Als sie hinter dem Parkzaun in Sicherheit waren, liefen die fünf Freunde sogleich zum Tiefen Grund. Vorsichtig stellte der Pfeifer das Glas ab, und sie alle standen und blickten es an. Inzwischen konnte auch die Kröte die Gesichter erkennen und hüpfte verzweifelt auf und ab.
»Und was machen wir jetzt?« fragte der Turmfalke. Der Pfeifer ruhte seinen schmerzenden Schnabel aus, er konnte kein Wort hervorbringen. Die drei Tiere starrten die Kröte im Glas an und überlegten. Die Kröte setzte sich auf und starrte zurück.
Schließlich meinte der Pfeifer: »Der anderen Kröte ist gar nichts passiert, als ich das Glas fallen gelassen habe. Ich schlage vor, wir machen es noch einmal.«
Der Fuchs schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht riskieren. Die andere Kröte hatte Glück, daß sie sich nicht am Glas verletzte. Aber soviel Glück haben wir nicht noch einmal.«
»Wenn der Deckel nicht bald herunter ist, kann die Kröte ersticken«, sagte der Dachs besorgt. »Wir wissen nicht, wie lange sie schon drin ist.«
»Wenn wir nun einen großen Stein suchen und ihn auf das Glas fallen lassen?« schlug der Turmfalke vor.
»Wer könnte schon einen großen Stein tragen?« fragte der Fuchs zurück. »Außerdem wäre das für die Kröte noch gefährlicher.«
»Ich glaube, es gibt nur einen Weg, sie herauszubekommen«, sagte die Füchsin.
»Und der wäre?«
»Der Wildhüter«, war die Antwort.
»Bravo!« rief der Dachs. »Wir bringen ihm das Glas. Er kann es öffnen.«
»Du kluge Ratgeberin, du hast es wieder einmal getroffen«, lächelte der Fuchs sie an. »Pfeifer, kannst du das Glas noch ein wenig länger tragen?«
»Der Geist ist willig, Fuchs, aber mein armer Schnabel ist schwach. Wenn es allerdings eine Sache auf Leben und Tod ist...«
»Ich fürchte, das ist es«, sagte der Fuchs. »Wir treffen dich beim Wildhüterhäuschen.«
Und so wurde die erstaunte und verzweifelte Kröte noch einmal in die Luft gehoben, und noch einmal sah sie, wie die Dinge unter ihr immer kleiner wurden. Als sie dann wieder abgesetzt wurde, kam zu ihrem Entsetzen das Gesicht einer Katze auf sie zu, starrte sie an und erschreckte sie noch mehr. Der Pfeifer stand neben dem Glas, aber warum, wußte sie nicht. Er war so groß, daß er keine Angst vor dem Haustier des Wildhüters zu haben brauchte. Er wußte, es würde noch eine Zeit dauern, bis der Fuchs, der Dachs und die Füchsin eintrafen, denn auch ohne Schnee war es ein langer Weg. Der Turmfalke hielt sich diskret im Hintergrund.
»Was hast du denn da?« wisperte die Rote und strich um das Glas.
»Ein guter Freund von mir«, antwortete der Pfeifer, »der sich in Schwierigkeiten gebracht hat.«
»Das kann ich sehen. So einfach kommt er nicht wieder heraus.«
»Allein nicht, nein. Ist dein Herrchen zu Haus?«
»Ich habe kein...«, begann die Rote, dann zuckte sie die Schultern. »Kann sein«, sagte sie. »Jetzt verstehe ich. Er soll dir helfen. Trag das da vor seine Tür, und ich versuche dann, seine Aufmerksamkeit zu erregen.«
Der Pfeifer tat, wie ihm geheißen, und die Rote stimmte vor der Tür ein entsetzliches Gejaule an. Keine Antwort. »Dann muß ich ihn eben holen«, sagte sie und schlüpfte durch ihr Katzenloch. Der Pfeifer hörte ihr Miauen und Jaulen auch drinnen, und schließlich öffnete sich die Tür. Auf sanften Pfoten trat die Rote nach draußen, ein verwunderter Wildhüter folgte ihr.
