Kapitel 98
Als Malden den halben Weg zu Cythera und Slag zurückgelegt hatte, fühlte sich die ganze Halle an, als sei sie unter seinen Füßen zerbrochen. Er stolperte und stürzte, krachte auf die Fliesen, schützte den Kopf mit den Händen, als hätte das etwas genutzt, und betete darum, dass die Welt endlich nicht mehr schwankte. Schließlich endete das Beben – aber als er nach unten blickte und sein eigenes Blut auf den Fliesen entdeckte, rollten die Tropfen nach links, als hätte sich der Boden geneigt.
Die Elfen hörten nicht auf zu schreien. Die Soldaten rannten umher, als suchten sie etwas zum Angreifen. Die herausgeputzten Adligen riefen nach ihren Dienern, während die Arbeiter in ihrer Flickenkleidung dicht aneinander gedrängt auf dem Boden kauerten und mit furchtsamen Blicken zur Decke hinaufstarrten.
Aus gutem Grund. Zu Staub zerriebener Stein regnete aus der Kuppeldecke herab.
Malden kam wieder auf die Füße und rannte weiter. Als er den Karren passierte, auf dem Croy und Mörget gefesselt gewesen waren, vernahm er schrilles Gelächter, und er blieb stehen. Dort lag Balint und starrte zu ihm hoch. Sie schüttelte sich förmlich vor Heiterkeit. »Er hat es getan«, sagte sie. »Er hat das verdammte Ding in die Luft gejagt. Es ist alles vorbei! Wir werden alle sterben!«
Malden achtete nicht länger auf die verrückte Zwergin und eilte zu Cythera. Sie und Slag klammerten sich aneinander. Sie wirkten verwirrt und verängstigt. Er packte Cythera an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Ich glaube«, sagte er, als Cythera schließlich seinen Blick erwiderte, »dass wir hier verschwinden sollten.«
Cythera nickte und schob sich das Haar aus den Augen. »Guter Plan. Aber wie wollen wir …«
»Wir lassen uns etwas einfallen. Komm schon!« Malden griff nach ihrem Arm.
»Hilf mir, die Elfen hinauszuschaffen!«, bat Cythera.
Er konnte sie bloß anstarren. Selbst als Teile der Decke herabstürzten und mit donnerndem Getöse aufschlugen, fiel ihm keine passende Antwort ein.
»Wir können sie nicht zum Sterben zurücklassen«, sagte sie, als wäre das offensichtlich.
»Wirklich nicht? Ich bin anderer Meinung.«
»Malden – bitte! So kaltherzig bist du nicht. Ich kenne dich.«
Aber es war Slag, der das beste Argument vorbrachte. »Mein Junge, erinnerst du dich an deine eigenen Worte? Dass die Elfen das Böse waren und es verdienten, für alle Ewigkeit weggesperrt zu werden? Findest du das noch immer?«
»Seit unserer Ankunft haben sie uns entweder eingekerkert oder an den Kragen gewollt, sonst nichts«, erwiderte Malden, um seinen Standpunkt zu erläutern. »Ich würde das schon als böse bezeichnen.«
»Sie alle? Du würdest sie also alle als böse bezeichnen? Selbst Aethil? Nach allem, was sie, verfluchte Pest, für uns tat?«
»Nun … nein«, räumte Malden ein. »Sie hat uns anständig behandelt. Aber …«
Eine Reihe von Explosionen irgendwo im Vincularium übertönte für einige Zeit jedes Wort. Als wieder halbwegs Ruhe eingekehrt war, nahm Cythera Malden bei den Armen. »Erinnere dich an Aethils Worte. Dass es eine Zeit gab, da Elfen und Menschen Brüder waren – wir teilen dieselbe Sprache. Verstehst du denn nicht? Hilf mir, sie zu retten!«
Malden musste an den Augenblick denken, als er Aethil gepackt hatte, um mit ihr als Gefangener flüchten zu können. Unterschied sich dieses Verhalten wirklich so sehr von der Behandlung, die die Elfen ihm hatten angedeihen lassen? Cythera hatte nicht unrecht. Er brauchte Zeit, um alles zu durchdenken und zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen.
Unglücklicherweise prasselten in diesem Augenblick riesige Steine von der Decke, und sämtliche vernünftigen Überlegungen wurden überflüssig.
Er nickte und rannte zu Aethil, die nach oben auf ihr zusammenbrechendes Königreich starrte. Bevor er sie erreichen konnte, sah sie ihn und stürmte ihm mit zornig funkelnden Blicken entgegen. »Was hast du da angerichtet?«, verlangte sie zu wissen.
»Ich habe Euren kleinen Wettkampf überlebt, das ist alles«, erwiderte der Dieb.
Die Elfenkönigin hob eine Hand und formte eine Klaue. Sie sprach leise, hässliche Silben, und Malden merkte, dass sie ihn mit einem Fluch belegen wollte.
»Wartet!«, rief Cythera hinter ihm. »Euer Hoheit, bitte – hört mir zu!«
Aethil löste den Fluch offenbar wieder auf und starrte Cythera an.
