Kapitel 72
Die Elfen führten die Gefangenen die Wendeltreppe in ein dunkles Verlies hinunter. Die Wände waren schmucklos, den Boden bedeckte eine dicke Schicht aus feuchtem Schlamm. Sie mussten sich ganz in der Nähe des Schachtendes befinden – und dieser Raum wurde offenbar regelmäßig überflutet, wie Malden erkannte. In der Mitte stand ein Käfig aus Holz, groß genug für ein Dutzend Gefangene.
Maldens Blase drohte sich zu entleeren, als er sah, wo man ihn einsperren würde. Er zwang sich, die Hose nicht zu nässen, aber es fiel ihm nicht leicht.
Die Kerkerwächter traten vor, um die Gefangenen zu übernehmen. Es gab keine förmliche Zeremonie, und das war verständlich, da es sich bei den Wächtern um Wiedergänger handelte. Einem fehlten beide Augen und ein Teil der Wange. Der andere hatte gar kein Gesicht. Die lebenden Elfen behandelten die Wiedergänger mit einer gewissen Verachtung, die Malden seltsam anmutete – immerhin handelte es sich bei den Untoten um ihre Vorfahren, und man hatte ihm erzählt, dass die Elfen ihre Ahnen anbeteten. Dennoch sprachen die Soldaten mit den Wiedergängern, wie ein Mann mit seinem Hund spricht. Das verwirrte den Dieb, allerdings hatte er andere Sorgen.
Das Käfigtor wurde geöffnet, und Cythera musste hineintreten. Sie umklammerte die Gitterstäbe und starrte Malden mit flehentlichen Blicken stumm an. Er sollte sie retten, sofort, auf der Stelle. Irgendeine große, mutige Geste, die sie alle befreite.
Aber Malden war unfähig, etwas zu tun. Bevor man ihn hineinstoßen konnte, betrat er den Käfig freiwillig. Slag folgte ihm mit gesenktem Kopf.
Die Tür wurde geschlossen und verriegelt. Dann verließen die lebenden Elfen den Raum, während die beiden Wiedergänger zu beiden Seiten der Wendeltreppe Aufstellung nahmen und reglos stehen blieben. Jeder von ihnen hielt ein Bronzeschwert in der Hand, dessen Spitze den Steinboden berührte. Sie sahen eher wie schreckliche Bildwerke als wie belebte Wesen aus.
Abgesehen von dem Licht, das durch den Treppenschacht hereinfiel, gab es keinerlei Beleuchtung. Nur einige verirrte Strahlen, die die Schatten teilten. Bis auf ein paar Eimer war der Käfig leer. Malden ahnte, wofür die gedacht waren.
Er trat zur anderen Seite der Zelle und setzte sich in den Schlamm. Seine Hose war auf der Stelle beschmiert, aber er konnte nicht länger stehen. Sämtliche Kraft schien ihn verlassen zu haben, als sich seine Angst in Verzweiflung verwandelte.
Schließlich gesellte sich Cythera zu ihm. Sie bettete den Kopf an seiner Schulter, sprach aber nicht. Slag blieb noch eine Weile stehen, aber Malden beobachtete, dass er schwankte. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit – immerhin erholte er sich noch immer von seiner Vergiftung und der Wirkung des Gegenmittels. Schließlich ließ auch er sich am Boden nieder.
Und dann … geschah nichts mehr.
Überhaupt nichts. Eine lange Spanne des Schweigens. Zeit verging, auch wenn es sich so anfühlte, als stünde sie still.
Stunden verstrichen, vielleicht auch Tage. Malden hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu messen, außer dass er immer hungriger wurde. Die Luft schien so reglos zu sein wie die Wiedergänger, die sie bewachten, und jeder Atemzug war wie ein Vergehen gegen die schreckliche Zeitlosigkeit dieses Ortes, an dem sich niemals etwas änderte.
Irgendwann brachte jemand einen bleichen Laib Brot und warf ihn durch die Gitterstäbe. Malden fing ihn auf, bevor er im Schlamm landete, zerbrach ihn sorgsam in drei Stücke und verteilte sie.
Nachdem sie gegessen hatten, widmeten sie sich wieder dem Nichtstun.
Irgendwann fing Cythera leise an zu schnarchen. Sie hatten alle schon lange nicht mehr geschlafen. Malden rollte seinen Umhang zu einem Kissen zusammen und bettete ihren Kopf sanft darauf, damit ihr Gesicht nicht im Schmutz lag. Dann ging er zu Slag, der an der Tür saß. Er konnte weder die Stille noch das Warten länger ertragen. Er musste einfach mit jemandem reden, gleichgültig, ob dem Zwerg nach Unterhaltung zumute war oder nicht.
