Kapitel 91
Die Elfen schleiften Malden zurück in den Kerker. Das hatte er schon einmal erlebt, nur war er diesmal allein.
In der Dunkelheit im nassen Schlamm hockend, konnte er bloß den Kopf in die Hände legen und die Tränen zurückdrängen. Das gelang ihm nicht immer.
Alles war vorbei – seine Träume, seine Pläne. Tief unter der Erde würde er sterben, davon war er überzeugt. Die Elfen würden keinen Fehler begehen, würden ihn nicht ohne Aufsicht lassen. Selbst im Augenblick ließen sie ihn von einem halben Dutzend Wiedergänger bewachen. Auch wenn er durch das Gitter käme, würden sie ihm mit knochigen Krallen das Leben aus dem Körper würgen.
Aber vielleicht wäre das ja erstrebenswerter als darauf zu warten, was Prestwicke mit ihm anstellen würde. Der grausame Meuchelmörder würde ihn mit seinen kleinen Messern in Streifen schneiden. Dem Dieb kribbelte die Haut, als würde er bereits Stück für Stück in seine Einzelteile zerlegt. Ein unerträgliches Gefühl.
»Ich verlange, mit Aethil zu sprechen! Ich verlange eine Audienz beim Hieromagus!«, rief er, rannte zum Gitter und umschloss die Stäbe mit beiden Händen. Völlig sinnlos, aber er konnte nicht anders. »Hat ein verurteilter Mann in diesem Reich keine Rechte? Wo bleibt das Gesetz? Ihr nennt euch fortschrittlich? Ich verlange, eure Königin zu sehen!«
»Also gut«, sagte jemand.
Malden sprang überrascht zurück, als oben auf der Treppe ein Licht erschien und Schritte zu hören waren. Sollte seine Zeit bereits gekommen sein? Nein. Nein, das konnte nicht sein. Bestimmt blieb ihm noch eine Frist, bevor man ihn Prestwicke übergab.
Bestimmt.
Aethil erschien mit einer Öllampe in der Hand am Fuß der Stufen. Sie winkte den Wiedergängern mit ihrer schlanken Hand zu, und sie traten zur Seite, um sie passieren zu lassen.
»Du hast nach mir gerufen«, sagte sie. »Hier bin ich.«
Zorn verzerrte ihre fein geschnittenen Züge und machte sie so hässlich wie ein verbrauchtes altes Fischweib aus Ness. Ihre kleine Nase war gerümpft, als widere der Gestank des Kerkers sie an, und in dem Licht, das sie von unten anstrahlte, wirkte ihr Antlitz fremdartig und geisterhaft.
»Ich … ich wollte mich bloß entschuldigen«, sagte Malden und trat einen Schritt vom Gitter zurück. War sie gekommen, um ihn zu foltern, bevor er sterben musste? »Ich habe mich töricht verhalten und … alles schlecht bedacht. Ich wollte Euch niemals etwas antun.«
»Du hast mich angefasst«, sagte sie. Als sei das ein unverzeihlicher Übergriff. »Als Strafe wirst du mit deinen Freunden nicht zu den Vorfahren gehen. Du wirst nicht für alle Ewigkeit leben. Du wirst einfach nur sterben.«
»Glaubt Ihr, das stört mich?«, erwiderte Malden und gewann einen Teil seiner Fassung zurück. »Glaubt Ihr, ich will vom Schleim Eurer Vorfahren verschlungen werden? Pfui!« Er wandte sich ab. Falls sie ihn foltern wollte, kam es auf ein Wort mehr oder weniger nicht an. Nicht mehr.
»Es ist eine große Ehre …«
»Das ist bloß eine weitere Methode, uns umzubringen, blöde Kuh!«, rief Malden. »Eurem Lordrat ist es doch völlig einerlei, ob unsere Erinnerungen in Eurer Brut aufgehen oder nicht. Man will uns aus dem Weg schaffen, aber Ihr lasst nicht zu, dass man uns einfach aufhängt.«
»Kuh«, sagte Aethil. »Kuh«, wiederholte sie, als hätte sie dieses Wort noch nie zuvor gehört. »Das ist irgendeine Art von Nutzvieh, oder? Wie ein Höhlenkäfer. Aha. Du bist also nicht nur ein gewalttätiger Schuft. Du bist auch sehr unhöflich.«
Malden seufzte und hockte sich auf die Fersen.
»Ein Laster mehr, das mein Volk nicht mit dem deinen teilt«, sagte die Königin. »Ich komme hier herunter, um dir eine letzte Gnade zu erweisen, und du beleidigst mich. Ich hätte nicht übel Lust, dir Cythera vorzuenthalten.«
»Cythera? Sie ist hier?«
»Das bin ich, Malden«, sagte Cythera vom Kopf der Treppe. »Aethil, darf ich hinunterkommen? Ich bitte Euch, meinem Freund zu verzeihen. Ich weiß, dass Sir Croy das Gleiche sagen würde, wäre er hier. Malden hat bloß Angst – das müsst Ihr verstehen.«
»Natürlich«, sagte Aethil. »Bitte, komm zu uns!«
Cythera stieg die Stufen herunter. Sie sah sehr blass aus. Sie zuckte zusammen, als sie die Wiedergänger sah, aber dann rannte sie zum Käfig und griff zwischen den Gitterstäben hindurch nach Maldens Händen. »So ein dummer Mann!«, sagte sie.
