Kapitel 64
Croy gab Mörget ein Zeichen. Anscheinend war der Weg frei. Sie waren meilenweit durch leere Hallen und staubige Korridore geschritten und hatten alle jene Stellen gemieden, wo sich irgendjemand oder irgendetwas verstecken konnte. Das war nicht weiter schwierig – das riesige Vincularium schien größtenteils verlassen und seit Jahrhunderten unberührt zu sein. Wie viele Elfen noch immer am Leben sein mochten – sie waren offensichtlich nicht zahlreich genug, um diese unterirdische Welt dichter zu bevölkern. Bisher hatten die beiden Ancient Blades weder Elfen noch Dämonen oder Wiedergänger entdeckt. Croy ging davon aus, dass sich die wenigen Überlebenden in irgendwelchen düsteren Ecken des riesigen Bauwerkes an ihr Leben klammerten und genauso viel Angst vor den von Geistern heimgesuchten Korridoren hatten wie er selbst. Er dachte darüber nach, wie Mörget und er die ganze lange Nacht durch die Gänge gestolpert waren und keine Elfen gesehen hatten, bis die Zwergensonne zum Leben erwacht war. Wären sie schneller gewesen, hätten die Wiedergänger sie nicht getrennt, hätten sie vielleicht einen der Dämonen töten und diesen Ort wieder verlassen können, ohne dass die Elfen sie je bemerkt hätten. Wie sehr er sich doch gewünscht hätte, dass es so abgelaufen wäre! Mörget wäre zufrieden gewesen – seine Männlichkeit wäre für alle Zeiten unter Beweis gestellt gewesen. Croy und Cythera hätten ohne jeden Zwischenfall heimkehren können. Das ganze Abenteuer wäre in wenigen Stunden vorbei gewesen. Eine Episode, über die sie gelacht hätten, wenn sie sich später daran erinnert hätten, eine Episode, die sie ihren Enkeln hätten erzählen können.
Stattdessen hatte er sich stundenlang durch ein Verlies geschleppt, wo an jeder Ecke der Tod lauerte.
Seiner Schätzung nach hatten sie den Zentralschacht zur Hälfte umrundet und waren meilenweit an finsteren Felsen vorbeigegangen, bis sie zur Wohnebene gelangten.
Der Ritter machte Mörget das Zeichen, ihm zu folgen, während er vorwärtsschlich und nach Gefahren Ausschau hielt, wo immer sie sich verbargen. Im roten Licht dieser neuen Ebene schlichen sie eine spiralförmige Rampe hinauf. Ein weiterer offener Platz mit einer weiteren Galerie öffnete sich vor ihnen. Croy hielt sich weit von der Öffnung zum Zentralschacht fern. Er konnte nicht sagen, ob ihn etwas oder jemand beobachtete, aber vorsorglich versuchte er im Dunkel zu bleiben.
Verstohlen entfernte er sich von der Galerie und schritt tiefer in die Ebene hinein. Ghostcutter in seiner Hand bewegte sich hin und her und deckte jeden Schatten.
War dieser Bereich verlassen oder eher doch nicht? Die Wiedergänger auf der obersten Ebene, die Dämonen auf den unteren Ebenen – sie waren nicht die einzigen Feinde, vor denen er sich in Acht nehmen musste. Die Elfen stellten möglicherweise die schlimmste Bedrohung dar. Sie mochten Listen anwenden, konnten Fallen stellen und Hinterhalte legen. Während er diesen neuen Bezirk musterte, lebte er in ständiger Furcht vor Entdeckung.
Er gelangte zu einer Stelle mit schmalen Türmen und rechteckigen Gebäuden, die offensichtlich vor langer Zeit Behausungen für Zwerge gewesen waren. Die Bauten ähnelten den Wohnquartieren, die er in den Zwergenstädten von Skrae gesehen hatte – schmucklos und zweckmäßig, aber auf völlig andere Weise zweckmäßig, als es ein Mensch empfunden hätte. Im Unterschied zu den Unterkünften an der Oberfläche gab es hier allerdings viel mehr Räume, so viele, dass man sie zu hohen Türmen aufgestapelt hatte. Er schob den Kopf durch die Tür eines der niedrigen Zimmer und entdeckte nichts als faulende Holztrümmer. Die waren vor Jahrhunderten vermutlich einmal Möbel gewesen, inzwischen aber nur noch Müll. Er setzte seine Suche fort. Während er sich vorsichtig durch die rot erhellten Gassen bewegte, entdeckte er vor jedem Turm eine kugelförmige Lampe auf einer Stange. In der Mitte zwischen den Türmen stand ein Brunnen, dessen Rand mit weißen Mineralablagerungen verkrustet war, dessen Wasser aber noch immer floss. Das Wasser roch leicht schwefelig, war aber sauber. Er schöpfte eine Handvoll und wusch sich den Schmutz vom Gesicht.
