Die Rote brach den Zauber, als sie aus ihrer Erstarrung fand und ungezwungen auf den Dachs zulief. Sie schien sich überhaupt nicht an ihren früheren Kampf zu erinnern.
»So sehen wir uns also wieder«, schnurrte sie.
Der Dachs nickte. »Diesmal hoffentlich unter glücklicheren Vorzeichen«, traute er sich zu sagen.
»Gewiß«, war die Antwort. »Ich bin mir klar, daß ich dir mein Leben verdanke. Nun — wie geht es dem Falken?«
»Sehr gut. Und dir?«
»Könnte nicht besser sein«, antwortete die Katze. »Aber ich bin doch froh, daß ich zurück bin. Ich wurde viele Kilometer entfernt zu einem Ort gebracht, wo ich mit vielen anderen Katzen zusammen in einen Käfig gesperrt wurde, während mein Herr — das heißt, der Mann ins Krankenhaus mußte.« Der Dachs mußte lächeln, weil die Katze sich versprochen hatte, die Rote lächelte auch. Sie und der Dachs konnten einander nichts mehr vormachen.
Der Fuchs und die Füchsin kamen zur Begrüßung, und der Alte Hirsch führte sein Rudel fort.
»Ihr seht alle viel glücklicher als beim letzten Mal aus«, meinte die Rote. »Und es freut mich, Fuchs, daß du ein bißchen zugenommen hast.«
»Ach ja«, antwortete der Fuchs. »Es waren ziemlich harte Zeiten für uns, aber wir haben es durchgestanden.«
Dem Dachs fielen die letzten Worte der Kröte ein, bevor sie in den Winterschlaf gegangen war. Sie hatte sich so gewünscht, daß sie alle durchkämen. Wie lange war das nun schon her. Jetzt, da die Temperaturen stetig anstiegen, konnten sie mit dem baldigen Wiedersehen ihrer Freunde rechnen. Aber natürlich waren nicht alle durchgekommen. Das würde die Kröte sogleich an ihrer Anzahl merken.
»Du siehst so nachdenklich drein, Dachs«, stellte die Rote fest. »Woran denkst du?«
»Ach, an gar nichts«, war die Antwort. »Mir fielen nur ein paar alte Freunde ein.«
Jetzt gesellten sich das Wiesel, der Waldkauz, der Hase und das Kaninchen zu ihnen.
»Dreimal haben wir die Menschen besiegt«, sagte das Kaninchen stolz. »Sie müssen glauben, daß der Park verhext ist.«
»Meinst du die, die wir gerade geschnappt haben?« fragte die Rote. »Was hat es denn vorher gegeben? Ihr müßt mir alles erzählen.«
»Wird gemacht«, sagte der Dachs. »Ein andermal, meine Liebe. Für diese Nacht reicht es.«
Dem Hasen lag es auf der Zunge, zu sagen, daß er von seinem Vetter, dem Kaninchen, bei den beiden anderen Gelegenheiten nicht viel gesehen habe, ließ es dann aber doch bleiben. Jetzt war nicht der Augenblick für sinnlose Kritik. Die Tiere und der Waldkauz sagten der Roten auf Wiedersehen und trotteten langsam in Richtung Heimat. »Ich glaube, nun können wir mit Recht feiern«, sagte die Füchsin zu ihrem Gefährten.
»Ja, das meine ich auch. Jetzt haben unsere Sorgen wirklich ein Ende.«
»Es sind aber noch nicht alle da«, sagte der Dachs. »Wir können nicht so unhöflich sein und Igel und Kröte dabei übergehen.«
»Pah, wer weiß, wann die zurück sind«, meinte das Oberste Kaninchen. »Außerdem waren sie an unseren Abenteuern doch gar nicht beteiligt.«
Jetzt hielt es den Obersten Hasen nicht länger. »Ich glaube, einige der Anwesenden haben sich kaum mehr daran beteiligt als sie«, sagte er anzüglich. Die Bemerkung entging den anderen nicht, auch nicht dem Obersten Kaninchen. Es schaute ein wenig verlegen zur Seite.
