Kapitel 18

An diesem Tag legten sie beinahe zwanzig Meilen zurück und brachten die Pferde damit fast an die Grenze der Erschöpfung. »Ich dachte immer, dass Männer auf Pferden reiten, um rascher vorwärtszukommen als zu Fuß«, sagte Malden zu Mörget, als sie vor einem weiteren Meilenhaus anhielten. »Aber ich glaube, zu Fuß wären wir weiter gekommen.«

»Bah! Pferde sollten über kurze Entfernungen galoppieren und nicht in Schrittgeschwindigkeit dahintrotten, wie wir es von ihnen verlangen. Ein Mann zu Fuß kann am Tag eine größere Strecke bewältigen als ein Pferd«, sagte der Barbar. »Allerdings kann er nicht so viel schleppen.« Mörget zügelte die Pferde neben dem Stall – das Anwesen ähnelte dem Meilenhaus Zur Kuh fast zum Verwechseln – und klopfte gegen die Wagenseite, um Slag zu wecken. Der Zwerg starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Wirtshausschild.

»Die Bude heißt Zum Weizenbündel?«, fragte er. »Zuerst die Kuh. Jetzt der Weizen. Ich frage mich, was wohl drinnen an der Wand hängt. Diese Bauern haben wirklich einen beschissenen Einfallsreichtum.«

Croy sprang vom Pferd und schlug dem Zwerg auf den Rücken. Slag hätte sich beinahe in den Staub gelegt. »Zwischen Ness und Helstrow gibt es sieben Meilenhäuser«, erklärte der Ritter. »Sie sind nach den sieben freigiebigen Segnungen der Göttin benannt. Komm, du wirst den Namen vergessen, wenn du erst einen Becher Ale getrunken hast.«

Croy trat ein, und Cythera folgte ihm so dichtauf, dass Malden keine Gelegenheit hatte, ihren Blick einzufangen. Offensichtlich waren ihre Worte in der vergangenen Nacht ernst gemeint gewesen.

»Mein Junge«, murmelte Slag neben ihm, »wäre dein Rivale weniger vertrauensselig als Sir Croy, aus deinem Rücken würde schon längst ein Stück Stahl ragen. Lass sie zufrieden!«

Maldens Wangen brannten. Er sah sich nach Mörget um, aber der Barbar führte bereits die Pferde fort. »Ich weiß nicht, wovon du redest«, erwiderte er.

»Von mir aus. Aber wenn du heute Abend wieder aus dem Zimmer schleichst, dann veranstalte keinen solchen Krach, verstanden?«

In der Gaststube des Meilenhauses Zum Weizenbündel erwartete sie eine bekannte Umgebung – bis zu dem schläfrigen Wirt hinter der Theke. Dieses Mal war der Raum allerdings nicht völlig verlassen. In der Nähe des Feuers saß ein Mann in einem staubigen Umhang und trank Branntwein aus einem Holzbecher. Beim Eintreten der Reisenden blickte er auf und musterte ein Gesicht nach dem anderen, dann glitt sein Blick zu den Gürteln mit den Waffen.

Entweder ein Dieb oder ein Wachmann, dachte Malden, als ihm die berufsmäßige Kälte dieser Blicke auffiel. Er betrachtete die Kleidung des Fremden und entdeckte eine handfeste Keule. Sie war weiß lackiert und steckte so auffällig im Gürtel, dass sie unmöglich zu übersehen war. Das Symbol eines Vogtes, eines Bauernaufsehers – aber dieser Mann war kein einfacher Hofaufseher. Er musste ein Grafschaftsvogt sein. Der örtliche Vertreter des Königs.

Im gleichen Raum wie der Gesetzeshüter zu essen, erfüllte Malden mit Unbehagen, aber er hatte keine Gesetze gebrochen, seit er Ness verlassen hatte, also versuchte er, das Gefühl zu unterdrücken. Dass der Grafschaftsvogt dauernd in seine Richtung sah, als erkenne er den Dieb von irgendwoher wieder, trug nicht zu dessen Beruhigung bei.

Als Malden mit seinem Eintopf und seinem Ale fertig war, verkündete er, erschöpft zu sein und sofort zu Bett zu gehen. Slag schloss sich ihm an. »Du hast doch den ganzen Tag geschlafen«, sagte Malden, als sie allein in ihrer Kammer waren.

»Aye, wie es für einen Zwerg nur natürlich ist. Diese Nacht werde ich nicht schlafen, sondern lesen. Stört dich mein Licht?«

Malden schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich schlafe ein, sobald mein Kopf auf dem Kissen liegt. Eine Kerze stört mich nicht.« Im Bordell, wo er aufgewachsen war, hatte er gelernt, bei Lärm und anderen Ablenkungen zu schlafen. Trotzdem blieb er eine ganze Weile wach.

Der Zwerg entnahm seinem Bündel ein handgroßes Buch. Es sah sehr alt aus, der Ledereinband war an den Rändern abgeschabt und der Rücken gespalten. Wie jedes Buch musste es sehr wertvoll sein; Malden hatte ein Auge für kostbare Dinge. »Was ist das für ein Buch?«, fragte er.

