Ein paar Tage lang war alles ruhig im Hirschpark. Beim letzten Eindringen der Wilddiebe hatte wieder ein Kaninchen aus dem Farthing-Wald sein Leben lassen müssen — denn die Männer hatten wild in die Gegend gefeuert. Dem Fuchs ging dieser Verlust näher als frühere, weil er wußte, daß er selbst indirekt den Tod eines seiner Freunde verursacht hatte. Das Oberste Kaninchen hatte ihm von dem Tod Nachricht gegeben. »Wieder einer weniger«, hatte es gesagt und beschrieben, wie es den Körper gefunden hatte. »Und dieser Park sollte unsere Zuflucht werden! Was für eine Zuflucht ist das, wenn von den Kaninchen nur noch ein paar aus dem Farthing-Wald übrig sind?«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Fuchs betrübt. »Das gleiche haben mir die Oberste Wühlmaus und die Oberste Feldmaus auch schon gesagt. Wie betrüblich. Wer hätte aber auch einen so schrecklichen Winter vorausahnen können — oder diese neue Bedrohung. Ein Naturschutzpark sollte doch ein geschützter Ort für alle frei lebenden Tiere sein. Diese Mörder achten nicht einmal ihre eigenen Gesetze!«
»Hoffen wir, daß wir, was den Winter betrifft, das Schlimmste hinter uns haben«, sagte das Oberste Kaninchen. »Aber wie ist es mit den Menschen?«
»Weiß ich nicht«, gab der Fuchs offen zu. »Vielleicht kommen sie wieder. Vielleicht auch nicht. Laß uns versuchen, die Sache optimistisch zu betrachten.«
»Ich schätze, etwas anderes bleibt uns auch nicht übrig.«
»Jedenfalls«, sagte der Fuchs ermunternd, »habt ihr Kaninchen bald wieder genug Nachkommen, da bin ich ganz sicher. Ihr erholt euch schnell...«
»Warum nur sind wir einzig dafür bekannt, daß wir uns so schnell vermehren?« wollte das Oberste Kaninchen wissen.
»Ich wette, wir sind auch nicht fruchtbarer als die Mäuse. Aber du weißt doch, daß wir bei Gefahr keine Lust haben, Nachkommen großzuziehen. Wir sind doch so ängstlich.«
»Daß ihr ängstlich seid, weiß ich«, sagte der Fuchs. »Die Flußüberquerung werde ich niemals vergessen.« Das war jener Zwischenfall auf dem langen Marsch der Tiere zum Park gewesen, bei dem die Kaninchen den Kopf verloren und damit allerlei Unheil heraufbeschworen hatten.
»Ja, ja«, nickte das Oberste Kaninchen. »Ich kann es auch nicht vergessen, selbst wenn ich wollte.«
»War nicht böse gemeint«, sagte der Fuchs schnell.
»Macht nichts«, war die Antwort. Dann lächelte das Oberste Kaninchen. »Wo sonst auf freier Wildbahn würde ein Fuchs wohl so nett mit einem Kaninchen plaudern?«
Auch der Fuchs mußte lächeln, und als das Kaninchen sich zum Gehen wandte, dachte er, um wieviel besonnener und vernünftiger es doch seit ihrer Wanderung geworden war. Nachmittags erschien der aufgeregte Turmfalke beim Fuchsbau. Seine durchdringenden Schreie alarmierten den Fuchs und die Füchsin, ins Freie zu stürzen.
»Was ist los, Turmfalke? Mein Gott, bist du aufgeregt.«
»Ich habe gerade diese gräßliche Rote erspäht. Sie streicht im Garten des Wildhüters umher«, kreischte er.
Der Fuchs deutete den Grund für die Aufregung des Turmfalken falsch. »Beruhige dich doch, beruhige dich«, sagte er. »Du mußt jetzt eben aufpassen, daß du ihr nicht zu nahe kommst, dann greift sie dich schon nicht an. Deine Wunden sind doch gut verheilt, oder?«
»Nein, darum geht es nicht«, schrie der Turmfalke. »Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Du scheinst nicht begriffen zu haben, was ihr Auftauchen bedeutet. Der Wildhüter muß zurück sein!« Und er blickte so triumphierend in die Runde, als ob er den Mann und die Katze persönlich zurückgeholt hätte.
