Kapitel 58
In Maldens Kopf drehte sich alles. Lichtblitze zerbarsten hinter seinen Augen, Speichel schoss ihm über die gespaltene Lippe. Er taumelte und versuchte, auf den Füßen zu bleiben, griff mit einer Hand nach Acidtongue.
»Eidbrecherin!«, stieß er hervor und rieb sich den schmerzenden Kiefer. »Das Gesetz …«
Mit wildem Blick starrte Balint auf den Schraubenschlüssel in ihrer Hand, als hielte sie ein wildes Tier umklammert, das kurz vorm Zuschnappen war. Ihr Mund öffnete sich, um Worte zu formen, aber einen Augenblick lang war sie angesichts ihrer Tat so bestürzt (vielleicht noch bestürzter als Malden durch die Schmerzen), dass sie nicht sprechen konnte.
Bei ihrem Mundwerk war das ein kleines Wunder.
Dann schien sie die Fassung halbwegs zurückzugewinnen. »Es … es gibt keine Zeugen«, stammelte sie und fasste den Schraubenschlüssel fester.
Malden zog Acidtongue ein Stück aus der Scheide.
»Hast du das ernst gemeint?«, fragte er.
Sie schluckte lautstark. »Fick dich ins Knie!«
Malden trat zurück. Ihm dröhnte noch immer der Schädel, und es hätte ihn nicht überrascht, wäre sein Kiefer gebrochen gewesen. Weh genug tat er. Trotzdem. Er riss sich zusammen, zog das Schwert und hielt es an der Seite, wie er es bei Croy viele Male beobachtet hatte.
Balint erschrak, als sie das Schwert erblickte. Sie zitterte sichtlich. Aber offenbar war ihre Angst nicht so groß, dass sie nachgab. Mit widerwilliger Bewunderung sah Malden, wie sie mit der freien Hand den Schraubenzieher zog. Er gab einen brauchbaren Dolch ab, war durchaus geeignet, ihm die Augen auszustechen.
Vorausgesetzt, er bückte sich, damit sie ihn erreichte, und hielt außerdem still, während sie zustieß.
Maldens magisches Schwert tropfte Säure auf das Dach. Wenn es die Zwergin berührte, würde sie in zwei Hälften geschnitten wie ein Laib Brot. Er verfügte über eine größere Reichweite als sie. Er war schneller als sie. Er war schwerer als sie – ein Umstand, der schon mehr Kämpfe beendet hatte als jede andere Eigenschaft, wie er oft genug erlebt hatte.
Balint zitterte inzwischen am ganzen Körper. Der Schraubenschlüssel in ihrer Hand bebte.
»Gib mir einfach das Gegenmittel!«, verlangte Malden. Er runzelte die Stirn. »Und die Fässer. Dann kannst du gehen.«
»Das … kann ich nicht«, stotterte Balint mit schlotternden Gliedern.
»Natürlich kannst du das.«
»Nein! Die Fässer müssen zerstört werden.«
»Bei den achtundachtzig Nippeln der Göttin, was steckt denn bloß in diesen Fässern und macht alle Zwerge verrückt?«, fragte er. »Was könnte da so wichtig sein?«
»Du hast nicht den blassesten Dunst. Du weißt nichts über unsere Geschichte, du hast nicht die geringste Ahnung und bist noch stolz darauf. Ich habe meine Befehle – aus dem Mund meines Königs persönlich. Kein Mensch und auch kein Zwerg darf jemals in den Besitz dieser Fässer gelangen. Ich würde mein Leben für diesen Befehl opfern.«
»Was scheren mich deine Befehle?« Er hob das Schwert etwas höher und war bereit, den tödlichen Streich zu führen.
»Warum gehst du nicht und scheißt Blut?«, fragte sie. Sie presste die Lippen aufeinander, um die Zähne am Klappern zu hindern. »Mach schon, bring mich um, du … du … Mädchenmörder. Meine Männer werden dennoch mit den Fässern entkommen, und Urin wird sterben.«
Malden richtete die Schwertspitze auf Balints Gesicht. Sie schrie entsetzt auf.
Und dann brach ihm das Herz. Was im Namen der Hose des Blutgottes tue ich hier eigentlich?, dachte er.
Malden war mit einem ausgeprägten Hass auf Schwerter aufgewachsen. Genauer gesagt, er hatte jeden gehasst, der ein Schwert am Gürtel trug. Schwerter waren die Antwort auf jede Frage, so hatte es den Anschein, denn ihre Besitzer bekamen immer alles, was sie wollten, und zwar auf Kosten derer, die keine Waffen trugen. Nach Maldens Erfahrung nutzten die meisten Schwertkämpfer diesen Vorteil aus und missbrauchten ihre Macht. Wie oft hatte er als Kind beobachtet, wie ein Freier sich weigerte, eine der Dirnen im Freudenhaus zu bezahlen, und damit durchkam, nur weil er ein Stück Eisen am Gürtel trug. Wie oft hatte er zugesehen, wie Handwerker, Kaufleute und die Armen von Ness in die Gosse gestoßen wurden, weil sie einem Mann mit einem Schwert im Weg standen?
