Nach etwas mehr als einer Minute hatte der Kühne sich etwas erholt. Er erzählte, wie der Narbige und sein Rudel ihn in der vergangenen Nacht eingekreist hatten und er sich darauf gefaßt machte, nun zu sterben.
Der Maulwurf schrie auf. »Wie entsetzlich! Was hast du ihnen denn getan?«
»Nichts«, antwortete der Kühne, »außer daß ich ihren Anführer einmal gedemütigt habe. Aber ihn drückt der Mord an meiner Schwester. Er muß angenommen haben, daß ich ihn rächen wollte.«
»Was, du allein gegen so viele?« Der Dachs wollte es nicht glauben.
»Nein, nur gegen ihn.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß...« fing der Dachs an. »Also, ich meine... wenn dein Vater nicht...«
»Ach, mein Vater ist zu vorsichtig«, sagte der Kühne.
»Auf freier Wildbahn muß man vor allem vorsichtig sein, wenn man überleben will«, sagte das Wiesel spitz. »Jetzt suchen dich dein Vater und deine ganze Familie im fremden Revier, dort, von wo du gerade entwischt bist.«
»Wir müssen sie aufhalten — sie zurückholen«, rief der Kühne.
»Wie stellst du dir das vor? Ihnen nachlaufen?« wollte der Igel wissen. »Dazu sind wir zu klein und zu wenige.«
»Aber ich war doch auch ganz allein und habe sie überlistet«, rief der Kühne ein wenig prahlerisch.
»Dann erzähle uns, wie«, sagte der Hase. »Darauf warten wir immer noch.«
»Also, wie ich schon sagte, ich wurde umzingelt. Glücklicherweise war es Nacht, und die Füchse hatten wohl mehr die Jagd im Sinn. Der Narbige befahl seinen Henkersknechten, mich in einen leerstehenden Bau zu bringen, und das taten sie. Ich wurde hineingestoßen, während sich an allen Ausgängen Wachen aufstellten.«
»Und dann?«
»Die Wächter mußten Zurückbleiben, während die anderen auf Jagd gingen.«
»Wie lange sind sie denn weggeblieben?« fragte der Maulwurf. »Du mußt doch schreckliche Angst gehabt haben?«
»Keine Ahnung. Mir war nur klar, daß ich niemals lebend aus dem Bau herauskommen würde, wenn sie erst alle zurück waren. Ihr Jagdfieber bedeutete für mich Rettung. Ich fing also ein Gespräch mit einer der Wachen an und lockte ihn in den Bau. Er war nicht so groß wie ich, also stürzte ich mich mit gefletschten Zähnen auf ihn. Er wollte ausweichen, da änderte ich meine Richtung und schoß aus dem Ausgang. Einmal draußen, sauste ich an den anderen Wachen vorbei, und dann rannte und rannte ich einfach, ich wußte ja, ich rannte um mein Leben.«
»Wie kommst du zu dem Kratzer an der Schulter?« wollte der Dachs wissen.
»Auf dem Rückweg gab es einen Kampf. Als ich, ohne nach rechts und links zu blicken, rannte, so schnell ich nur konnte, lief ich direkt in zwei Füchse hinein, die gerade dabei waren, ihre Beute anzupirschen. Einer von ihnen machte einen halbherzigen Versuch, mich anzuspringen, und erwischte mich an der Schulter. Ich glaube nicht, daß sie mich erkannten. Sie sahen in mir wohl nur einen Rivalen, der ihnen ihre Beute wegnehmen wollte.«
»Da hast du aber wirklich Glück gehabt«, sagte der Dachs, »daß du heil und gesund zurück bist.«
»Ich glaube, ich verdanke es mehr meiner Gerissenheit und meinen flinken Füßen«, entgegnete der Kühne.
Nicht zum ersten Mal bemerkte der Dachs den Ton der Angeberei in den Worten des Kühnen.
»Mag sein«, gab er zu. »Aber deine Unbesonnenheit, in dieses Gebiet einzudringen, hat das Leben deiner Familie in Gefahr gebracht, und ein bißchen auch unseres.«
»Mein Vater paßt schon auf, daß niemandem etwas geschieht«, sagte der Kühne.
»Aber er tappt doch im dunkeln«, warf der Dachs ein. »Er weiß nicht, wo du bist, und solange er das nicht weiß, wird er immer weitersuchen.«
Jetzt sah der Kühne nicht mehr so selbstsicher und fröhlich drein. »Können wir ihn nicht benachrichtigen?« schlug er vor.