»Bitte, Aethil, ich weiß, dass Ihr keine Gründe habt, uns noch länger zu lieben. Aber wir müssen uns zu einer gemeinsamen Entscheidung durchringen. Wenn wir nicht bald gehen, werden wir alle getötet.«
»Gehen? Ja, ich schätze, wir müssen uns in die Tunnel zurückziehen, die unsere Vorfahren schufen. Anscheinend sind die Zwergensäle nicht länger sicher.«
Cythera schüttelte den Kopf. »Nein, Euer Majestät. Ich spreche davon, dass wir das Vincularium verlassen müssen.«
Aethils Stirn legte sich in Falten. Sie schien kein Wort zu verstehen. »Aber das können wir nicht tun. Wir leben hier.«
»Es wird Euer Grab werden«, sagte Malden zu der Königin.
»Ich muss mich mit dem Hieromagus beraten«, wich Aethil aus. »Sicherlich hat diese Katastrophe ausgereicht, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. »Wo ist er?«
Malden suchte die Menge der ziellos umherirrenden Elfen nach dem Priesterzauberer ab, konnte ihn aber nirgends entdecken. »Aethil, er ist verschwunden.«
»Unmöglich. In einem solchen Augenblick lässt er uns doch nicht im Stich.«
Malden hätte sich vielleicht noch länger mit ihr gestritten, aber da brach der Hallenboden auf. Mit rasender Geschwindigkeit fraßen sich Spalten durch die Bodenfliesen, ein Elf stürzte in ein Loch. Eine Weile erfüllte sein Geschrei noch die Luft, dann endete es jäh.
Cythera seufzte verzweifelt, griff nach dem Unterarm der Königin und verdrehte ihn mit aller Kraft. »Ihr könnt Euer Volk retten«, beschwor sie Aethil, als diese sich mit zorniger Miene umwandte. »Auf der Stelle. Oder Ihr könnt auf die Zustimmung des Hieromagus warten. Seid Ihr die Königin oder nicht? Führt Ihr die Elfen an?«
»Ich …« Aethil verstummte mitten im Satz. »Es gab einmal eine Zeit, als meine Vorfahren, die alten Königinnen der Elfen, diese Macht innehatten, aber …«
Slag trat vor und nahm sanft ihre Hand. »Geliebte«, sagte er und schluckte mühsam. »Es ist Zeit, Eure Autorität wiederherzustellen. Bevor wir alle, verdammte Pest, erschlagen werden.«
Für einen Augenblick erschlafften Aethils Züge, und Malden rechnete damit, dass sie die Haltung verlor und loskreischte. Auch gut, dachte er. Wenigstens konnte er sich darauf verlassen, dass Cythera und Slag vernünftig handelten. Und er hatte sein Bestes gegeben, um die Königin zu überzeugen. Gaben sich die Elfen nun dem Untergang anheim, war es ihre eigene Schuld.
Aber dann geschah etwas Seltsames. Aethil straffte die Schultern und schien an Größe zu gewinnen. Ein scharfer Blick trat in ihre Augen, und sie ordnete ihr Gewand.
Dann schritt sie in die Mitte des Chaos und rief, dass man ihr zuhören solle.
Und alle lauschten ihren Worten.
»Freunde. Untertanen. Mitadlige – der Hieromagus ist nirgends aufzufinden. Also handeln wir ohne seinen Rat. Ihr müsst mich begleiten.«
Die Elfen hörten auf zu schreien. Sie alle betrachteten ihre Königin mit so andächtigem Respekt, wie ihn Malden auf menschlichen Gesichtern noch nie zuvor gesehen hatte. Die Armen eilten auf Aethil zu. Die Adligen hörten auf, sich anzukeifen, und sammelten ihre Familien um sich.
»Wir werden diesen Ort verlassen, der stets unser Zuhause war. Für eine sehr lange Zeit war uns jeder andere Ort verboten«, verkündete Aethil. Der Raum erbebte erneut. »Nun hat man uns ein Zeichen gesandt. Die Vorfahren gaben ihren Segen. Gemeinsam kehren wir in die Welt an der Oberfläche zurück, wo wir unsere einstige Herrlichkeit wiederherstellen werden.«
Die Ansprache war noch nicht beendet, aber Malden nahm Cythera und Slag beiseite. »Der beste Weg hinaus ist vermutlich der Fluchtschacht auf der anderen Seite«, sagte er.
»Vergiss ihn, mein Junge!«, antwortete Slag. »Das schaffen wir unmöglich, bevor hier alles zusammenbricht.« Er seufzte tief. »Welche Verschwendung!«
»Den Haupteingang auf der obersten Ebene erreichen wir bestimmt auch nicht«, sagte Cythera. »Nein. Wir müssen durch Aethils geheime Grotte hinaus.«
»Aber da ist doch alles von den Kristallen blockiert!«, warf Malden ein.
»Mithilfe vieler Hände könnten wir uns einen Weg bahnen«, erwiderte Cythera. »Der Kristall ist zerbrechlich. Wir könnten ihn abschlagen.«
»Ob das gelingt?«, gab Slag zu bedenken.
»Vielleicht«, fuhr Cythera fort, »aber ich sterbe lieber bei dem Versuch, als tatenlos zuzusehen und hier umzukommen.«
»Das, Mädchen, ist allerdings ein ausgezeichneter Standpunkt«, stimmte Slag ihr zu.
»Gut, dann sind wir uns ja einig. Holen wir Croy und gehen!«, schlug Cythera vor.