Erst nach seiner Begegnung mit Croy war ihm der Gedanke gekommen, dass nicht alle bewaffneten Männer andere beraubten, belogen oder betrogen, um danach zu behaupten, dass dies schließlich ihr Recht sei, weil sie die richtigen Eltern gehabt hatten.
Und nun stand er hier. War im Begriff, eine Zwergin – eine Zwergin, in Sadus Namen! – zu töten, um zu bekommen, was er haben wollte. Mit einem Schwert.
Da habe ich mich mit üblen Gefährten eingelassen, dachte er. Croy übte einen verderblichen Einfluss auf ihn aus. Ließ ihn alles vergessen, woran er einst geglaubt hatte. Croy hatte ihm Acidtongue gegeben, als wäre das Schwert eine großartige Gabe, ein Zeichen der Hochachtung. Damit hatte er ihn aber in eines jener Arschlöcher verwandelt, die er als Heranwachsender so gehasst hatte. Die sein Blut in Wallung gebracht hatten. Er hatte sich stets als Feind der Macht betrachtet, als Feind des ausbeuterischen Systems aus Rittern, Lords und Königen, die Skrae in eisernem Würgegriff hielten.
Als er Acidtongue aus Croys Händen entgegengenommen hatte, war er dieser Mannschaft beigetreten.
Er senkte das Schwert. Am liebsten hätte er es weit von sich geschleudert. Aber er steckte es dennoch nicht in die Scheide. Trotz allem brauchte er noch immer zumindest das Gegenmittel.
»Dann behalt deine großartigen Fässer. Gib mir das Gegenmittel, und ich lasse dich in Ruhe.«
Balint hörte sofort auf zu zittern. Sie begriff gar nichts mehr, wie ihrer Miene deutlich abzulesen war, aber plötzlich trat ein durchtriebener Ausdruck in ihre Augen. »Jetzt verstehe ich dich. Wo andere Mut haben, hast du nur Sülze«, höhnte sie. Ein hässliches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Du kannst es nicht tun. Du kannst mich nicht töten, nicht einmal mit diesem Stück Eisen in der Hand. Was ist los mit dir? Bist du ein Feigling? Oder willst du mir sagen, dass du einfach zu ehrenhaft bist, um eine Unschuldige zu erschlagen?«
»Unschuldig würde ich dich wohl kaum nennen«, erwiderte Malden. »Aber ich töte dich nicht. Nicht auf diese Weise. Gib mir das Gegenmittel!«
»Es gibt keins, das sagte ich bereits.«
Malden seufzte. »Ich weiß, dass du lügst. Cythera – du hast sie in der Halle der Meisterstücke kennengelernt – hat es mir verraten. Sie ist die Tochter einer Hexe und kennt sich mit Giften aus. Sie hat mir erzählt, dass kein Giftmischer so töricht ist, das Gegenmittel für sein Gift nicht griffbereit zur Hand zu haben. Also trägst du es bei dir. Gib es mir!«
Sie musterte ihn eine Weile. Vielleicht versuchte sie zu ergründen, wie weit sie ihn reizen konnte, bevor er sie in blindem Zorn angriff. Dann fasste sie in ihr Wams und holte eine winzige Phiole mit einem Korken hervor. In dem Glas befanden sich die Tropfen einer braunen Flüssigkeit.
»Steck den eisernen Schwanzersatz weg, und ich denke darüber nach«, sagte sie.
Malden durchbohrte sie mit finsteren Blicken, aber dann schob er Acidtongue zurück in die glasgefütterte Scheide. Er hielt die Hand in Gürtelnähe, um jederzeit an seine Ahle heranzukommen. Falls er sie töten musste, wollte er es mit der Armeleutewaffe tun.
»Wie verabreicht man das Mittel?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf die Phiole.
»Ein Tropfen, das reicht. Mehr davon, und er scheißt seine Eingeweide, sein Gehirn und alles dazwischen aus«, erwiderte Balint.
Möglicherweise log sie, aber Malden ging davon aus, dass Cythera die Wahrheit kannte.
»Er wird eine Weile für nichts zu gebrauchen sein. Natürlich ist ein Schänder wie er nicht einmal wert, meinen Abort sauber zu lecken.«
»Gib es mir einfach!«, forderte Malden.
»Aber klar. Hier!«, rief sie und schleuderte die Phiole an seinen ausgestreckten Armen vorbei quer über das Dach.