Der Mann schaute sich um und erblickte einen Reiher, der ein großes Glas mit Inhalt bewachte. Er wußte nicht, wie er sich diesen Anblick erklären sollte. Der Pfeifer beschloß, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Kraaank«, kreischte er heiser und schob dem Mann das Glas vor die Füße. Der bückte sich, nahm das Glas hoch und sah die Kröte darin. Der Pfeifer klapperte so aufgeregt mit dem Schnabel, daß es sich wie Kastagnetten anhörte. Der Mann blickte ihn und dann das Glas an. Er wußte, daß Reiher Frosch- und Krötenfresser waren, und mußte daher annehmen, daß der Vogel eine gute Mahlzeit gefunden hatte und nun nicht an sie herankam. Er schraubte den Deckel ab und ließ die Kröte vorsichtig herausgleiten, denn er wollte sie vor den wartenden Raubtieren retten. Aber noch bevor er das kleine Tier aufheben konnte, hüpfte die Kröte auch schon so schnell sie konnte in Deckung.
Die Rote sah die Bewegung und setzte zum Sprung an, aber der Pfeifer kam ihr zuvor. »Überlaß das nur mir, liebe Kröte«, sagte er und senkte vorsichtig den Schnabel. Gebannt sah der Wildhüter zu, wie der Reiher, anstatt sofort zuzubeißen, wie zu erwarten war, die Kröte sanft hochhob und mit ihr in den Park zurückflog.
Der Fuchs, der Dachs und die Füchsin sahen den Pfeifer mit der Kröte im Schnabel geflogen kommen und hielten an. Als sie auf dem Boden saß, schlossen sie einen Kreis um sie, und als sie zögernd einen Fuß vor den anderen setzte, leckten sie sie, um ihr Mut zu machen.
»Liebe alte Kröte«, sagte der Dachs mit Tränen in den Augen. »Was für ein Abenteuer! Wie gut, daß du jetzt wieder bei uns bist.«
»Danke, Dachs, vielen Dank«, sagte die Kröte. »Und vor allem vielen Dank, lieber Pfeifer. Ich hätte nie gedacht, daß ich euch alle noch einmal Wiedersehen würde.«
»Warum hast du das nur getan? Warum hast du den Park verlassen?« fragte der Fuchs. »Wir haben dich heute morgen am Teich gesucht, da hat uns die Kreuzotter gesagt, daß du weg bist.«
»Ich kann nicht anders, Fuchs«, war die Antwort. »Ich weiß, es ist dumm, aber im Frühling muß ich einfach in meine Heimat zurück. Ich verliere dann wohl die Kontrolle über mich. Es ist mir, als ziehe mich eine Macht weg, die größer und stärker ist als ich.«
»Aber jetzt ist das hier deine Heimat«, sagte der Dachs. »Es gibt keine andere Heimat für dich. Deinen Geburtsplatz gibt es nicht mehr.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich muß einfach gehen.«
»Nun weißt du ja, was passiert, wenn du dich draußen vor dem Park herumtreibst«, ermahnte sie der Fuchs. »Du hast Glück gehabt, daß wir dich gefunden haben.«
»Glaubst du etwa, das weiß ich nicht? Ihr seid alle so vernünftig. Alles, was ihr sagt, stimmt ja. Ihr müßt mich zurückhalten.«
»Vielleicht hätten wir dich in dem Glas lassen sollen, bis du wieder vernünftig bist«, sagte der Dachs und lachte.
»Wenn die Kreuzotter nicht mehr geschlafen hätte, als ich aufwachte«, meinte die Kröte, »hätte sie mich vielleicht zurückgehalten. Wie schön, euch alle wiederzusehen. Wo sind die anderen? Geht es ihnen gut?«
»Nicht allen«, sagte die Füchsin leise. »Es war ein grausamer Winter, Kröte. Einige deiner Freunde können dich nicht mehr begrüßen.«
»Aber — aber — bestimmt — «, stammelte sie, »sind — doch noch — mehr da als — nur ihr vier?«
»O ja«, versicherte ihr der Fuchs. »Den Turmfalken hast du schon gesehen. Dann ist noch der Maulwurf da und der Hase mit seiner Familie — einer aber fehlt, und fast alle Kaninchen, und die Eichhörnchen und das Wiesel. Und dann der Waldkauz — der ist nicht totzukriegen.«
»Und alle Mäuse?«
»Nun ja — nein, nicht alle. Ehrlich gesagt, nicht sehr viele. Sie hat es am schlimmsten getroffen.«
»Und die Igel?«
»Ach, denen geht es gut. Sie haben alles verschlafen, genauso wie du und die Kreuzotter.«
»Und du hast dich einfach von allem gedrückt, ohne auch nur einmal vorbeizuschauen, ob wir noch alle am Leben sind«, sagte der Dachs spitz.