Der Barbar schnalzte mit der Zunge. Ein harmloses Geräusch, das in der fast leeren Umgebung aber zahllose Echos erzeugte. Croy wollte den Freund schon rügen, die Stille gestört zu haben, als er aber sah, was Mörget gefunden hatte, stieß er selbst einen leisen Seufzer aus.
Auf dem Boden lag die Leiche eines Zwerges. Gesicht und Hände waren aufgeschlitzt, Blut hatte sich unter dem Körper gesammelt und war in den Spalten zwischen den Fliesen versickert. Im rötlichen Licht der Straßenlampen sah das Blut beinahe schwarz aus. Ein Ausdruck tiefsten Entsetzens lag auf dem Gesicht des armen Zwerges.
Es war nicht Slag. »Ein Zwerg – hier? Er gehörte nicht zu unseren Begleitern, und wir wissen, dass die Erbauer die unterirdische Stadt schon vor langer Zeit verließen«, flüsterte Croy und schüttelte den Kopf. »Was bedeutet das? Was hat er hier gesucht?«
»Es bedeutet, dass es im Vincularium eng wird«, gab Mörget stirnrunzelnd zurück. »Vielleicht ist man uns gefolgt. Vielleicht kam dieser Zwerg unmittelbar hinter uns hier herunter und hoffte, etwas Wertvolles stehlen zu können, während wir mit dem Dämon beschäftigt waren.«
Croy schüttelte den Kopf. »Zwerge stehlen nicht. Sie befassen sich auch nicht mit ihrer eigenen Geschichte. Zumindest nehme ich das an. Auf dem ganzen Kontinent gibt es verlassene Zwergenstädte, und ich habe noch nie gehört, dass Zwerge sie aufsuchen. Ich war sogar ziemlich überrascht, als Slag mitkommen wollte. Nach meiner Erfahrung macht es Zwergen nichts aus, dass ihre alten Behausungen vermodern und einstürzen. Und doch sehen wir hier einen Beweis des Gegenteils. Dieser Zwerg hat sich nicht ohne Grund in das Vincularium begeben. Aber warum? Es bleibt ein Geheimnis. Und das verwirrt mich, ehrlich gesagt.«
»Ist es denn tatsächlich wichtig?«
»In Zeiten der Gefahr ist das Unbekannte der größte Feind, den man sich denken kann. Ich erführe zumindest gern, wie er gestorben ist. Wüssten wir, welcher Schurke diesen Zwerg getötet hat, wären wir besser gewappnet, wenn er sich als Nächstes auf uns stürzt.« Croy kniete nieder und schloss dem Toten die Lider. Es gelang ihm ohne Mühe. »Er starb erst kürzlich«, flüsterte er. »Er ist noch nicht einmal steif. Und diese Wunden stammen nicht von deinem Dämon, so viel kann ich sagen. Es sind Schwerthiebe.«
Mörget nickte, wandte sich von dem Leichnam ab und starrte zu einer Nebenstraße hinüber. Croy blickte ebenfalls in jene Richtung und entdeckte das Ende eines Seiles am Boden. Es führte zu einem der Türme und hing vom Dach ganz oben herab.
»Sieht wie eine Falle aus«, murmelte der Ritter. »Könnte Zwergenarbeit sein. Vielleicht hoffte dieser arme Kerl, seinen Mörder damit zu stellen.«
Mörget näherte sich vorsichtig dem Seil – dann ergriff er es und zog daran, während Croy warnend abwinkte. Das Seil löste sich vom Turmdach, landete mit einem dumpfen Aufprall und bildete einen unordentlichen Haufen. Das andere Ende war zu einer Schlinge gebunden. »Diese Falle war nicht vernünftig vorbereitet. Es gibt kein Gegengewicht.«
Croy hob die Brauen.
»Im Osten stellen wir ähnliche Fußangeln für die Jagd her«, erklärte Mörget. »Du vermutest, dass der Zwerg diese Falle auslegen wollte, während er getötet wurde. Was bedeutet, dass er dort oben jemanden fangen wollte.« Der Barbar deutete zum Turmdach hinauf. »Vielleicht kam der Mörder ja von dort oben.« Bevor Croy ihn davon abhalten konnte, erklomm Mörget bereits die Leiter.
Der Ritter folgte ihm dichtauf, denn er wollte nicht zurückbleiben. Als die beiden das Dach erreichten, fanden sie es leer vor. Mörget sah sich flüchtig um, dann begab er sich zum Dachrand, um nach unten zu spähen.
Croy sah genauer hin – und entdeckte eine Spur, die ihn in Aufregung versetzte. »Hier«, sagte er und strich mit dem Finger über eine kleine Ansammlung von Löchern in dem Stein zu seinen Füßen. »Sieh doch! Diese Löcher sind durch Säure entstanden.« Mörget sah ihn verständnislos an. »Säure! Ich habe schon oft ähnliche Anzeichen gesehen. Malden war hier und hielt Acidtongue in den Händen. Er zog die Klinge und versprühte damit die giftige Flüssigkeit, die überall ihre Spuren hinterlässt. Malden war hier!«