Kapitel 50
Croy ging in dem Geheimtunnel voraus, Ghostcutter in der Faust. Die Flamme der Kerze in seiner anderen Hand flackerte bedenklich, erlosch aber nicht.
Mörget hinter ihm hatte Mühe, sich durch den schmalen Gang zu zwängen. Er musste sich zwar nur leicht ducken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen, aber die breiten Schultern zwangen ihn, seitlich zu gehen.
Der Korridor beschrieb viele Biegungen, die steil nach unten und dann wieder nach oben führten, und schließlich überlegte sich Croy, ob er das Schwert wegstecken sollte, um eine Hand fürs Klettern frei zu haben. Er entschied sich dagegen – wer wusste schon, was ihn erwartete? So stolperte er vorwärts und suchte Halt an winzigen Vorsprüngen im rauen Fels.
Davon gab es allerdings genug. Croy hatte wenig Zeit, darüber nachzudenken, wer diesen Tunnel gebaut haben mochte und welchem Zweck er diente. Aber ihm war klar, dass es kein Zwerg gewesen sein konnte. Der Felsen war grob ausgehöhlt, überall fanden sich die rechteckigen weißen Spuren von Meißeln. Die Decke war uneben, und er stieß sich mehr als nur einmal den Kopf an Stellen, wo die Arbeit nicht sorgfältig ausgeführt worden war. Gelegentlich wurde der Weg so schmal, dass auch Croy nur noch seitlich vorankam, und Mörget vermochte nur mit vielen Verrenkungen und Grunzern mitzuhalten.
Aber der Barbar beklagte sich nie und schlug auch keine Umkehr vor. Er teilte mit Croy gewisse Ansichten über Feinde, die die Flucht ergriffen, wenn man sich ihnen näherte. Es war kaum anzunehmen, dass ihre Verfolger sie nach ihrer Flucht in Ruhe lassen würden. Viel wahrscheinlicher rief das Bauernmädchen – oder wen immer Mörget da überrascht hatte – gerade Hilfe herbei. Vermutlich bewaffnete und tatkräftige Hilfe. Für einen Ritter wie Croy bedeutete dies, dass in diesem Fall nur Taktik infrage kam. Man stürmte so schnell wie möglich vorwärts, um den Feind zu überwältigen, bevor dieser Gelegenheit hatte, sich zu sammeln.
Croy schwitzte und atmete schwer, als er endlich das Ende des Durchganges erreichte. Dort wartete eine schmucklose Ziegelmauer, die sich durch nichts von jener unterschied, die in den Geheimgang geführt hatte. Er drückte dagegen und erwartete, dass sie sich genauso mühelos öffnete wie die Tür, die sie in der Pilzzucht gefunden hatten. Als die Wand sich nicht bewegte, runzelte er die Stirn. Dann stemmte er sich mit der Schulter dagegen und überlegte, mit dem Gürtelmesser den Mörtel zwischen den Fugen wegzukratzen.
»Lass mich sehen!«, drängte Mörget und schob sich an Croy vorbei. In dem schmalen Tunnel war nicht genug Platz, um Seite an Seite zu stehen, also trat Croy zurück und kam dabei Mörget näher, als ihm lieb war. Zog man die Tatsache in Betracht, dass sie beide mit Mist bedeckt waren, keine angenehme Berührung.
»Die Wand muss sich öffnen. Wir haben keine Nebengänge oder andere Fluchtwege entdeckt«, beharrte Mörget.
»Es sei denn, es gibt eine weitere Geheimtür, die geschickter verborgen ist als die letzte«, entgegnete Croy. »Möglicherweise ist diese Tür ja falsch. Eine Ziegelfassade am Ende des Tunnels.«
»Eine falsche Tür?«
»Eine falsche Geheimtür«, bestätigte Croy.
»Eine falsche Geheimtürfalle«, knurrte Mörget. »Die uns jeder Rückzugsmöglichkeit beraubt, uns dort einsperrt, wo wir nicht ernsthaft kämpfen können. Schlau! Das gefällt mir nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass sie eine Zauberin ist. Sie spielt mit uns.«
»Ich bin sicher, dass sie keine Magie gewirkt hat«, brummte Croy. »Sie ist eine schlichte Pilzbäuerin.«
»Sie ist eine Zauberin und muss vernichtet werden«, beharrte Mörget. Er schien seinen Zorn kaum zügeln zu können.
