Am folgenden Nachmittag stürmten wieder Scharen von Jungen, die meisten bis zum Kinn gegen die Kälte eingemummt, in den Park zum Schlittschuhlaufen. Seit Monaten war das Revier der Eßbaren Frösche nun schon zugefroren, aber es gab Anzeichen dafür, daß die Temperatur ein wenig angestiegen war. An ein paar Stellen glitzerten kleine Wasserpfützen auf dem Teich. Aber die Jungen störte das nicht, sie schnallten sich die Schlittschuhe an, nachdem sie das Eis gründlich untersucht hatten, und dann vergnügten sie sich.
Aus einem schneebedeckten Binsengestrüpp beobachtete der Fuchs ihr Treiben sehr genau. Er mußte lachen, als ihm einfiel, wie oft hier die Kreuzotter im Sommer am Wasserrand gelauert und den Eßbaren Fröschen bei ihren Wasserspielen geduldig zugesehen hatte. Sein Lauern jetzt hatte ganz andere Gründe.
Nach etwa einer Stunde hatte er alles gesehen, was er sehen wollte. Vorsichtig, damit ihn nicht ein Paar scharfer junger Augen entdeckten, schlich er zurück zum Bau. Die Füchsin erwachte bei seinem Eintritt. Sie blickte ihn fragend an. »Noch nichts.« Mehr sagte er nicht.
Während der nächsten Tage wurde das Wetter merkbar milder, die Sonne kämpfte sich zeitweise durch die Wolkenbänke, die so lange den Himmel verhüllt hatten. Jeden Tag lag der Fuchs am Teichufer auf der Lauer. In der zweiten Nacht kamen die Männer erneut, und wieder mußte ein Hirsch sterben. In dieser ganzen Zeit hatte der Alte Hirsch den Fuchs nicht zu Gesicht bekommen. Nun überlegte er doch, ob man nicht lieber das Naturschutzgebiet verlassen sollte.
Aber am darauffolgenden Nachmittag sah der Fuchs das, worauf er gewartet hatte. Die Kinder kamen und stellten fest, daß ihre Schlittschuhbahn kleiner geworden war. Fast ein Drittel des Teiches war nicht mehr zu benutzen, und schon bald verließen sie das Eis, um Schlitten zu fahren. Dem Fuchs war klar, daß es jetzt an der Zeit war, dem Alten Hirsch einen Besuch abzustatten.
Schweigend lauschte der König des Parks, als der Fuchs seinen Plan darlegte, dann hob er herausfordernd den Kopf: »Jetzt können sie kommen«, röhrte er. Der Fuchs wartete nicht länger. Es gab noch viel zu tun.
Zuerst sollte auch die Füchsin dem Plan zustimmen. Während ihrer Wanderung zum Hirschpark hatte er sie oft um Rat gefragt und die Erfahrung gemacht, daß man sich auf ihr Urteil verlassen konnte. Sie hörte ruhig zu und schaute dann bewundernd zu ihm auf. Ihre Begeisterung brauchte sie gar nicht mehr in Worten auszudrücken. Nun holte der Fuchs all seine Freunde zusammen und entwarf seinen Plan. Alle waren damit einverstanden, einzig der Waldkauz nicht, aber das hatte man schon vorher gewußt. Er gab nur widerwillig seine Zustimmung.
»Ich sehe überhaupt nicht ein, warum du dich soviel um das Hirschrudel sorgst«, krächzte er. »Solange die Menschen sie abknallen, sind wir nicht gefährdet.«
»Aber noch weniger gefährdet, wenn sie überhaupt nichts zum Abknallen haben«, gab der Fuchs kühl zurück.
»Sehr gut«, sagte der Dachs. »Jetzt müssen wir die Wachen aufstellen.«
Sie arbeiteten ein System aus, wie sie die Grenze des Parks, da, wo man die Wilddiebe erwartete, bewachen wollten, damit sie bei deren Ankunft rechtzeitig Alarm geben konnten. Auf den Zaunpfählen kauerten in regelmäßigen Abständen der Waldkauz, der Turmfalke und der Pfeifer. Auf der Erde warteten das Wiesel, der Hase, der Dachs und die Füchsin. Auf halbem Weg zwischen der Parkgrenze und dem Teich hatte sich der Fuchs postiert, während am Teich selbst der Alte Hirsch darauf wartete, seine Rolle im Großen Plan zu spielen.
So verging die erste Nacht, und bei Morgengrauen kehrten die Tiere nach Hause zurück, ohne daß sich etwas ereignet hatte. In der zweiten Nacht waren alle wieder auf ihrem Posten. Obwohl es noch kalt war, hatte der Wind seine Schärfe eingebüßt, die sonst wie ein Messer durch Fell und Federn geschnitten hatte. Der Schnee, der den Boden nun schon so lange bedeckte, war weicher und auf der Straße draußen vor dem Park von den Autos zu Schneematsch zerfahren worden. Das Geräusch quatschender Stiefel im Matsch war für die Tiere das erste Anzeichen, daß sich die Männer näherten.
Die scharfen Ohren des Wiesels vernahmen sie zuerst. Weil es aber so klein war, konnte es die Straße nicht einsehen. Schnell lief es zu dem Zaunpfahl, auf dem der Waldkauz hockte. »Ich höre Schritte!« rief es. »Sind sie es?«
»Ich sehe etwas kommen«, erwiderte der Waldkauz. »Warte
- ja, zwei Gestalten... Ja! Ja! Schnell! Benachrichtige die anderen! Ich fliege zum Fuchs!« Und schon schwang er sich in einem weiten Bogen über die Baumkronen. Das Wiesel gab die Nachricht an die anderen weiter, und zusammen eilten sie durch den Park zurück. Der Fuchs sah, wie der Waldkauz auf ihn zusegelte, und machte sich bereit.