»Aber wir wissen doch nicht, wo er ist. Der Turmfalke und der Waldkauz haben sich auf die Suche nach ihm gemacht. Und wenn sie ihn finden, dann wissen sie wiederum nichts von dir, oder?«
»O weh, ich scheine da eine Menge Scherereien verursacht zu haben.«
»Du mußt lernen, erst zu denken und dann zu handeln«, sagte der Dachs streng. »Das ist die Vorsicht, von der das Wiesel vorhin gesprochen hat.«
»Ich sehe es ein, Dachs, und möchte mich entschuldigen. Kann ich irgend etwas tun?«
»Das glaube ich nicht. Und wir anderen können genausowenig tun, ehe wir mehr über die Situation wissen. Wir können nur warten, bis die Vögel zurückkommen.«
»Ich wette, es hat eine Menge Ärger gegeben, als der Narbige von der Jagd zurückkam und du weg warst«, freute sich der Maulwurf. »Warum sie wohl nicht nach dir gesucht haben?«
»Das plötzliche Auftauchen der Familie des Kühnen wird sie abgelenkt haben«, überlegte das Wiesel. »Auf jeden Fall können sie sich jetzt denken, daß er heil zurück ist.«
»Und ich bin an allem schuld«, sagte der Kühne niedergeschlagen. »Ich habe euch in diese Schwierigkeiten gebracht.«
»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn der Dachs freundlich. »Wenn du nur daraus etwas lernst.«
Das Eichhörnchen kam den Baumstamm heruntergesaust. »Der Turmfalke kommt!« rief es und sprang mit einem Satz zu Boden. Kaum war es bei ihnen, als auch schon der Turmfalke neben ihnen landete. Als er den Kühnen erblickte, rief er erstaunt: »Du lieber Himmel! Wie kommst du denn hierher?«
Der Dachs berichtete.
Böse blickte der Turmfalke den Kühnen an. »Dein Vater steht deinem Feind gegenüber und fordert deine Herausgabe, und ganze Zeit bist du hier in Sicherheit«, kreischte er.
»Wo ist mein Vater? Gibt es Schwierigkeiten?« fragte der Kühne hastig.
»So könnte man es wohl nennen«, zischte der Falke. »Wie ist es also — soll ihm das große Glück zuteil werden, von dir gerettet zu werden?«
Der Kühne merkte nichts von dem Sarkasmus des Vogels. Er wollte nur wissen, wo seine Familie war. »Bitte, Turmfalke«, bat er, »wo ist er — und wo sind die anderen?«
Der Turmfalke wurde milder gestimmt, als er aus der Stimme des Jungen echte Besorgnis heraushörte. »Deine Mutter und deine Schwester sind in Sicherheit. Sie haben sich etwas weiter weg versteckt. Offenbar ist dein Vater zuerst allein ins feindliche Lager gegangen, aber dein Bruder ist dann hinterhergelaufen.«
»Du mußt die Schöne und die Füchsin sofort zu uns holen«, sagte der Dachs. »Sag ihnen, daß der Kühne in Sicherheit ist. Gewiß hat der Narbige dem Fuchs längst erzählt, daß er den Kleinen nicht mehr hat?« fügte er hinzu.
»Ich weiß nicht, was sie ihm erzählt haben, aber der Fuchs und der Friedfertige sind wirklich in Gefahr. Die Feinde haben sie völlig umzingelt.«
Der Kühne schluckte heftig. »Ich maß ihnen helfen, ich bin an allem schuld«, jammerte er.
»Du bleibst hier!« sagte der Dachs scharf. »Wenn deine Mutter und Schwester zurück sind, dann geht ihr alle in den Bau. Der Fuchs findet schon einen Ausweg, das weiß ich.« Aber seine Worte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er wirklich um das Leben seines Freundes bangte.
Der Turmfalke machte sich wieder auf, und bald gesellten sich die Füchsin und die Schöne zu ihnen und wurden vom Kühnen überschwenglich begrüßt.
»Ich habe den Turmfalken gebeten, den Fuchs zu benachrichtigen«, sagte die Füchsin und blickte den Dachs besorgt an. »Wie kann er ihnen entkommen?« flüsterte sie.
»Durch seinen überlegenen Verstand«, meinte der Maulwurf bestimmt. »Den hat der Narbige nun einmal nicht.« Die Füchsin dankte mit einem müden Lächeln für diesen Versuch, sie zu trösten. »Ich glaube, der Kauz ist bei ihm. Vielleicht können die zwei...« Sie verstummte. Und dann schwiegen alle.
Der Kühne wurde immer unruhiger. Dann rief er plötzlich: »Da kommt mein Bruder!«
Tatsächlich, da kam der Friedfertige, aber nie hatte man ein traurigeres und verzweifelteres Tier gesehen als ihn. Er schlich zu seiner Mutter und leckte sie hilflos. Dann sah er den Kühnen an. »Ich freue mich, daß du heil und gesund bist«, sagte er. »Aber unser Vater zahlt dafür, daß die Mutter und wir Kinder in Sicherheit sind.«
Sofort redeten alle Tiere auf einmal. »Was meinst du da-juit?« _ »Was ist passiert?« — »Ist er tot?« — »Was haben sie mit ihm gemacht?«
Der Friedfertige sah sie alle mit ausdruckslosem Blick an. »Damit ich gehen konnte, hat Vater sich selbst dem Feind angeboten. Sie können mit ihm machen, was sie wollen.«
»Was werden sie ihm antun? Nein, wie schrecklich!« rief die verzweifelte Füchsin. »Friedfertiger, du hättest bei deinem Vater bleiben müssen«, klagte sie.
