Kapitel 27

Auf Händen und Knien kroch Malden ein paar Fuß vorwärts und stand dann langsam auf. Das Licht, das durch den Spalt hinter ihm eindrang, erhellte nur ein Stück des Marmorbodens. Zu beiden Seiten und weit, weit über ihm gab es nichts als Finsternis und abgestandene Luft.

In der Dunkelheit brannten ihm sofort die Augen. Seine Haut kribbelte, die Nackenhaare richteten sich auf. Da seine Sehkraft so gut wie nutzlos war, warfen sich seine anderen Sinne in die Bresche, um ihm etwas mitzuteilen. Irgendwo in weiter Ferne tropfte Wasser. Das Echo schien über ausgedehnte Steinebenen zu rollen. Er nahm den Duft von Jahrhunderten wahr, alten Staub und einen Hauch von Verfall. Seine Fingerspitzen schienen empfindlicher denn je zu sein, so als könne er nach der Dunkelheit greifen und sie wie ein Fell streicheln.

Auch wenn er nicht den Wunsch danach verspürte.

Hier war seit Jahrhunderten niemand mehr gewesen. Und die letzten Wesen, die auf diesem Weg gegangen waren – die Elfen –, hatten guten Grund gehabt, es später zu bereuen. Sie hatten vermeintliche Sicherheit gefunden, eine Festung, die sie in ihrem Krieg gegen die Menschheit beschützte. Stattdessen hatte sie der Tod ereilt.

Gerann die Dunkelheit an einem Ort wie diesem, der vor so langer Zeit aufgegeben worden war? Nahm sie Leben an – oder beherbergte sie zumindest irgendwelche Gefühle? Malden redete sich ein, dass eine solche Vorstellung albern war. Dass die abgestandene Luft im Vincularium nicht aus eigener Kraft wütend werden konnte. Möglicherweise gab es Geister, Überreste der Elfen, die hier untergegangen waren. Mit Sicherheit hauste hier ein Dämon. Aber das Vincularium selbst war nur ein Haufen alter Steine. Was sollte es gegen seine Anwesenheit einzuwenden haben? Wieso sollte es ihn hassen oder wollen, dass er wieder ging?

Gleichgültig, wie sehr es sich auch nach Bedrohung anfühlen mochte.

»Ist es ungefährlich?«, fragte Croy hinter ihm.

Unwillkürlich zuckte Malden zusammen. Er wandte sich nicht um – vermutlich hätte ihn das Tageslicht draußen nur geblendet, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Stattdessen bemühte er sich, ruhig zu atmen. »Bisher hat sich noch nichts auf mich gestürzt, um mich zu verschlingen.«

Er spürte, wie die anderen hinter ihm herkamen. Er hörte, wie sie sich ächzend durch die schmale Öffnung zwängten und verstummten, sobald sie in die lastende Dunkelheit eingetaucht waren. Mörget stellte eine der Ausrüstungskisten ab, und das Rascheln seiner Kleidung erinnerte an ein Sommergewitter, das von regengetränkten fernen Hügeln widerhallte.

Croy entzündete eine Laterne, und in dem grellen Lichtschein tränten Maldens Augen, und er musste blinzeln. Die Kerze in der Laterne flackerte wild in einem bisher nicht wahrgenommenen Luftzug und beruhigte sich erst allmählich. Licht strömte auf die offene Steinfläche.

Der Marmorboden erstreckte sich so weit, wie der Lichtschein reichte. Zwei kräftige gewundene Säulen stützten eine Decke, die das Licht nicht mehr erreichte. Sie blieb in pechschwarze Dunkelheit gehüllt. Auf einer der Säulen bewegte sich etwas und schob sich langsam durch den Laternenschein, und um ein Haar wäre Malden wieder aus dem Vincularium hinausgekrochen. Aber dann sah er, dass es nur ein Tausendfüßler war, kaum größer als sein Finger. Die schimmernde Körperhülle war durchsichtig, und farbloses Blut strömte durch den Körper. Das Gliedertier hob federgleiche Fühler in die staubige Luft, drehte sich um und kroch vor dem Licht davon.

Mörget hob eine Faust, als wolle er das Tierchen zerquetschten.

»Sei vorsichtig!«, flüsterte Croy. »Wir wissen nicht, in welche Gefahren wir da hineinlaufen.«

Mörget knurrte ungeduldig, trat aber einen Schritt zurück.

