Kapitel 74
Croys Schläfenadern pochten. Seine Finger zuckten und trommelten auf Ghostcutters Knauf. Er musste kämpfen. Er musste töten.
Balint hatte ihn zu diesem gewalttätigen Abgrund geführt. Sie hatte ihn dazu gebracht, in die Tiefen seines Zornes und seines Vergeltungsdranges hineinzublicken, und sie hatte ihm gezeigt, dass dieser Abgrund bodenlos war. In seinem Leben hatte es eine Zeit gegeben, als er Gnade als Tugend betrachtet hatte, als Zurückhaltung im Kampf für ihn eine Berechtigung hatte.
Das war, bevor man ihm Cythera genommen hatte. Bevor er erlebt hatte, was Blutdurst wirklich bedeutete. Bevor er das Vincularium betreten hatte, hatte er eine Zukunft gehabt. Er hatte eine Frau und Kinder vor sich gesehen, eine eigene Familie. Erben, an die er seinen Namen weitergeben konnte, vielleicht sogar einen Sohn, der seine Waffe führte, wenn er alt und grau war und das magische Schwert nicht länger heben konnte. Da hatte er noch Träume gehabt.
Inzwischen gab es nur noch das Verlangen zu töten und nicht viel mehr.
Angeblich hatte Balint einen Plan. Er sollte die Elfen töten und ihrer Rasse für alle Zeiten ein Ende bereiten. Der Ritter hatte ihr kaum zugehört. Am liebsten wäre er zum Thronsaal zurückgerannt, um dort mit dem Zerstückeln anzufangen, aber die Zwergin hatte ihn gerade noch vom Abgrund weggeholt und ihm erklärt, dass es einen schnelleren, wenn vielleicht auch weniger geraden Weg gab, um sein Verlangen nach Elfenblut zu stillen.
Er dachte noch immer darüber nach, ob er ihren Vorschlag annehmen und für die endgültige Auslöschung der Elfen sorgen sollte. Oder sollte er seinen eigenen Trieben folgen? Das wäre sicherlich wesentlich befriedigender gewesen …
»Wenn du einen nach dem anderen tötest, wie kannst du dir dann sicher sein, dass keiner entkommt?«, fragte sie. »Glaubst du wirklich, du kannst zu Ende führen, was du angefangen hast?«
»Ghostcutter hat mich noch nie im Stich gelassen«, versicherte Croy der Zwergin.
»Und wenn doch einer flieht oder – noch schlimmer – zwei von ihnen? Ein Mann und eine Frau? Wenn sie dich überleben und sich fortpflanzen? Ihre Stärke zurückgewinnen? Was dann? Wenn die Elfen deinen Angriff überleben – wird dich das zufriedenstellen? Willst du ihnen überlassen, was sie dir wegnahmen?«
Er runzelte die Stirn. Balints Worte gefielen ihm ganz und gar nicht. »Du willst, dass ich meine Rache aufschiebe.«
»Ich will, dass du es klug anfängst, du Schwachkopf! Für einen Sturmangriff sind es zu viele, das begreifst doch sicherlich auch du. Man würde uns niedermachen.«
»Wenn ich bei meinem Streben nach Vergeltung sterbe, sterbe ich einen edlen Tod«, verkündete Croy.
»Nein, nein, nein! Wir müssen sie alle erwischen, sonst zählt es nicht. Und das bedeutet, dass wir ein kleines bisschen hinterhältig sein müssen. Wenn du mit einer Frau Liebe machst …«, begann sie und musterte Croy von oben bis unten. Der Klopfer auf ihrer Schulter winkte ihm ebenfalls zu. Sie runzelte die Stirn, bevor sie fortfuhr. »Du natürlich nicht – ich vermute, in dieser Hinsicht hast du wenig Erfahrung.« Sie wandte sich an Mörget. »Wenn du mit einer Frau Liebe machst, reißt du ihr dann einfach das Kleid vom Leib, beugst dich über sie und legst los?«
Der Barbar lachte vergnügt. Ein sehnsüchtiger Blick trat in seine Augen, und er wiegte sich hin und her.