»Schon gut, das zählt jetzt nicht«, sagte der Dachs besänftigend. »Ich glaube, wenn wir ein Fest zusammen feiern wollen, braucht keiner besondere Leistungen nachzuweisen.«
»Warum veranstalten wir nicht ein Doppelfest?« schlug die Füchsin vor. »Einmal, um unser überleben im ersten Winter im Hirschpark zu feiern, und dann, um unsere Freunde bei ihrer Rückkehr aus dem Winterschlaf zu begrüßen?«
»Füchsin, das ist eine umwerfende Idee!« sagte der Dachs. »Meinst du nicht auch, Fuchs?«
»Ja. Ist übrigens schon jemandem von euch aufgefallen, daß keiner an die Kreuzotter gedacht hat?«
»Das ist so ein Fall von >aus den Augen, aus dem Sinn<«, bemerkte der Waldkauz. »Aber sie gehört ja nicht gerade zu den sympathischsten Kreaturen.«
»Trotzdem können wir nicht ohne sie feiern«, erklärte der Dachs bestimmt. »Auf ihre Art ist sie uns eine treue Freundin gewesen.«
»Und gerade ich habe Grund, das nicht zu vergessen«, murmelte die Füchsin.
»Also vertagen wir die Feier bis zum Frühling«, beendete das Wiesel die Diskussion.
»Vielleicht nicht so lange. Das erste richtig warme Wetter weckt die Igel auf, und wahrscheinlich auch die Kröte. Ich weiß aber nicht so genau, wie lange Schlangen schlafen müssen.«
Der Februar ging seinem Ende zu, die letzten Reste von Schnee und Eis schmolzen dahin. Der lange, harte Winter, der schon so früh begonnen hatte, gab schließlich auf. Alles deutete darauf hin, daß man einen warmen Frühling erwarten durfte — und vielleicht schon früher als gewöhnlich. Eine sanfte Brise wehte, der Boden war weich und matschig von geschmolzenem Schnee. Fast jeden Tag schien die Sonne und verhinderte, daß der Park im Wasser ertrank.
Die ersten Knospen zeigten sich, als die Igel aus ihrem Bett aus Blättern und Zweigen krochen. Ihr erster Gedanke galt dem Fressen, und wegen des milden Wetters gab es Insekten, Schnecken und Spinnen in so reicher Fülle, daß sie nie darauf gekommen wären, daß ihre Freunde die vorangegangenen Monate gegen den Hunger gekämpft hatten. Nachdem der Oberste Igel großartig gespeist hatte, begann er nach seinen alten Reisegefährten zu suchen.
Wie immer war der Turmfalke der erste, der die Bewegung erspähte. Er ließ sich hinunterfallen, um seine eben aufgetauchten Freunde zu begrüßen. »Hallo, Igel! Hallo«, schrie er im Herabfallen.
»Turmfalke! Wie schön, dich zu sehen«, rief der Igel beglückt. »Wie ist es dir ergangen?«
»Besser als den meisten«, erklärte der Turmfalke. »Wie hast du geschlafen?«
Der Igel lachte. »Wie ein Klotz — wie üblich«, war seine Antwort. »Und die anderen? Ist es ihnen gut ergangen?«
»Leider nicht allen. Du hast eine Menge Ungemach verschlafen, seitdem wir dich zuletzt gesehen haben.«
»O weh, o weh. Ist der Winter so streng gewesen?«
»Der schlimmste, an den wir alle, sogar der Dachs, uns erinnern können«, erwiderte der Turmfalke.