Slag schabte mit den Fingernägeln an einem der Gitterstäbe herum. Er riss einen faserigen langen Splitter ab.
»Bereitest du einen Fluchtversuch vor, Slag?«, fragte der Dieb.
Slag antwortete nicht. Er betrachtete aufmerksam den Splitter.
»Slag«, wiederholte Malden.
Der Zwerg zerriss den Splitter in winzige Streifen. »Das ist kein Holz«, verkündete er und schien gar nicht zu Malden zu sprechen. »Ich habe mich gefragt, woher sie hier unten Holz bekommen. Die Antwort lautet, dass sie, verfluchte Pest, gar kein Holz haben. Es muss irgendein Pilz sein, vielleicht eins der Gewächse, die wir an den Mauern des Zentralschachtes gesehen haben.«
»Slag«, sagte Malden. Es ärgerte ihn, dass der Zwerg ihn nicht wahrzunehmen schien und immer noch nicht aufsah. »Urin«, versuchte er es einmal.
Der Name riss den Gefährten aus seiner Versunkenheit, und er warf dem Dieb einen wilden Blick zu. »Ich benutze diesen verdammten Namen nicht mehr.«
»Das verstehe ich gut, da er in der Menschensprache die Bezeichnung für …«
»Es ist ein ehrenhafter Zwergenname! Uri war der Erfinder der Glasbläserei. Mein Vater war sein Nachkomme. Die Männer meiner Familie heißen seit hundert Generationen Urin, du Arschgesicht von Mensch.«
»Aber inzwischen bist du Slag. Ein Name, den dir mein Volk verlieh. Du hast deinen Vorfahren den Rücken zugewandt.«
Slag runzelte die Stirn. »Du hast Balint gehört. Ich bin ausgewandert. Sie betrachtet mich nicht einmal mehr als Zwerg.«
»Man hat dich ins Exil geschickt, weil du ein Schänder bist.«
»O ja.« Slag nickte. »Ein Währungsschänder.«
»Was soll das denn sein?«
»Bevor ich nach Ness kam, arbeitete ich in einer Münzanstalt. Damals hatte ich ein Leben und eine Aufgabe. Ich weiß, dass ihr Menschen allesamt faule Säcke seid, aber für einen Zwerg bedeutet ein Handwerk alles. Ich war stolz auf meine Arbeit. Ich überwachte die Herstellung von Goldmünzen. Das war eine schöne Aufgabe, aber am Ende reichte der Lohn nicht. Ich hatte Schulden, und wenn ein Zwerg Geld schuldig ist, zahlt er es auf die eine oder andere Weise zurück. In unserem Land gibt es für die Faulen keine Gnade.«
»Schulden?«
Slag starrte Malden wütend an. »Spielschulden, wenn du es unbedingt wissen willst. Das gab es früher nie. Wir haben uns nie um Glücksspiele gekümmert, damals in der guten alten Zeit – wir widmeten uns soliden Beschäftigungen. Ein verdammtes Laster mehr, das wir euch Menschen abschauten. Natürlich verließ ich mich nicht auf das Glück. Ich glaubte, ein System gefunden zu haben und auf die Würfel wetten zu können, um ein paar Münzen zu verdienen, wenn ich vorsichtig war. Das war ein böser Irrtum, wie sich herausstellte.«
»Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte Malden.
»Was du über uns nicht weißt, mein Junge, ist eine …« Er seufzte. Malden ahnte, dass dem Zwerg ein besonders derber Ausdruck auf der Zunge lag, er aber nicht die Kraft hatte, ihn auszusprechen. »Ich brauchte schnell Geld. Eines Tages kam mir der Einfall, dem Gold, mit dem ich arbeitete, kleine Verunreinigungen beizumischen und auf diese Weise mehr Münzen aus weniger Gold herzustellen. Ich hielt mich für genial. Darauf war zuvor noch niemand gekommen.«
»So fühlen sich die meisten Diebe bei ihrem ersten Beutezug«, bemerkte Malden mitfühlend. »Zu ihrer Bestürzung machen die meisten eine andere Erfahrung.«
»Ich war kein Dieb! Zumindest habe ich mich nicht so gesehen. Ich wollte den Ausstoß erhöhen. Das war alles.«
»Also, was ist geschehen?«
Slag seufzte tief. »Zuerst nichts. Das verdammte Schatzamt nahm meine Münzen wie immer an. Erst später erwischte man mich. Zwergenmünzen werden niemals gefälscht, also kommt es äußerst selten vor, dass jemand sie prüft. Aber menschliche Kaufleute sind nicht ganz so vertrauensselig. Ein Arschloch von Minenarbeiter kam in unsere Stadt, um geschürftes Eisen zu verkaufen. Als er bezahlt wurde, biss er in eine meiner Münzen, wie das Menschen so tun.«
»So wissen wir, dass es echtes Gold ist und kein poliertes Messing. Echtes Gold ist so weich, dass ein Abdruck zurückbleibt.«
»Aye, das weiß ich wohl, mein Junge, scheiß der Hund drauf. Dieser Minenarbeiter brach sich den Zahn aus.«
Malden kicherte.
