Kapitel 45

Malden griff auf der Stelle nach einer Kerze und untersuchte die Wand neben der Tür. Er brauchte nicht lange, um das Gesuchte zu finden – ein in den Stein gebohrtes Loch von der Breite seines kleinen Fingers auf genauer Halshöhe eines Zwerges. Es war im Kerzenlicht nur schwer zu erkennen, aber er vermutete, dass sich im Innern eine Feder befand.

Eine klassische Falle, wie er sie sofort erkannt hätte, wäre sie für ein Opfer von menschlicher Körpergröße gedacht gewesen. Man hatte das Loch durch die Mauer gebohrt und die Feder angebracht. Auf der anderen Seite der Mauer führte wahrscheinlich ein Draht von der Tür zur Feder. Als Slag und er die Tür geöffnet hatten, war der Draht gerissen und hatte die Feder ausgelöst. Jeder, der sich in der Nähe der Tür befand, wäre von dem Pfeil getroffen worden.

Wer den Pfeil angebracht hatte, vermochte Malden nicht zu sagen – vermutlich handelte es sich um denselben Unbekannten, der im Barrikadenraum die Falle mit den Eisenspitzen angebracht hatte.

»Verflixt!«, rief er. »Mehr als offensichtlich, wenn man darauf gefasst ist!«

»Logisch, mein Junge«, sagte Slag. Er zog sich endlich den Pfeil aus der Haut und warf ihn zu Boden. »Brennt ein bisschen.« Er sah zu Malden hoch. Als sich ihre Blicke kreuzten, wusste der Dieb sofort, dass etwas nicht stimmte. Und er hatte auch eine ziemlich genaue Vorstellung, was es war.

»Ich war so verdammt nahe dran«, flüsterte Slag.

»O nein«, sagte Malden. »Das kann nicht sein. Ich … es tut mir so leid, alter Mann.«

Der Zwerg nickte und wandte sich ab. Dann taumelte er zwei Schritte von der Tür weg und stieß einen Schmerzensschrei aus, der durch die verlassene Schmiede hallte. Die Schmerzen mussten unerträglich sein, denn er krümmte sich zusammen und zitterte am ganzen Leib.

Cythera sah mit weit aufgerissenen Augen zu Malden herüber, dann eilte sie mit ihrem Licht herbei. »Slag – geht es dir nicht gut?«

»Was ist das für eine bescheuerte Frage?«, keifte der Zwerg. »Nein, natürlich nicht.«

»Gift!«, rief Cythera, als sie neben Slag in die Hocke ging. Der Zwerg legte einen Arm um ihre Taille und ließ sich helfen. Sanft bettete sie ihn auf den Boden, leerte ihren Rucksack und rollte ihn zusammen, damit er ein Kopfkissen hatte. Er wollte sich aufsetzen, aber sie drückte ihn nach unten. »Nein, Slag, beweg dich nicht! Ruh dich einfach aus.«

»Nein«, sagte Malden und kniff die Augen zusammen. »Nein, verflucht. Nicht das auch noch.«

Er konnte nicht viel tun. Er wickelte sich das Umhangende um die Hand und hob den Pfeil auf. Er war aus sehr leichtem Holz gefertigt und mit Taubenfedern befiedert. Die Spitze sah sehr scharf aus. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dieses Geschoss keine achthundert Jahre lang gewartet hatte, um jemanden zu töten. Der Mechanismus wäre verrostet, oder der Pfeil selbst wäre zerfallen. Diese Falle war erst kürzlich eingerichtet worden, innerhalb der letzten Tage. Und sie sah so gar nicht nach einer Arbeit der Wiedergänger aus. Die Untoten verzehrten sich danach, Lebende zu töten, keine Frage, aber über solche technischen Fertigkeiten verfügten sie nicht.

Der Tropfen einer strohfarbenen Flüssigkeit rann am Pfeilschaft entlang, und Malden roch daran, bevor er ihn wieder fallen ließ. »Kein Geruch nach Schierling.«

»Mein Junge«, sagte der Zwerg und starrte zu Malden hinauf, »mein Junge, mir ist verdammt kalt.«

Malden nickte und nahm den Umhang ab. Er deckte den Zwerg damit zu und kniete neben ihm nieder. »Schön durchhalten«, sagte er.

Slag schenkte ihm ein trockenes Lächeln. Er wollte etwas sagen, aber da verkrampfte sich sein ganzer Körper, und er konnte nur den Kopf zur Seite legen, bevor es ihn würgte.