»Natürlich!« fiel dem Fuchs ein. »Die Katze verschwand ja zur gleichen Zeit. Aber, Turmfalke, bist du dir ganz sicher?«
»Ich habe, um ganz sicherzugehen, noch ein bißchen abgewartet«, antwortete der Turmfalke. »Ich wollte dir doch eine gute Nachricht bringen.«
»Das sind wirklich gute Nachrichten«, sagte die Füchsin. »Es bedeutet, daß wir alle wieder frei atmen können. Jetzt wagen sich die Wilddiebe nicht zurück.«
»Ich fliege sofort zurück und sehe nach, ob ich auch unseren Beschützer entdecken kann«, bot sich der Turmfalke an. »Dann können wir die Nachricht verbreiten.«
»Das ist ein Fest wert«, freute sich der Fuchs. »Wenn der Wildhüter zurück ist, dann haben unsere Sorgen ein Ende.« Und der Wildhüter war zurück, viele Tiere sahen ihn später am Tag auf seiner Inspektionsfahrt. Der Dachs und der Fuchs standen beim Dachsbau und schwatzten.
»Ob er die Veränderungen bemerkt?« überlegte der Dachs. »Wenn wir ihm doch nur von den Tieren erzählen könnten, die umgebracht worden sind.«
»Wenn er das Rudel der Weißen Hirsche durchzählt, wird er schon darauf kommen, daß einige fehlen«, meinte der Fuchs. »Vielleicht aber schöpft er gar keinen Verdacht.«
»Ich wünschte, diese Mörder würden vor ihn gebracht«, knurrte der Dachs. »Warum sollen sie unbestraft bleiben?«
»In dieser Sache können wir gar nichts unternehmen«, sagte der Fuchs. »Zumindest aber werden nicht noch mehr Lebewesen im Park durch ihre Hand sterben.«
Der Fuchs konnte nicht ahnen, daß der Wunsch des Dachses in Erfüllung gehen und die Tiere aus dem Farthing-Wald es sein würden, die die Verbrecher der Gerechtigkeit zuführten. Denn die Wilddiebe, die nichts von der Rückkehr des Wildhüters erfahren hatten, machten genau eine Fahrt zuviel zum Hirschpark.
Der schlaue Fuchs konnte vielleicht besser erahnen als die anderen Tiere, wie Menschen dachten und handelten, und er behielt mit den Vermutungen recht, die er gegenüber dem Alten Hirsch geäußert hatte. Die Wilddiebe schienen immer noch entschlossen, sich zu rächen, obwohl ihnen klar war, daß sie um das Rudel der Weißen Hirsche ab nun besser einen Bogen machten. Ausgerechnet an diesem Abend betraten sie wieder den Park, jedoch an einer anderen Stelle. Sie brannten nur so darauf, es den Tieren mit ihren Pistolen heimzuzahlen.
Befreit von dem Zwang, nachts in Deckung zu bleiben, waren viele der Tiere, unter ihnen auch der Waldkauz, in Geschäften unterwegs, als sie wieder Schüsse hörten. Jeder, egal wo er sich gerade befand, erstarrte in der Bewegung. Wie üblich waren auch Fuchs und Füchsin zusammen auf Jagd. »Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte die Füchsin. »Sie sind doch nicht etwa zurückgekommen?«
»Das Geräusch kam von dort«, deutete der Fuchs in die Richtung. »Von dort habe ich es noch nie gehört.« Er dachte mit gerunzelter Stirn nach. »Diese verdammten Mörder«, sagte er mit heiserer Stimme. »Los, Füchsin, wir machen uns besser auf den Rückweg.«
Aber die Füchsin rührte sich nicht.
»Was ist los?« fragte der Fuchs. »Hier können wir nicht bleiben.«
»Vielleicht wäre es besser, nicht zurückzugehen«, war die etwas rätselhafte Antwort der Füchsin.
Erstaunt blickte der Fuchs sie an.
»Erinnerst du dich an deinen früheren Plan?« sagte sie. »Der Garten des Wildhüters? Aber das ist doch jetzt, wo er zurück ist, nicht mehr nötig. Mit diesen Männern soll er sich jetzt abgeben.«
»Genau«, erwiderte seine Gefährtin. »Und wir können ihn zu ihnen führen — oder besser sie zu ihm.«
»Donnerwetter!« entfuhr es dem Fuchs. »Ist das nicht ein bißchen zu gewagt für uns?«
»Ja, sicher«, sagte sie. »Aber wollen wir nicht alle, daß sie geschnappt werden? Ich denke, dazu könnten wir ein bißchen beitragen.«
Wie schon so oft staunte der Fuchs über seine Gefährtin. »Du bist einfach wunderbar«, sagte er. »Ich glaube, wir schaffen es. Aber wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein.« Als er den Schuß hörte, handelte der Waldkauz ganz automatisch. Er flog auf der Stelle in die Richtung, aus der der Schuß kam, um die Gefahr zu orten. Er sah die Männer, aber dieses Mal kein Opfer. Die Schüsse hatten nicht getroffen. Schnell flog er zurück in Richtung Heimat, und als er aus der Luft den Fuchs und die Füchsin erspähte, berichtete er, was er gesehen hatte. Der Fuchs beauftragte ihn damit, den Dachs, das Wiesel und alle, die er noch finden konnte, zu warnen, sie zu alleräußerster Vorsicht zu ermahnen und ihnen den Plan der Füchsin darzulegen. Geräuschlos machte sich der Waldkauz davon.