Da fiel Croy etwas ein. Als Mörget seine Geschichte erzählt hatte, wie er aus den Städten im Osten den Weg nach Ness gefunden hatte, hatte er behauptet, unterwegs gegen viele Zauberer gekämpft zu haben. So hatte er gelernt, wie ein Ancient Blade zu kämpfen.
Jetzt fragte sich Croy, wie viele dieser Gegner wohl tatsächlich Magier gewesen waren – und bei wie vielen es sich bloß um einen Verdacht des Barbaren gehandelt hatte. Wie viele Unschuldige er mit seiner Berserkerwut wohl erschlagen hatte. Der Gedanke verwandelte Croys Blut in Eiswasser. Mörget schien auch nicht aufrichtig daran gelegen zu sein, Cythera und Slag zu retten. Er war viel entschlossener, seinen Dämon zu finden, ob nun Croys Freunde das Unternehmen überlebten oder nicht.
Zum ersten Mal fragte sich der Ritter, wie ehrenhaft Mörget als Gefährte wohl tatsächlich war. Er hatte einige Zeit damit verbracht, die Bergpässe gegen barbarische Angreifer zu schützen. Stets hatte man ihm erzählt, die Ostleute seien ein bösartiges, wildes Volk, kaum menschlich und zu keinem moralischen Handeln imstande. Als er Mörget kennengelernt und entdeckt hatte, dass er eine der magischen Klingen trug, war er zu dem Schluss gekommen, dass das alles bloß Vorurteile waren, dass auch ein Barbar ein ehrenhafter Krieger und tapferer Mann sein konnte.
Er versuchte diese Zweifel zu verdrängen. Im Augenblick störten sie bloß. »Komm!«, sagte er. »Kehren wir zurück. Es muss einen anderen Weg nach oben geben, irgendeine Treppe, die uns zu Cythera und Slag führt und …«
Da war Mörget schon zu keinem Gespräch mehr fähig.
Er brüllte auf und warf sich mit der Schulter so heftig gegen die Wand, dass sich ein anderer die Knochen gebrochen hätte, falls die Ziegel nicht nachgaben.
Glücklicherweise gaben sie nach. Die Tür bewegte sich um einige Zoll und ließ einen Schwall stinkender Luft entweichen. Croy rümpfte die Nase. Zwar erinnerte dieser Gestank nicht an Exkremente, stattdessen aber an verfaulendes Gemüse und verdorbenes Fleisch.
»Zum Höllenpfuhl mit deinen Finten, Zauberin!«, fluchte Mörget und warf sich erneut gegen die Tür, als wolle er den ganzen Tunnel zum Erbeben bringen. Mit lautem Ächzen öffnete sie sich noch weiter. Und Croy zuckte zusammen, als er hörte, wie etwas Schweres mit metallischem Klirren vor der Tür zu Boden krachte.
»Jetzt wissen sie zumindest, dass wir kommen«, knurrte er. Eigentlich neigte er nicht zum Sarkasmus. Aber vielleicht hatte Malden ihn angesteckt.
»Das sorgt nur für einen ausgeglichenen Kampf«, erwiderte Mörget. Er stieß wieder gegen die Tür, und sie sprang auf. Man hatte sie von der anderen Seite versperrt, das war alles.
Mörget schlüpfte durch die Öffnung, und Croy folgte ihm dichtauf – gerade dicht genug, um die Schultern des Barbaren zu packen und ihn zurückzuziehen, bevor er in den Tod stürzte. Hinter der Ziegeltür befand sich ein schmaler Sims, der in eine riesige Halle hinausführte. Der Boden befand sich gute fünfzig Fuß unter ihnen.
Mörget brüllte vor Wut auf und donnerte die geballte Faust gegen die Wand hinter ihm. Der Aufprall erzeugte ein lautes Dröhnen, das von den Wänden widerhallte.
Vielleicht überraschen wir sie nicht, dachte Croy, aber wenn wir Glück haben, jagen wir ihnen solche Furcht ein, dass sie wie gelähmt sind.
