem König am nächsten«, erklärte Mörget mit finsterem Blick.

Croy breitete die Arme aus. »Da hast du’s! In der Tat ein stolzer Name.«

Der Barbar fuhr mit dem Daumen über die Axtschneide. »Das ist aber nicht so gemeint. Es soll ein Zeichen der Schande sein. Bei meinem Volk ist kein Mann mehr wert als das, was er sich aus eigener Kraft nimmt. Mein Name soll mich immer daran erinnern, dass ich nichts Besonderes bin oder besondere Vorteile erwarten kann, nur weil ich der Welpe eines großen Mannes bin. Ich muss im Leben etwas Großartiges erreichen, oder mein Volk wird mich immer nur als der Sohn von jemandem in Erinnerung behalten.«

»Sobald du diesen Dämon getötet hast …«

»Dann werde ich meinen Namen ändern. Dann habe ich einen besseren verdient.«

»Ich verstehe, warum du für deine Quest so weit gereist bist«, meinte Croy.

»Ja. Und nun wisst ihr über meinen Namen Bescheid, was auch immer ihr damit anfangt. Du, Zwerg!«

Slag blickte auf. Er war während Mörgets Erklärung halb eingedöst. »Hä, was?«

»Dein Name erscheint mir seltsam. Was ist ein Slag

»Slag bedeutet Schlacke, ein Abfallprodukt des Schmelzprozesses. So nennen mich die Menschen. Eine Beleidigung, ohne Frage, obwohl sie es größtenteils herzlich meinen.«

»Ich wusste doch, dass dein Name ungewöhnlich ist«, sagte Croy und schlug sich aufs Knie. »Ich dachte immer, alle Zwergennamen enden mit in. Wie Murdlin, Snurrin oder Therin.«

»Viele, ja. Das bedeutet Sohn von. Zum Beispiel ist Murdlin der siebte unmittelbare Enkel von Murdli, dem Zwerg, der den Prozess der Stahlerzeugung erfand. Einer unserer großen Helden. In unserem Land ist das ein Zeichen der Ehre.«

»Wir kommen aus sehr unterschiedlichen Welten«, sagte Mörget zu dem Zwerg.

»Da hast du verdammt recht.«

Croy lachte. »Und wie lautet nun dein richtiger Name, Slag? Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass ich dich bisher als Abfall angesprochen habe, während du doch einen echten, stolzen Namen trägst, den ich benutzen könnte.«

»Das ist nicht wichtig«, wehrte Slag ab.

»Aber natürlich ist es wichtig«, beharrte Croy. »Ich habe Hochachtung vor dir und will dich nicht beleidigen, nicht einmal im kameradschaftlichen Scherz. Ich …«

»Sei still!«, knurrte Mörget und sprang auf die Füße. Die Axt in seiner Hand wies in die Dunkelheit.

Slag sah Croy mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich sagte doch schon, es ist nicht wichtig.«

Aber die Aufmerksamkeit des Ritters wurde viel zu sehr von Mörget abgelenkt, als dass er die Worte wahrnahm.

»Was ist?«

»Ich höre Schritte. Ganz in der Nähe.«

Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
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