Cythera entzündete eine weitere Laterne und reichte sie an Malden weiter. Sie verfügte über einen ringförmigen Griff an der Seite, und er umfasste ihn so hart, wie ein Verdurstender einen Becher mit Ale festhalten mochte.

»So weit, so gut«, sagte Cythera. Sie lächelte ihn an. Offensichtlich wollte sie ihn beruhigen, aber das über ihr Gesicht strömende Licht verwandelte ihre Augen in dunkle Teiche, und sie ähnelte eher einer Hexe, als es Coruth je getan hatte. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie heiser loskicherte.

»Geradeaus müsste es einen Ausgang geben«, sagte Slag und stieß einen Arm in die Dunkelheit hinein.

»Also gut«, erwiderte Malden. »Ich kümmere mich um mögliche Fallen.« In gewissen Kreisen galt er als Meister im Umgehen von Fallen. Er hatte die Häuser von Zauberern und die Paläste von Adligen bezwungen, weil er einen kühlen Kopf behielt und wusste, wie er behutsam vorgehen musste. In der Freien Stadt Ness gab es niemanden, der besser für eine solche Aufgabe geeignet war. Und nur ein Narr hätte geglaubt, dass der Weg in das Vincularium nicht mit Fallen ausgestattet war. Zwerge waren berühmt für ihr Gespür, wenn es um Eindringlinge und unbefugtes Betreten ging. Die Orte, die sie unter der Erde errichtet hatten, waren nicht für Menschen gedacht gewesen, und im Verlauf der Jahrhunderte waren sie zu wahren Genies geworden, wenn es darum ging, tödliche Überraschungen zu konstruieren, die ihr Reich bewachten.

Außerdem neigten sie dazu, große Schätze anzuhäufen, und das zog Diebe an. Im Lauf der Zeit hatten die Vertreter von Maldens Gewerbe gelernt, Zwergenfallen entweder zu überwinden oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Traditionell schickte man dafür ein Mitglied der Gruppe einfach voraus, und wenn es nicht schreiend starb, weil es einer schrecklichen Konstruktion zum Opfer gefallen war, dann wusste man, dass der Weg frei war. Anscheinend war Malden für diese ehrenhafte Aufgabe auserwählt worden.

Er begab sich zwischen die Säulen und trat bei jedem Schritt vorsichtig auf dem Marmorboden auf. Weitere Säulen ragten aus der Finsternis auf, möglicherweise eine ganze Reihe. Das war der kürzeste Weg, den jeder arglos Eintretende üblicherweise nahm. Aber es war sicherer, den längeren Weg außen herum zu nehmen. Malden wandte sich nach links und hob die Laterne. In dieser Richtung erwartete ihn eine Wand, also ging er langsam darauf zu und berührte sie mit einem Finger. Die Wand leuchtete im Licht, und er erkannte, dass sie aus dem gleichen polierten Marmor wie der Boden bestand. Ein Stück oberhalb seiner Augen verlief ein Fries mit Zwergenrunen, die er nicht lesen konnte.

»Slag!«, rief er, und seine Stimme hallte so laut durch die Steinhalle, dass er sich zusammenduckte und den Rücken gegen den Stein drückte. »Slag«, wiederholte er bedeutend leiser, »kannst du diese Inschrift lesen?«

Der Zwerg trat aus der Dunkelheit hervor und spähte zu dem Fries hinauf. Seine Lippen bewegten sich stumm, während er las. »Namen, das ist alles. Wie üblich«, murmelte er, als er genug gelesen hatte. »Hier sind die Zwerge aufgelistet, die diesen Ort erbauten, und die Namen ihrer Väter.«

»Ich hatte schon Angst, es könnte eine Warnung sein, dass alle, die durch diese Halle gehen, dem Tod geweiht sind«, sagte Malden. Zumindest erwartete er so etwas in einer verbotenen Gruft.