Kerzenschein enthüllte nur wenige Einzelheiten der Halle vor ihnen, aber bei ihrem Anblick fiel Croy ein, wie sie weiterkommen konnten. Der Sims war bloß sechs Zoll breit und Teil eines Frieses, der an der Wand entlangführte. Zumindest dies war Zwergenarchitektur – der Fries bestand aus Hunderten ausgemeißelter Zwergenrunen mit erhöhten Punkten zwischen jeder sechsten oder siebten Rune, womöglich um das Ende eines Wortes und den Anfang des nächsten zu markieren. Unter dem Fries hatte jemand eine behelfsmäßige Leiter geschaffen, indem er Haltepunkte in die Mauer geschlagen hatte.
Croy steckte sein Schwert in die Scheide und stieg nach unten. Er war noch nie geschickt im Klettern gewesen, doch er bewegte sich so rasch wie möglich hinab und klammerte sich verzweifelt an den Vorsprüngen fest.
Eigentlich waren sie zu klein für Menschenhände, aber Croy ergriff manche Haltepunkte mit mehreren Fingern und benutzte andere für seine Stiefelspitzen. Vorsichtig und bedeutend langsamer, als ihm lieb war, stieg er zum Boden hinab. In einer Hand die Kerze zu halten, war eine zusätzliche Erschwernis. Die letzten fünf Fuß sprang er und zog das Schwert, sobald er auf festem Untergrund stand.
Mörget hatte Dawnbringer zwischen die Zähne geklemmt und kam hinter dem Ritter unten an.
Als der Barbar leicht wie eine Feder auf die Steinplatten sprang, hatte Croy seine Umgebung bereits ins Auge gefasst. Die Halle hatte eine Länge von ungefähr hundert Fuß und war etwa halb so breit. Die Wände bestanden aus edlem Marmor, der von dunkelgrünen Adern durchzogen wurde. Es gab keine Möbel, Maschinen oder andere Gegenstände, aber an einem Ende war ein gewaltiger Thron aus der Mauer herausgemeißelt worden, ein tiefer Stuhl, zu dem sechs Marmorstufen hinaufführten.
»Ein Audienzgemach. Oder ein Gerichtssaal«, murmelte Croy.
»Früher einmal. Jetzt ist es eine Müllgrube«, erwiderte Mörget.
Sie hatten beide recht. Zu ihren Füßen fanden sie die Eisenstange, die die Geheimtür versperrt hatte. Beim Aufprall hatte sie eine tiefe Furche in den Boden gegraben. Allerdings lag bei Weitem mehr herum als ein einzelner Gegenstand. Lumpen, Holztrümmer und zahllose Teile von Käferpanzern bedeckten den Boden. Faulendes Fleisch und zerschnittene Pilzstücke türmten sich überall. Unter ihren Schritten zerbröckelten Fischgräten.
Nichts davon war frisch – aber auch kein Müll, den Zwerge vor Zeitaltern weggeworfen hatten. Ein Lebender hatte in dieser Halle seinen Abfall entsorgt.
»Bah!«, schrie Mörget und hob einen Fuß, um die Stiefelsohle zu betrachten. Fischgedärm klebte dort. »Was kommt als Nächstes? Müssen wir durch ein Beinhaus kriechen, bevor wir den Dämon finden? Oder durch eine Latrine?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Croy. Er deutete mit dem Schwert auf die andere Seite des Gemaches. Dort erhob sich ein gewaltiger Torbogen, der in die Dunkelheit führte.
Ein vielleicht fünfzehn Fuß langes Ding sickerte über die Schwelle, allerdings veränderte es ständig seine Umrisse, sodass die Größe kaum festzustellen war. Es hatte keine feste Gestalt, sondern bewegte sich vorwärts wie lebendiges Wasser. Die Haut sah schleimig aus, und darunter waren Organe und sogar Gesichter zu erkennen, die mit stummen Schreien voller Qual von unten gegen die Haut drängten.
»Das ist es, oder?«, fragte Croy.
»Oh, aye!«, knurrte Mörget und stieß ein dröhnendes Lachen aus, das durch die Marmorhalle hallte.