Bald mußten sich nun auch die Wege des Kühnen und des Friedfertigen trennen. Der Friedfertige hatte viel über die Worte seiner Mutter nachgedacht und betrachtete die Suche nach einer Gefährtin fast als eine Pflicht. Aber dem Kühnen stand der Sinn nach anderen Dingen.
»Wie wäre es, wenn wir uns das frühere Revier des Narbigen einmal näher anschauten?« schlug der Friedfertige vor. Der Kühne wußte schon, warum. Er lächelte. »Wir haben doch noch soviel Zeit«, sagte er. »Die jungen Füchsinnen finden schon nicht alle von heute auf morgen einen Gefährten. Ich möchte mich zuerst ein bißchen in der Welt Umsehen.«
»Du meinst, im Naturschutzgebiet?« fragte der Friedfertige. »Ja, du hast recht, es gibt noch viele Ecken, die wir noch nicht erkunden konnten.«
»Nicht nur das Naturschutzgebiet«, sagte der Kühne ungeduldig. »Außerhalb des Parks wartet die ganze Welt auf uns. Warum sollten wir immer drinnen bleiben?«
Verblüfft und etwas ängstlich starrte der Friedfertige den Bruder an. »Du willst den Park verlassen?« flüsterte er. »Und warum nicht?«
»Aber die vielen Gefahren! Das ist feindliches Gebiet. Warum wohl sind unsere Eltern hierhergekommen?«
»Feindlich!« Der Kühne lachte verächtlich. »In der letzten Zeit ist es auch hier drinnen nicht sehr friedlich zugegangen! Und außerdem, wenn ich den Park verlassen kann, kann ich ihn auch jederzeit wieder betreten.«
»Wenn du dann noch lebst«, sagte der Friedfertige.
»Ach, übertreib nicht«, sagte der Kühne. »Ich glaube einfach nicht, daß man sein Leben schon aufs Spiel setzt, wenn man nur durch den Zaun schlüpft.«
Lange blickten sich die beiden jungen Füchse an, denn beide wußten, daß sich hier ihre Wege trennten. »Also...« begann der Kühne.
»Wir sehen uns doch wieder?« fragte der Friedfertige. »Natürlich, alter Knabe«, sagte der Kühne. »Ich verschwinde ja nicht einfach vom Erdboden.«
Der Friedfertige nickte. »Paß auf dich auf«, flüsterte er.
»Du auch.«
So standen sie noch einen Augenblick und gingen dann ohne ein weiteres Wort ihrer Wege. Der Friedfertige machte sich halbherzig zum Bach auf, der Kühne aber rannte zielstrebig und kräftig in die andere Richtung. Er schnupperte und fiel dann in leichten Trab. Seine Augen suchten nach der Parkgrenze vor ihm.
Der Friedfertige wurde von der Abenddämmerung überrascht, bevor er noch weit gekommen war, und so entschloß er sich, erst einmal etwas für sein Abendessen zu tun. In einem Punkt hatte der Kühne recht: sie hatten wirklich viel Zeit, ehe sie sich nach einer Gefährtin umsehen mußten. Als er gefressen hatte, suchte er sich einen Schlafplatz. Lustlos war er und einsam dazu, aber jetzt gab es keinen Weg zurück in den Bau seiner Eltern. Nicht einmal mehr die Schöne war da. Sie und Stromer suchten nach einem Platz für ihr eigenes Zuhause. Er gähnte einmal, zweimal und rollte sich dann zusammen, legte den Kopf auf den Schwanz und lauschte den Geräuschen der Nacht. In ein paar Minuten war er eingeschlafen.
Der Kühne lief immer weiter, war fast trunken vor Freude über seine Unabhängigkeit und durchlief den Park, durch das grasende Rudel der Weißen Hirsche hindurch und zum Zaun, der die Grenze zur Freiheit war. Dann suchte er entlang des Zaunes nach einem Loch. Endlich hatte er eines gefunden und zwängte sich durch. Jetzt stand er still und beroch die Luft auf der Schwelle zu einer neuen Welt. Seine Ohren waren gespitzt, damit er auch das leiseste Geräusch erfassen konnte. Aber noch nahm er keine fremden Gerüche wahr, hörte keine unbekannten Geräusche. So lief er weiter durch die Nacht.
Früh am nächsten Morgen erwachte der Friedfertige und fand die Schöne und Stromer über ihn gebeugt. Er kam hoch, wedelte zur Begrüßung mit dem Schwanz und schüttelte sich kräftig.
»Stromer und ich suchen nach einer Stelle für unseren Bau«, erklärte die Schöne. »Wir wollen über den Bach und dort weitersuchen, kommst du mit?«
»Vielleicht findest du dort auch etwas«, fügte Stromer lächelnd hinzu.
»Ja, gern«, sagte der Friedfertige. »Das ist für mich eine ganz neue Gegend.«
»Hast du den Kühnen gesehen?« fragte die Schöne.
»Ja. Eine Zeitlang war er noch bei mir, dann wollte er noch weiter die Gegend erforschen.«
Aus irgendeinem Grund — vielleicht aus brüderlicher Treue — erwähnte er nichts von des Kühnen Absicht, das Naturschutzgebiet zu verlassen.
Die Schöne nickte. »Er ist sich selbst Gesetz«, sagte sie.
Die drei jungen Füchse erreichten das Bachufer. Hier hatten sich schon die Gefährtin des Narbigen und viele von Stromers Verwandten versammelt, um weiter nach der Kreuzotter zu suchen. Stromers älterer Bruder führte sie an. Stromer blickte die Schöne verlegen an, denn sie hatte offensichtlich den Zweck der Suche erkannt.