»Dies war eine Stadt, bevor es eine Gruft wurde«, erwiderte Slag. »Als wir hier lebten, brannten in dieser Halle Tag und Nacht Feuer. Becher mit Met wurden herumgereicht und in einem fort geleert. In diesem Raum empfing man Besucher von der Oberfläche – Elfen oder Menschen, alle, die mit uns handeln wollten. Darum ist die Decke auch so hoch.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war keine Stätte des Todes, mein Junge. Das kam erst später.«

Malden nickte und ging weiter an der Wand entlang. Er versuchte ein Gespür für die Ausmaße zu bekommen, aber das erwies sich als schwierig, da das Licht seiner Laterne nicht in alle Ecken gleichzeitig reichte. Die Säulen verliefen neben ihm im Abstand von etwa fünfzehn Fuß. Dann erreichte er die gegenüberliegende Wand, wandte sich nach rechts und schritt weiter. Schließlich kam er zu einer breiten Steintür, die nicht höher als sechs Fuß war und in einem Steinbogen ruhte. Die Tür wies einen einfachen Riegel und kein Schloss auf. Kalte Luft strömte aus dem Spalt zwischen Unterseite und Boden. Der Dieb überprüfte sämtliche Türangeln und tastete die Oberseite ab, entdeckte aber nichts Besorgniserregendes.

»Also gut«, sagte er. »Kommt alle auf dem gleichen Weg hierher wie ich! Ich glaube, es ist sicher.«

Croy, Cythera und Mörget gesellten sich sogleich zu ihm. Slag schien sich Zeit zu lassen. Bevor er den Lichtkreis von Maldens Laterne betrat, hörten sie ihn schniefen, und als er angestrahlt wurde, funkelten Tränen in seinen Augenwinkeln.

Malden verspürte eine gewisse Furcht in sich aufsteigen, zwang seine Befürchtungen aber nieder. »Slag – was ist? Was stimmt nicht?«

»Nichts, mein Junge, nichts. Ich habe nur das verdammte Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Das ist alles.«

Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
01_cover.xhtml
02_impressum.xhtml
03_karte.xhtml
11_text.xhtml
12_text.xhtml
13_text.xhtml
14_text.xhtml
15_text.xhtml
16_text.xhtml
17_text.xhtml
18_text.xhtml
19_text.xhtml
20_text.xhtml
21_text.xhtml
22_text.xhtml
23_text.xhtml
24_text.xhtml
25_text.xhtml
26_text.xhtml
27_text.xhtml
28_text.xhtml
29_text.xhtml
30_text.xhtml
31_text.xhtml
32_text.xhtml
33_text.xhtml
34_text.xhtml
35_text.xhtml
36_text.xhtml
37_text.xhtml
38_text.xhtml
39_text.xhtml
40_text.xhtml
41_text.xhtml
42_text.xhtml
43_text.xhtml
44_text.xhtml
45_text.xhtml
46_text.xhtml
47_text.xhtml
48_text.xhtml
49_text.xhtml
50_text.xhtml
51_text.xhtml
52_text.xhtml
53_text.xhtml
54_text.xhtml
55_text.xhtml
56_text.xhtml
57_text.xhtml
58_text.xhtml
59_text.xhtml
60_text.xhtml
61_text.xhtml
62_text.xhtml
63_text.xhtml
64_text.xhtml
65_text.xhtml
66_text.xhtml
67_text.xhtml
68_text.xhtml
69_text.xhtml
70_text.xhtml
71_text.xhtml
72_text.xhtml
73_text.xhtml
74_text.xhtml
75_text.xhtml
76_text.xhtml
77_text.xhtml
78_text.xhtml
79_text.xhtml
80_text.xhtml
81_text.xhtml
82_text.xhtml
83_text.xhtml
84_text.xhtml
85_text.xhtml
86_text.xhtml
87_text.xhtml
88_text.xhtml
89_text.xhtml
90_text.xhtml
91_text.xhtml
92_text.xhtml
93_text.xhtml
94_text.xhtml
95_text.xhtml
96_text.xhtml
97_text.xhtml
98_text.xhtml
99_text.xhtml
100_text.xhtml
101_text.xhtml
102_text.xhtml
103_text.xhtml
104_text.xhtml
105_text.xhtml
106_text.xhtml
107_text.xhtml
108_text.xhtml
109_text.xhtml
110_text.xhtml
111_text.xhtml
112_text.xhtml
113_text.xhtml
114_text.xhtml
115_text.xhtml
116_text.xhtml
117_text.xhtml
118_text.xhtml
119_text.xhtml
120_text.xhtml
121_text.xhtml
122_text.xhtml
advert.xhtml