Slag schüttelte den Kopf. »Nichts für dich, also behalt deine diebischen Finger bei dir. Wenn du es unbedingt wissen willst – es ist ein Klassiker der Zwergenliteratur. Harnins Handbuch für Steinflächen und Mühlen. Ein Meisterwerk über das Verhältnis von Materialstärken und spezifischen Dichtetabellen. In meinem Land besitzen jeder Minenarbeiter und jeder Steinmetz ein Exemplar. Es ist auch das einzige Buch, welches das Vincularium erwähnt.«

Malden war völlig erschöpft, aber darüber wollte er mehr erfahren. Trotz Cutbills Vorschlag war er nie dazu gekommen, sich über das Ziel der Reisegruppe kundig zu machen. Dafür hatte es hauptsächlich zwei Gründe gegeben: Vor Cythera hatte er seine Unwissenheit nicht zeigen wollen, und er hatte auch nicht vor, die Gefährten bis zum Vincularium zu begleiten. Er wollte in Helstrow bleiben, wo er vor Prestwicke sicher wäre. Und erst recht vor dem Dämon, den Croy und Mörget jagten.

Dennoch musste er sich eingestehen, eine gewisse Neugier bezüglich des Ortes zu verspüren, zu dem es die anderen hinzog. »Das ist eine Gruft, richtig?«, fragte er in der Annahme, dass der Zwerg darüber Bescheid wusste.

»Aye«, sagte Slag und blätterte um. »Bist du sicher, dass dich das Licht nicht stört?«

»Nein, ganz und gar nicht. Also eine Gruft für einen Zwerg – das würde erklären, warum du unbedingt dorthin willst. Die Gruft deiner Vorfahren soll nicht entweiht werden.«

»Da liegst du völlig falsch. Zwerge haben den Ort erbaut, aber wir waren nicht die Letzten, die dort lebten. Du hast es als Gruft bezeichnet, und aye, genau das ist es auch. Aber davor war es ein Gefängnis.«

Malden riss die Augen auf. Er hatte kein Verlangen, Gräber zu plündern, aber in einen Kerker einzubrechen, war noch schlimmer. Gefängnisse hatten eine besondere Eigenart – und das gehörte für einen Dieb zum Allgemeinwissen: Es war schwer, wieder herauszukommen, wenn man einmal drinnen saß.

»Ein Gefängnis für Zwerge?«, fragte Malden.

»Nein. Für Elfen.«

Malden setzte sich auf seiner Bettstatt auf und starrte den Zwerg an.

»Aye, die verfluchten Elfen«, sagte Slag und legte den Daumen auf die Seite, um die Stelle zu markieren, die er gerade gelesen hatte. »Was weißt du über Elfen, Malden?«

Der Dieb dachte nach. Es gab die allgemeine Redensart, dass jemand oder etwas so tot wie ein Elf war. Jedermann wusste, dass es in Skrae einst nur so von Elfen gewimmelt hatte und dass es nun keine mehr gab. Aber das war auch so gut wie alles, was man darüber wusste. »Spitze Ohren, richtig? Und böse .. angeblich waren sie böse. Manchmal sagt man scharf wie ein Elfenohr, und ein Mann, der eine Hure schlug, wurde einmal als bösartig wie ein Elf beschimpft.«

»Die Ohren, ja, die waren spitz. Was die Bösartigkeit angeht … Nun ich will dir etwas erzählen, das könnte lehrreich für dich sein. Wenn ein Mann schlecht über einen Toten spricht und den Leichnam als böse bezeichnet, kannst du deinen Hintern darauf verwetten, dass er den armen Mistkerl umgebracht hat und eine Entschuldigung braucht. Ich glaube nicht, dass die Elfen viel schlechter waren als du oder ich. Nun, zumindest nicht schlechter als ich. Aber sie führten Krieg gegen die Menschen, und sie unterlagen, also behielt man sie als bösartig in Erinnerung.«

Slag starrte zur Decke, als läse er dort aus einem Geschichtsbuch. »Tatsächlich weiß ich kaum mehr als du über sie. Angeblich waren sie sehr langlebig. Wenn sie nicht im Kampf starben, erreichten sie durchaus ihren achtzigsten Geburtstag.«

Malden keuchte. Das war die doppelte Lebensspanne eines gewöhnlichen Menschen in Skrae. Achtzig Jahre kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. »Aber mittlerweile sind sie alle tot. Wie kam es dazu?«

»Sie lernten die Menschen kennen. Menschen vertrieben sie von ihrem Land. Im Vincularium wollten sie sich zu ihrem letzten Kampf stellen. Vor achthundert Jahren begaben sich die letzten von ihnen an diesen Ort und kamen nie wieder hervor. Vermutlich verhungerten sie oder gingen sich gegenseitig an die Gurgel. Ein Kerker und eine Gruft, wie ich sagte.«

»Ein solcher Ort kann doch nur verflucht sein.«

»Vermutlich.«

»Jeden, der sich dort hineinwagt, erwartet der Tod.«

»Mit ziemlicher Sicherheit. Und falls dich der Klang meiner Stimme nicht in den Schlaf wiegt, könntest du mir den verdammten Gefallen erweisen und mich lesen lassen, ja?«, knurrte Slag. »Ich will in diesem Band nach Hinweisen suchen, was mich dort erwartet.«

»Du willst erfahren, wie du stirbst?«

Slag grunzte leise und warf das Buch zu Boden. »Dann bin ich wenigstens nicht überrascht, wenn es geschieht, richtig? Halt die Klappe, mein Junge, und lass mich lesen!«

Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
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