»Ich will das allein machen«, sagte der Fuchs. »Ich möchte dich nicht auch noch in Gefahr bringen.«
»Ich bleibe etwas zurück«, war ihre Antwort. »Aber ich werde direkt hinter dir sein.«
Der Fuchs schlich durch die Schatten, um sich selbst den Wilddieben als Köder anzubieten, während die Füchsin ihm in zwanzig Meter Abstand folgte. Schnell hatten sie die Männer ausgemacht, die mit Stöcken in Blättern und Erde stocherten, um jedes Tier, das sich zufällig darunter versteckte, aufzustöbern. Im Schutz einer dicken Eiche bellte der Fuchs, wie er schon einmal gebellt hatte. Die Männer blickten auf und sahen unter den Bäumen eine schemenhafte Gestalt. Und schon hatte das Jagdfieber sie gepackt, sie feuerten wild drauflos. Der Fuchs rannte geduckt durch das Wäldchen in Richtung des Wildhüterhäuschens. Hinter den Männern folgte die Füchsin, bebend vor Angst, jedoch mit äußerster Wachsamkeit.
Der Waldkauz hatte den Dachs, den Hasen, das Wiesel und das Kaninchen aufgetrieben. Dann flog er, den Alten Hirsch und das Rudel der Weißen Hirsche zu benachrichtigen. Alle kamen sie aus verschiedenen Richtungen auf das Wildhüter haus zu. Niemand wollte bei diesem Abenteuer zurückstehen, vor allem aber verspürte das Oberste Kaninchen den Wunsch nach Rache. Im Wildhüterhäuschen brannte Licht. Der Wildhüter hatte die Schüsse auch gehört und wollte nachsehen. Der Dachs erblickte sogar die Rote, wie sie draußen vor der Tür herumstrich. Alles schien für den Endkampf vorbereitet zu sein.
Haken schlagend, raste der Fuchs auf die Lichter zu, mäßigte aber sein Tempo, damit die Männer hinter ihm blieben. Als er sich seinem Ziel näherte, sah er vor der Tür den Wildhüter stehen, und links vom Häuschen tummelte sich das Hirschrudel weiß und geisterhaft. Zu spät erkannten die Wilddiebe, wohin sie liefen, und standen still. Als sie versuchten, ihrem Schicksal zu entgehen, brauste das Hirschrudel auf sie zu, umringte sie und warf sie zu Boden. Der Wildhüter kam herbeigeeilt und rief etwas zurück. Während sich der Fuchs und die Füchsin erleichtert unter ihre zuschauenden Freunde mischten, kam ein zweiter Mann aus dem Haus gelaufen, in dem der Dachs den Tierarzt erkannte. Die Wilddiebe wurden gefesselt und ins Haus geführt. Auf der Schwelle drehte sich der Wildhüter einen Augenblick lang um, betrachtete die vielen wilden Tiere. Es war ein seltsamer Anblick, sie so vor seinem Haus versammelt zu sehen. Alle blickten sie ihn an, und dann trat in sein Gesicht ein Ausdruck von soviel Mitgefühl und Liebe, daß es ihre Herzen wärmte. Der Augenblick ging vorüber, aber er hatte etwas so Zeitloses an sich, daß sie ihn nie vergaßen. Als er die Tür schloß, herrschte vollkommenes Schweigen.
Schließlich begann der Alte Hirsch zu sprechen, etwas stockend zwar, denn er war sehr bewegt. »Meine Freunde«, sagte er, »seit heute haben wir einen neuen Bund geschlossen. Heute sind wir eins mit der Natur und — hm — eins mit der Menschheit.«
Niemand sprach oder bewegte sich. Luft und Erde schienen den Zauber der Stunde zu spüren, und ebenso alle anwesenden Tiere. Ein Abglanz des Paradieses, das keines von ihnen kennen konnte, schien einen Augenblick lang über dem Park zu liegen.