»Sag«, bat der besorgte Igel, »ist jemand gestorben?«
»Viele«, sagte der Falke bloß. »Von den Wühlmäusen ist nur noch ein Pärchen übrig — die Oberste Wühlmaus und seine Gefährtin — und von den Feldmäusen nur um eine mehr. Auch die Kaninchen haben schwer gelitten. Und die Eichhörnchen haben böse Verluste gehabt.«
»Wie schrecklich!« entsetzte sich der Igel. »Das hatte ich nicht erwartet. Aber der Fuchs, der Dachs, die Füchsin...?«
»Die größeren Tiere haben alle überlebt — aber nur mit knapper Not. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nahe wir alle dem Tode waren. Ich glaube, dieser Winter hat bei uns allen Spuren hinterlassen.«
»Ist der kleine Maulwurf dann...?«
»Nein, nein. Dem geht es gut. Ich glaube, der hat weniger gelitten als die anderen. Es scheint so, daß er bei kaltem Wetter leichter an seine geliebten Würmer herankommt — sie können sich dann nicht so schnell bewegen.«
Der Igel nickte. »Und die anderen Vögel?«
»Nun ja, der Kauz und der Pfeifer leben auch. Aber nicht nur der Winter hat uns zugesetzt.«
»Du liebe Zeit! Was denn noch?«
»Komm mit zu den anderen, und du wirst die ganze Geschichte hören. Ich treffe dich im Bau des Dachses.«
Der Igel setzte seinen Spaziergang fort und war schon bald von etlichen Tieren umringt. Alle zusammen erzählten sie ihm von den schrecklichen Ereignissen der letzten Monate. Als sie geendet hatten, war er erleichtert und froh, daß er wenigstens ein paar Freunde wiedergefunden hatte.
»Und das alles habe ich selig verschlafen«, sagte er verwundert.
»Das war auch am besten so«, sagte der Hase. »Du hast es wenigstens gut gehabt.«
Das Erscheinen der Igel kündigte den Tieren an, daß ihre arg zusammengeschrumpfte Gruppe bald wieder vollzählig sein würde. An einem besonders warmen Morgen Anfang März beschlossen alle, einen Gang zum Teich zu machen, denn der Dachs war ganz sicher, daß dieses milde Wetter die Kröte und die Kreuzotter dazu verlocken würde, aus dem Unterschlupf zu kriechen.
Als sie sich dem Wasser näherten, dem Schauplatz des winterlichen Dramas, konnte man schon Leben entdecken. Die Eßbaren Frösche waren aufgewacht und tobten wild im Wasser oder saßen am Ufer und quakten, und in ihrer Nähe, auf einem besonnten Hang, wer lag da und nahm genußvoll ein Sonnenbad — die Kreuzotter.
»Mmmm«, murmelte sie schläfrig, als sie die Gruppe erblickte, »sprecht mich nicht an. Ich bin noch nicht richtig da.«
Die Tiere lachten und überhörten ihre Bitte.
»Wohl noch nicht ganz munter«, korrigierte sie der Fuchs und meinte die fröhlich plätschernden Frösche in ihrer Nähe, »aber ganz sicher wach.«
»Wo ist die Kröte?« fragte der Dachs. »Hast du sie allein gelassen?«
»O nein«, lispelte die Kreuzotter gedehnt. »Als ich aufwachte, war das Loch leer. Sie muß beschlossen haben, die Sonne noch vor mir zu begrüßen.«
»Wo sie wohl sein mag? Wir können sie doch nicht verpaßt haben?«
»Keine Ahnung«, sagte die Schlange. »Aber bitte — geht weg. Laßt mich weiterdösen.«
»Diese ungesellige, alte Dingsda«, knurrte der Waldkauz. »Im Augenblick bekommen wir nichts Vernünftiges aus ihr heraus.«
Der Fuchs suchte nach dem Patriarchen des Teiches, dem Alten Frosch, der die Kröte am besten kannte. Vielleicht konnte der ein wenig Licht in die Sache bringen. Er fand ihn, naß und glänzend, wie er die Szene von einem flachen Felsenstück aus beobachtete.
»O ja, ich habe sie gesehen«, war die Antwort auf die Frage des Fuchses. »Vor zwei Tagen. Sie war auf dem Weg zur Parkgrenze.«
»WAS!?«
ja, in die Richtung ging sie.«
Die Tiere waren verblüfft. Was mochte sie nur Vorhaben? »Vielleicht hat sie ihre Erinnerung verloren«, piepste der Maulwurf. »Ich meine, während ihres langen Schlafes«, fügte er hinzu, weil ihm bewußt wurde, daß seine Worte vielleicht albern waren.
»Du scheinst eher deine verloren zu haben«, zischte ihn die Kreuzotter an. »Ist doch ganz klar, was passiert ist. Es ist Frühling. Die Kröte kehrt zu ihrem Geburtsort zurück.« Und ihre roten Augen funkelten in der Sonne, als sie verächtlich die erstaunten Gesichter betrachtete. »Sie ist auf dem Weg zum Farthing-Wald.«