»Ich sehe, dass ich es falsch ausgedrückt habe«, sagte Balint. »Noch einmal von vorn. Wenn ein echter Zwerg eine Zwergin für sich gewinnen will, dann macht er seiner Süßen Komplimente, bringt ihr kleine Geschenke mit und küsst sie erst einmal ganz zärtlich. Er grapscht nicht nach dem Eingepackten, bevor sie darum bettelt.«
»Also lautet dein Plan, dass wir den Elfen Geschenke bringen und ihnen sagen, wie wunderschön sie doch sind, bevor wir sie wie Schweine abstechen?«, fragte Croy. »Das klingt unsinnig.«
Balint stieß einen tiefen Seufzer aus. »Vielleicht solltet ihr mir einfach folgen und tun, was ich euch sage. Die Sache wird einfacher, wenn ihr nicht so viele Fragen stellt.«
»Schön«, lenkte Croy ein. »Dann sag mir einfach, wann die Stunde der Rache gekommen ist.«
Die Zwergin führte die beiden Krieger eine lange Rampe zur nächsten Ebene hinauf. Sie betraten einen dunklen Krankensaal mit Reihen kleiner Betten an den Wänden und einer großen Steinplatte in der Mitte, auf der noch uralte Blutflecken zu sehen waren. Hunderte größtenteils verrostete Eisenwerkzeuge hingen über dem Stein an Ketten von der Decke herab: Messer, Sägen und Greifer. Verglichen mit den Chirurgenbestecken, die Croy kannte, sah alles recht sauber und fortschrittlich aus.
Hinter dem Saal öffnete sich der Raum zu einem breiten gepflasterten Platz, der abgesehen von einem Haufen aufeinandergestapelter Karren leer war. Man hatte sie dort liegen gelassen, und sie verrotteten allmählich. In jeder Richtung führten breite Gänge in die Wände hinein, die alle in der Dunkelheit verschwanden, manche nach oben, andere nach unten.
»Minenschächte«, erklärte Balint. »Vermutlich längst erschöpft.«
Der Blauling sprang von ihrer Schulter, lief über den Boden und klopfte die Pflastersteine in unregelmäßigem Rhythmus ab. Er verschwand in der Dunkelheit, kam zurück und bearbeitete Balints Bein mit einer komplizierten Folge von Klopfzeichen.
»Unser Weg führt dort entlang.« Sie wies auf einen Torbogen auf der anderen Seite des großen Raumes. Dahinter lag eine Treppe, die eine Biegung machte und aus der Sicht verschwand. »Aufwärts in diese Richtung befinden sich die Küchen, dahinter die Lederwerkstätten. Unser Ziel befindet sich dort. Aber wir müssen vorsichtig sein. Der Klopfer verrät mir, dass an dieser Treppe Wiedergänger Wache halten.«
Croy nickte grimmig. Dann warf er Mörget einen Blick zu. Der Barbar erwiderte ihn und lächelte breit. Er nickte und hob die Waffe.
»Warte hier!«, sagte Croy zu der Zwergin.
»Nein! Wir müssen so behutsam sein wie eine Hure, die ihre Hand in die Tasche eines Mannes schiebt und sich nicht sicher ist, ob sie seinen Geldbeutel erwischt oder seinen …«
Croy unterbrach den kruden Vergleich und stürmte die Stufen hinauf. Mörget folgte ihm mit einer brennenden Kerze. Oben auf der Treppe erwarteten sie drei Wiedergänger, deren lippenlose Münder zu lautlosen Schreien geöffnet waren und deren Hände und Waffen sich bereits den beiden Menschen zuwandten.
Mörget nahm einen der untoten Elfen mit der Axt auseinander, bevor dieser nach seiner Kehle greifen konnte. Croy hob Ghostcutter und köpfte einen anderen, dann schlug er dem dritten mit demselben Schwung die Hände ab. Die Wiedergänger kamen weiter auf sie zu, also schlug er zu – traf ihre knochigen Knie, schnitt einen in zwei Teile und hackte einem anderen einen Arm ab. Mörget kümmerte sich um den anderen Arm, dann bückte er sich und riss die Reste mit bloßen Händen auseinander.
Zusammen eilten sie die Treppe hinunter. Balint erwartete sie. Das blinde Antlitz des Klopfers zeigte nacktes Erstaunen.
»Der Weg ist frei«, verkündete Croy. »Und das nächste Mal findest du lebendige Elfen für mich.«