»Ich sage es ihnen jetzt, wie ich dir versprochen habe«, flüsterte er ihr zu. Dann rief er seinen Bruder an. »Ihr braucht nicht mehr zu suchen. Die Schlange ist tot!«
Die Füchse standen still und blickten ihn an.
»Tot? Was meinst du damit?« wollte der Bruder wissen.
»Ich habe sie getötet«, log Stromer ungerührt. »Vergangene Nacht... habe ich sie gefunden.«
»Aber woher willst du wissen, ob es die richtige Schlange war?« fragte sein Bruder.
Stromer mußte schnell denken. »Wir — also — wir haben uns ein bißchen unterhalten«, erwiderte er. »So war ich ganz sicher, bevor ich sie umbrachte.«
Lange starrte der Bruder ihn an. Dann sagte er schließlich: »Schön, es scheint, daß wir nur unsere Zeit verschwenden.« Er schwieg. »Unsere Mutter möchte, daß wir die Leiche unseres Vaters wegschaffen.«
»Dann machen wir es wie schon einmal, als unser Vetter getötet wurde. Wir schieben ihn ins Wasser.«
Der Friedfertige betrachtete die anderen Füchse mit großem Interesse. Eine junge Füchsin gefiel ihm ganz besonders. Er blickte seine Begleiter an. »Warum schwimmen wir nicht rüber?« fragte er.
Also schwammen sie, und Stromer half dem Bruder, den Körper seines Vaters in den Bach zu schieben. Die Strömung nahm ihn mit, drehte ihn und zog ihn langsam bachabwärts. Seine einstige Gefährtin blickte ihm nach.
Ich werde keine Kinder mehr haben, dachte sie. Ich bin alt, ich fühle mich sehr alt, wenn auch mein Körper noch jung ist. Sie wandte sich ab und warf der Schönen und dem Friedfertigen einen prüfenden Blick zu. »Jetzt seid ihr an der Reihe«, sagte sie zu Stromer. »Die Zeiten ändern sich. Trotz all seiner Fehler: einen wie ihn wird es nie wieder geben.«
»Nein«, stimmte ihr Stromer zu. »Das steht fest. Aber komm, Mutter, warum gehst du jetzt nicht nach Hause? Du siehst müde aus.«
»Was macht es noch, wohin ich gehe?« flüsterte sie niedergeschlagen. »Mein Leben ist vorbei. Ich will nie wieder einen Gefährten haben.«
Stromer sagte darauf nichts, führte aber die Schöne weg vom Bach und in eine Gegend, die bis jetzt ausschließlich das Revier des Narbigen gewesen war. Der Friedfertige ließ sie ziehen und mischte sich unter die anderen Füchse. Dabei versuchte er, so dicht wie möglich an die Füchsin heranzukommen, die ihm aufgefallen war.
Sie schien sich seiner Gegenwart bewußt zu sein, denn sie fing an, alle anzuschauen, nur nicht ihn, und machte einen verlegenen Eindruck.
Die Gefährtin des Narbigen wandte sich langsam ab und folgte Stromer und der Schönen. Stromers Bruder und die anderen gingen mit. Dann lösten sich nach und nach die anderen Füchse aus der Gruppe und gingen ihrer eigenen Wege. Schließlich waren nur noch Stromers Mutter, sein Bruder, der Friedfertige und die junge Füchsin übrig. »Meine Mutter ist natürlich sehr traurig«, sagte der Bruder von Stromer zum Friedfertigen. »Aber der Tod meines Vaters bedeutet das Ende des Krieges und aller Rivalität.«
»Ich freue mich, daß du es so siehst«, antwortete der Friedfertige, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, weil er merkte, daß ihn die junge Füchsin musterte.
»Meine Eltern haben mich den Friedfertigen genannt, und friedlich möchte ich leben. Hier im Park sollte es keine Feindschaften geben. Du bist hier geboren, ich auch. Es ist unsere Heimat, und nur das zählt.«
»Ja, so ist es«, bestätigte Stromers Bruder.
Wenn er doch nur mit seiner Mutter endlich ginge, dachte der Friedfertige. Dann schien auch der andere Fuchs etwas zu merken. »Na ja, wir werden uns sicher öfters mal treffen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wohin du willst, aber ich muß jetzt gehen.«
Er entfernte sich, und der Friedfertige war ihm dafür dankbar.
»Mein Vetter ist sehr taktvoll«, sagte die junge Füchsin etwas verlegen. »Ich freue mich, daß wir uns unterhalten können.«
»Und ich wollte dich kennenlernen, seitdem ich dich am Bach gesehen habe«, sagte der Friedfertige. »Wie heißt du?«
»Die Braune«, antwortete sie.
Als der Tag anbrach, hatte sich der Kühne schon weit vom Park entfernt. Er kam sich unheimlich mutig und erwachsen vor. Im Licht des frühen Morgens schwangen sich die Lerchen aus dem Gras hoch in den Himmel und jubelten, so laut sie konnten. Das Land war in seiner Leere und Weite eine Herausforderung.
Der Kühne stillte seinen Durst in einer Pfütze und ließ sich die Morgenbrise durch den Pelz wehen. Hier konnte man noch leben. Für ihn gab es keine beengenden Grenzen! Unermüdlich lief er weiter, und es dauerte einige Stunden, bevor er den ersten Menschen erblickte. Und auch dann war es nur ein einsamer Wanderer mit einem kleinen Hund — viel kleiner als der Kühne. Der kräftige junge Fuchs lachte bei dem Anblick und sauste laut bellend an den beiden Gestalten vorbei. Warum nur hatten seine Eltern diese herrliche Welt verlassen? Hier war er sein eigener Herr. Und er lief weiter, immer weiter, dem Horizont entgegen.