»Du kannst dir den Aufruhr nicht vorstellen! Zwerge sind ehrliche Leute, das weiß jeder. Darauf verlässt man sich. Falls es bei unseren Geschäften mit Menschen auch nur den Hauch von Bestechung geben sollte, wäre das eine verfluchte Katastrophe. Es gab eine Untersuchung, und alle Beweise führten zu mir. Ich wurde gefasst.«
»Also schickte man dich ins Exil. Es gibt schlimmere Strafen.«
»Mein Volk kennt keine Todesstrafe. Dafür gibt es nicht mehr genug von uns«, entgegnete Slag. »Für uns ist Exil schon schlimm genug. Für uns ist das anders als bei Menschen, hörst du? Es ist einfach unglaublich beschissen. Ein ins Exil geschickter Mensch wandert einfach in die Nördlichen Königreiche aus und fängt ein neues Leben an. Aber es gibt kein anderes Zwergenland. Man muss unter Menschen leben, eine Arbeit finden, scheißegal … irgendeine. Niemals seine Familie wiederzusehen. Niemals heiraten zu können, niemals eine eigene Familie zu haben.« Er seufzte tief. »Ehrlich gesagt ist das schlimmer als der Strang. Ich bin das Gegenteil von einem dieser untoten Schurken. Sie sind tot, weigern sich aber, das anzuerkennen. Ich lebe noch, fühle mich aber meistens, als wäre ich bereits tot.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass dir das Leben in Ness so wenig gefällt. Dort leben doch viele Zwerge, und sie scheinen sich wohlzufühlen.«
Slag hob die Schultern. »Für mich war es schlimmer als für andere. Sie wissen, dass sie wieder nach Hause können, wenn sie genug Geld verdient haben. Als man mich ausstieß, hatte ich keine andere Wahl, als nach Süden zu ziehen. Aber selbst in Ness wollte mich kein anderer Zwerg einstellen. Sie konnten mir nicht vertrauen, verstehst du? Nie wieder. So landete ich bei Cutbill.« Slag musterte Malden von oben bis unten. »Cutbill nimmt jeden Streuner auf, der vorbeikommt.«
»Kennt er die Geschichte?«
»In groben Zügen. Als er von deinen Plänen erfuhr, in das verfluchte Vincularium einzudringen, sprach er mich an. Er wusste, dass ich immer nach einer Möglichkeit suche, wieder nach Hause zu kommen. Dachte, hier könnte ich etwas finden und es für meinen Straferlass eintauschen. In einer Hinsicht ist mein Volk genau wie deins – wenn du reich genug bist, fragt dich keiner, wie du an das Geld gekommen bist.«
»Du hast recht«, stimmte Malden zu. »Ein reicher Mann kann sich aus der Henkerschlinge freikaufen.«
»Vielleicht auch aus dem Exil. Aber du hast ja Balint gehört. Du warst dabei. Ich bin ein Arschloch, ich habe nicht die geringste Aussicht, jemals nach Hause zu kommen. Und nun das hier … Sollte ich morgen um diese Zeit noch am Leben sein, wünsche ich mir wahrscheinlich, lieber tot zu sein. Dieses ganze Unternehmen war eine einzige Katastrophe. Mir ist alles zwischen den Händen zerronnen.«
»Was bedeutet, du hast nichts mehr zu verlieren«, erklärte Malden. »Also versuchst du, diesen Gitterstab zu knacken.« Er strich mit dem Finger über die Oberfläche, wo Slag den Splitter abgezogen hatte. »Du meinst, wir können fliehen?«
»Nein, mein Junge. Ich suche nach etwas Scharfem, womit ich mir die Kehle durchschneiden kann. Damit ich alles rasch hinter mich bringe.«