»Ich wollte bloß …«
»So ein dummer, tapferer Mann!« Sie weinte.
»Ich lasse euch beide allein«, sagte Aethil. »Ihr habt nicht viel Zeit, aber ich versuche die Hinrichtung ein wenig hinauszuzögern.«
Sie ging. Malden rief ihren Namen, und sie blickte zurück.
»Aethil – danke. Für alles.«
Die Königin wirkte genauso hochmütig und zornig wie zuvor. Aber sie nickte. »Ich weiß, was Liebe ist, nachdem ich Sir Croy kennengelernt habe. Selbst ein Mensch sollte Abschied nehmen dürfen.«
Sie verließ die beiden, aber Malden hatte ihre Anwesenheit bereits vergessen. Er konnte bloß in Cytheras Gesicht starren, vermutlich zum letzten Mal. Er versuchte jeden Zug und jede Linie in sein Gedächtnis aufzunehmen, den Flaum auf ihren Wangen. Sollte er heute in die Seelengrube einfahren, würde ihn zumindest dieses Gesicht begleiten.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Cythera. Er hörte sie kaum. »Slag redet auf Aethil ein, so gut er kann, versucht sie zu überreden, dir zu verzeihen und uns irgendwie zu helfen. Ich weiß nicht, wie viel Erfolg er damit hat. Croy und Mörget sind irgendwo in der Nähe – das war offensichtlich der Handel, den dieser Prestwicke mit den Elfen abschloss. Croy und Mörget töteten alle Elfen, die ihnen über den Weg liefen, ohne aufgehalten zu werden. Und dann tauchte Prestwicke auf und nahm sie einfach gefangen. Ich habe keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Er sieht nicht gerade wie ein großer Krieger aus.«
»Cythera«, sagte Malden. Es war beinahe ein Flüstern.
»Wichtig ist nur, dass sie hier sind. Irgendwo in der Nähe. Ich versuche sie irgendwie zu erreichen, ihnen zumindest eine Botschaft zukommen zu lassen. Es sieht nicht gut für uns aus, aber wir tun alles, was möglich ist, um …«
»Es tut mir so leid«, sagte er.
»Malden, dafür haben wir jetzt keine Zeit«, flehte sie.
»Seit unserer Abreise aus Ness war ich für dich nichts als ein Hindernis«, erklärte Malden. »Ich habe dich in schreckliche Schwierigkeiten gebracht. Bitte. Für mich gibt es keinen Ausweg mehr. Aber du und Croy … ihr müsst eine Möglichkeit finden, euch zu befreien. Hier herauszukommen. Und wenn ihr wieder an der Oberfläche seid, dann will ich, dass ihr beiden …«
»Malden, sei still!«, raunte Cythera.
»Du verdienst Glück«, sagte Malden.
»Ich bitte dich, hör auf damit! Ich kann Croy nicht mehr heiraten.«
Der Dieb blinzelte verwirrt. »Aber …«
»Als ich Croy kennenlernte, da war ich gerade achtzehn Jahre alt, fast noch ein Kind. Ich sah in ihm einen Halbgott, der auf Erden wandelt, und ich hielt meine Gefühle für Liebe. Später träumte ich davon, was er mir alles geben könnte. Wozu du nie fähig wärst, Malden, und ich glaubte, dass es nur darauf ankäme. Als ich ihn tot wähnte, sah ich meine ganze Zukunft mit ihm sterben, und ich glaubte, die Erinnerung an ihn bewahren zu müssen. Das war ich ihm schuldig, so glaubte ich. Aber nun … Malden, als die Elfen dich gefangen nahmen, da sprach ich es aus, und es ist die Wahrheit. Du bist es, den ich liebe.«
»Aber was …«
Sie beugte sich vor und küsste ihn. Ausdauernd und leidenschaftlich. »Ich kann an Croys Seite kein Leben führen. Ich müsste nur jeden Tag an dich denken und daran, was ich verloren hätte. Stattdessen werde ich zu meiner Mutter zurückkehren und mich von ihr zur Hexe ausbilden lassen. Es wird schmerzen, Malden, was ich verlor, wird immer schmerzen, aber ich bleibe mir selbst treu. Du bist derjenige, der mir vergeben sollte. Vergib mir, dass wir unsere gemeinsame Zeit verschwendet haben. Vergib mir, dass ich dich so im Stich ließ.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, sagte Malden. Sein Herz war so schwer, dass er auf der Stelle sterben zu müssen glaubte – und Prestwicke um seinen Lohn betrogen hätte. »Küss mich einfach noch einmal! Nur noch ein Mal, bevor sie mich holen. Bitte.«