»Ach, Dachs, ich habe solche Schuldgefühle«, sagte die Kröte verzweifelt. »Wie konnte ich das? Ich wußte doch gar nicht, daß ihr so sehr zu leiden hattet.«
Die Freunde schwiegen, als sie ihren Kummer sahen.
Wie immer sprach der weichherzige Dachs zuerst. »Wie können wir dir helfen?« fragte er.
»ich weiß es nicht«, sagte die Unglückliche. »Vielleicht solltet ihr mich nicht aus den Augen lassen — wenigstens bis die Paarungszeit vorbei ist.«
»Wir können ja in Schichten arbeiten«, spaßte der Dachs.
»Es gibt noch viel mehr über diese Zeit, die du nicht da warst, zu erzählen«, sagte der Fuchs. »Und die Kreuzotter hat auch noch nichts davon gehört. Du willst doch die anderen sicherlich treffen? Wir sollten wie üblich im Tiefen Grund Zusammenkommen. Seit dem letzten Herbst sind wir noch nicht alle wieder beisammen gewesen.«
»Eine ausgezeichnete Idee«, stimmte der Dachs zu. »Wir müssen alle benachrichtigen. Hm — Kröte, willst du erst einmal bei mir bleiben? Zu deiner eigenen Sicherheit, du weißt schon. Würdest du bitte auf meinen Rücken klettern?« Während seine Freunde unten mit der Kröte beschäftigt waren, hatte sich der Turmfalke wie üblich damit vergnügt, in mühelosem Flug über den Park zu gleiten, sich hochzuschwingen und wieder fallen zu lassen. Dann bemerkte er etwas, was seine Neugier erweckte, und er stieß zur Erde. Durch das Loch im Zaun, durch das der Fuchs, der Dachs und die Füchsin vor kurzem aus dem Park geschlüpft waren, kam eine dicke Kröte hereingekrochen, sie war ganz allein — und genau die, die der Pfeifer gerettet hatte. Der Turmfalke landete und sprach den Fremdling an. »Suchst du hier jetzt Unterschlupf?« fragte er. »Das wäre nicht unklug von dir.«
»Irgendwie schon«, antwortete die Kröte. »Es ist doch meine Heimat. In diesem Teich hier wurde ich geboren. Jetzt ist Frühling, und seit ich aus dem Winterschlaf erwacht bin, bin ich auf dem Weg hierher. Im Sommer bin ich viel auf Wanderschaft, und im vergangenen Winter habe ich außerhalb des Parks Winterschlaf gehalten.«
Die Ironie des Ganzen wurde dem Turmfalken bewußt. Seine Kröte und diese Fremde hier waren in entgegengesetzter Richtung zu ihrem Geburtsplatz aufgebrochen und hatten sich in der Mitte am Bachufer getroffen. »Wie seltsam«, murmelte er. Die Kröte sah ihn verwundert an, also mußte er ihr eine Erklärung geben.
»Ja, ja, so geht es«, meinte die Kröte. »Wir haben nicht miteinander sprechen können. Ich war schon in einem Glas, als die kleinen Menschen deinen Freund einfingen. Ich glaube, er schwamm im Bach.«
»Also kehrst du zur Paarung zurück?« fragte der Falke.
»Ja, um diese Zeit bin ich voller Laich«, erwiderte die Kröte und gab damit kund, daß sie ein Weibchen war. »Wenn ich einen Gefährten gefunden habe, lege ich unter Wasser die Eier ab, und dann befruchtet er sie.«
Der Turmfalke starrte die Kröte an. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen. »Entschuldigung, aber bei Amphibien kenne ich mich nicht so aus. Ich habe gar nicht gemerkt, daß du eine Frau bist. Wie heißt du denn?«
»Pogge«, war die Antwort.
»Wie nett, dich kennenzulernen. Ich glaube, unser Freund wird das sehr interessant finden«, meinte der Turmfalke. »Ich möchte mich noch für meine Rettung bedanken«, sagte Pogge. »Jetzt können meine Kinder in Sicherheit aufwachsen.«
»Wir sehen uns hoffentlich bald wieder«, sagte der Falke höflich. »Jetzt aber verlasse ich dich, damit du deine Reise fortsetzen kannst.« Und schon hatte er die Flügel ausgebreitet.
In der Luft ließ er sich von den warmen Aufwinden tragen und dachte nach. Ganz unerwartet hatte er vielleicht das entdeckt, was die Kröte im Hirschpark zurückhalten mochte. Vielleicht konnte der Wunsch nach einer Gefährtin sie ihren Wanderdrang in Richtung Farthing-Wald vergessen lassen.