»Das wollte ich doch«, entgegnete dieser. »Aber er hat darauf bestanden — ja, er hat es mir befohlen, zu gehen.«
»Und der Kauz? Der Turmfalke? Sind die bei ihm?« fragte die Füchsin verzweifelt.
»Ja. Die Vögel bleiben bei ihm. Aber was können die schon gegen ein Dutzend feindlicher Füchse ausrichten?«
»Ein Dutzend!« riefen alle Tiere zugleich und sahen sich entsetzt an, und jeder hoffte, irgendwer würde eine Lösung finden. Mit jeder Minute, die verging, sah der Kühne jämmerlicher aus. Er schien in sich zusammenzusinken, als er das volle Ausmaß seiner Unbesonnenheit erkannte.
Der Dachs, der jetzt der Anführer war, wußte, daß er eine Entscheidung treffen mußte. Aber welche? Die kleine Freundesgruppe hatte gegen die Übermacht von einem Dutzend Füchse überhaupt keine Chance. Verzweifelt suchte er nach einer Lösung. Eins nach dem anderen blickten die anderen Tiere ihn hilfesuchend an.
Er stand auf, schüttelte sich und versuchte eine entschlossene Miene zu zeigen. »Liebe Freunde, wir sitzen ganz schön in der Patsche«, sagte er. »Wir können uns nicht auf den Feind stürzen und den Fuchs befreien. Wir würden nur in unseren eigenen Tod laufen. Kaninchen und Eichhörnchen und Maulwürfe können gegen ein Heer von Füchsen nichts ausrichten. Nein, das dürfen wir nicht riskieren. Es besteht also kein Grund, noch länger hierzubleiben; es ist besser, wir kehren in unsere Behausungen zurück, solange wir das noch können.«
Erstaunt sahen ihn die anderen an. »Aber wir können ihn doch nicht so einfach im Stich lassen«, sagte das Wiesel. »Aber nein. Ich werde zu ihnen gehen. Wenn wir unsere Stärke demonstrieren, bringen wir die Feinde nur noch mehr auf. Sie sollen wissen, daß ich jemand bin, mit dem man vernünftig reden kann. Und mein Argument wird sein, daß sie dem Fuchs etwas für seine Bemühungen im vergangenen Winter schulden, als er den Hirschpark von den Wilddieben befreit hat.«
»Das könnte eher schaden als nützen«, warnte das Wiesel. »Erinnerst du dich nicht, wie die Wilddiebe Füchse geschossen haben, nur weil sie hofften, daß einer davon unser Fuchs wäre — der ihnen so im Wege war? Der Narbige kann den Fuchs für diese Morde verantwortlich machen. Er hat ihnen damit doch gar keinen Dienst erwiesen.«
Aber so leicht ließ sich der Dachs nicht von seinem Plan abbringen. »Jedenfalls«, setzte er fort, »verdanken sie ihm die Festnahme der Wilddiebe durch den Wildhüter — und das war gewiß für alle Tiere im Park von Nutzen. Und dann bin ich ja auch schon ziemlich bejahrt. Wenn etwas schiefläuft, dann trage lieber ich die Konsequenzen, als daß ihr sie tragt. Ihr habt Familie oder seid noch jung und...«
»Lieber Dachs!« rief der Maulwurf. »Laß mich mitkommen. Geh nicht allein! Die Füchse werden sich um mich gar nicht kümmern. Ich zähle ja nicht. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß dir etwas zustößt!«
Der Dachs mußte über seinen treuen Freund lächeln. »Nein, Maulwurf, alter Junge, das geht nicht. Ich bin sehr gerührt, aber — nun ja, ich würde mir die ganze Zeit deinetwegen Sorgen machen, und das würde mich doch behindern, wirklich, meinst du nicht auch?«
Darauf wußte der Maulwurf nichts mehr zu sagen.
»Und nun«, fuhr der Dachs fort, »geht bitte alle nach Hause. Der Fuchs und ich kommen ganz sicher heil zurück — ihr werdet sehen. Friedfertiger, würdest du mir bitte den Weg beschreiben?«
Als das geschehen war, blickte der tapfere alte Dachs sie alle noch einmal schüchtern lächelnd an und machte sich auf den Weg, bevor sie seinem Plan überhaupt zustimmen konnten. Alle dachten daran, wer nun, da ihre beiden gewählten Anführer sich in solche Gefahr begeben hatten, die Farthing-Wald-Tiere anführen sollte.