Cythera ließ sich ebenfalls nieder. »Halt ihn fest!«, sagte sie zu Malden. »Er könnte sich selbst verletzen.«

Malden ergriff die Arme des Zwergs, der in ein wildes Zittern verfallen war. Zuckungen schüttelten seine schmächtige Gestalt, und sein Rücken krümmte sich auf unnatürliche Weise.

»Können wir nicht irgendetwas für ihn tun?«, fragte Malden verzweifelt.

»Halt ihn einfach fest!«, erwiderte Cythera und packte Slags Knöchel. »Das wird nicht lange anhalten. Dieses Mal nicht, glaube ich.«

Slag bäumte sich noch einmal auf, fiel zurück und lag dann still.

»Oooh«, stöhnte er. »Mein Rücken …«

Cythera kaute an einem Fingernagel. »Du sagst, es riecht nicht nach Schierling. Das Gift an dem Pfeil. Wie roch es dann? Nach Mandeln? Oder vielleicht nach Knoblauch?«

Malden schüttelte den Kopf. »Eigentlich roch es überhaupt nicht. Es hatte die Farbe von Stroh.«

»War es flüssig oder eine Paste?«

Der Dieb starrte sie an. »Flüssig. Worauf willst du hinaus? Du wusstest, dass er einen Krampf bekommt. Was weißt du über Gifte?«

Sie winkte ab. »Ich erwähnte bereits, dass meine Mutter eine Hexe ist.«

»Ich habe sie kennengelernt, schon vergessen?«, gab Malden zurück. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie hat dir etwas über Gift beigebracht?«, fragte er dann in versöhnlicherem Ton.

»In ihrem Vorratsschrank lagern mehr Reagenzien, Tinkturen und Orpimente als in einer Apotheke. Sie benutzt sie zur Herstellung von Tränken und Heilsalben. Sie hat mir einiges über Pflanzen und Mischungen beigebracht, die heilen – und ja, auch ein bisschen über jene, die töten können.«

Sie sprang auf und lief zu der Stelle, wo der Pfeil lag. Sie studierte ihn sorgfältig, dann nahm sie einen Tropfen Gift zwischen zwei Fingerspitzen und rieb sie aneinander. »Das ist kein Schierling, da hattest du recht. Auch keine Eibe, obwohl die Symptome sehr ähnlich sind … vielleicht Bilsenkraut? Die Flüssigkeit ist zu klar, als dass es Belladonna sein könnte.«

Malden musterte den Zwerg. Sein Gesicht war mit einer Schweißschicht überzogen, und seine Haut wies einen rosigen Schimmer auf – was entschieden ungesund aussah, da Zwergenhaut gewöhnlich weißer war als Schnee. Slag wand sich und warf Maldens Umhang zur Seite, als sei ihm zu warm geworden. Er war in einen Dämmerzustand gefallen.

Malden rannte zu Cythera hinüber. »Wird er sterben?«, flüsterte er.

Sie sah ihm in die Augen. »Ja. Aber ich kann nicht sagen, ob das in den nächsten Minuten oder erst nach einem Tag geschieht. Ich müsste die Art des Giftes kennen und wissen, wie groß die Dosis war. Und hundert andere Einzelheiten, die ich nicht einmal erahne.«

»Aber du musst doch ein Gegenmittel kennen. Sicherlich gibt es eins!«

»Wenn ich ihn hier wegschaffen, ihn vielleicht zu Coruth bringen könnte. Aber sie lebt Hunderte von Meilen entfernt.«

»Lass es uns versuchen! Falls es überhaupt noch Hoffnung gibt.« Er nahm ihre Hand. »Cythera, ich weiß, dass du’s nicht hören willst. Aber wir müssen so rasch wie möglich aus dem Vincularium entkommen. Wir können nicht nach Croy suchen.«

Ihr Mund wurde zu einem harten Strich, aber sie wich seinem Blick nicht aus.

»Du hast … recht«, sagte sie so stockend, als hätte er ihr die Worte einzeln abgerungen.

Malden nickte und wandte sich um. Er wollte aus den Zelten in den Rucksäcken eine behelfsmäßige Trage basteln. Aber er blieb stehen, als er sah, dass Slag über den Boden kroch.

»Hör sofort damit auf!«, befahl Cythera.

Slag hielt inne und sah zu den Gefährten auf. »Ihr könnt mich am Arsch lecken«, keuchte er. »Ich weiß, dass ich sterbe. Da braucht ihr gar nicht so blöde zu flüstern. Aber bevor ich den Löffel abgebe, muss ich sehen, was sich hinter dieser Tür befindet. Ich muss wissen, ob es noch da ist.«

Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
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