»Zum Teich!« krächzte der Waldkauz. »Sie kommen!«
In halsbrecherischem Tempo sprang der Fuchs über Stock und Stein, dabei die Atemluft in kleinen Dampfwolken ausstoßend. Als erste waren der Turmfalke und der Pfeifer in Sicherheit. Die Füchsin, das Wiesel und der Dachs hatten eine weite Strecke zu laufen, wenn sie immer vor den Männern bleiben wollten. Nur der Hase war auf dem Boden fast genauso schnell wie die Vögel in der Luft.
Der Fuchs hatte sie angewiesen, sich zu verstecken, sobald er benachrichtigt sei. Im Versteck waren sie sicher vor den Gewehren der Wilddiebe. Die Männer waren hinter größerem Wild her. Aber es lag nicht in der Art der Tiere aus dem Farthing-Wald, ein solch bedeutendes Ereignis zu verpassen — noch dazu eines, bei dem sich ihr Anführer in Gefahr brachte. Daher hatten sich die langsameren Tiere selbst dazu verurteilt, eine ermüdend lange Strecke durch den Park zu laufen, um über die Vorgänge auf dem laufenden zu sein. Von den dreien war die Füchsin bei weitem die flinkste, und sie ließ das Wiesel und den Dachs genauso schnell hinter sich, wie der Hase sie hinter sich gelassen hatte. Das Wiesel, kleiner und geschmeidiger als der Dachs, kam in seiner flotten Gangart schneller voran. Aber es blieb bei ihm und paßte sich dem Gang des älteren Tieres an. Während seine Freunde sich beeilten, zu ihm zu stoßen, war der Fuchs auf dem Weg zum Alten Hirsch. Der König des Rudels hatte mit ihm vereinbart, jede Nacht am Teich zu wachen, bis der Fuchs käme. Er senkte den Kopf, als er das wohlbekannte rotbraune Tier auf sich zulaufen sah. »Halte — dich — bereit«, keuchte der Fuchs mit heraushängender Zunge. »Sie kommen.«
»Das ist also die Nacht«, murmelte der Hirsch. »Ruh dich etwas aus, mein Freund. Du siehst abgekämpft aus.«
»Nein, ich — darf — nicht anhalten — muß — meine Aufgabe — zu Ende — bringen«, kam es stoßweise. »Ich — will ganz — sichergehen — dä3 sie — dich auch finden.« Und weg war er, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war — den Männern mit den Gewehren entgegen. Er kam an einer schwarzen Pappel vorbei, in deren Zweigen Waldkauz, Turmfalke und Pfeifer eng aneinandergeschmiegt saßen. Aber sie riefen ihn nicht an, und er sah sie auch nicht. Den Hasen sah er wohl, hatte aber keine Zeit anzuhalten und sauste an ihm vorbei. Als nächstes traf er die Füchsin, die ihm einen liebevollen Blick zuwarf. Fast war er versucht, im Laufen zurückzublicken, aber um des Großen Planes willen durfte er auch sie nicht beachten. Als er dann in der Ferne den Dachs und das Wiesel entdeckte, ließ er sich zu Boden fallen, denn dahinter näherten sich schicksalsschwer zwei bedrohliche Schatten.
»Geht in Deckung«, befahl er seinen Freunden, als sie ihn erreicht hatten. »Kein Grund, daß sich von uns jemand unnötig in Gefahr begibt.«
Sie rannten weiter, und der Fuchs machte sich bereit zu dem Spiel, das ihn das Leben kosten konnte.
Im schneebedeckten Ried am Teich kauerte der Hase. Er sah, wie der Alte Hirsch nervös den Kopf hochwarf, als er mit zitternden Beinen am Rande des Eises stand. Die Füchsin fand den Hasen und legte sich. Sie konnte nicht sprechen. Ihr Herz hämmerte wild. Schließlich kamen auch das Wiesel und der Dachs herbeigehuscht. Da lagen sie nun und warteten.
Zwanzig Meter vor den Männern erhob sich der Fuchs und bellte laut. Das Signal wurde verstanden, und aus einem kleinen Wäldchen trat das Rudel der weißen Hirsche, langsam, ängstlich zu zweien und dreien, hervor. Die Männer standen still. Einer deutete auf sie, und man konnte ihre Stimmen hören. Sie musterten das Rudel genau, und der Fuchs wußte wohl, wonach sie suchten. Aber der, auf den sie es abgesehen hatten, war nicht dabei. Wieder waren die menschlichen Stimmen zu hören — hart und rauh. Die Tiere standen. Noch einmal bellte der Fuchs, und dann lief er auf sie zu. Die Hirsche stoben auseinander und rannten, wie verabredet, in Richtung des Teiches. Ein wütender Aufschrei der Männer, nun zeigten sie auf den Fuchs. Das war doch das Tier, das sie schon einmal um ihre Beute gebracht hatte. Der Fuchs raste hinter dem Rudel her, als ob er es vertreiben wolle. Jetzt hatte er die Männer im Rücken, jeder Nerv, alle seine Muskeln waren so straff gespannt wie Gitarrensaiten. Seine Nackenhaare sträubten sich, er wußte, dies war ein Spiel mit dem Tod. Schließlich mußte er einfach einen Blick zurückwerfen. Er sah, wie einer der Männer das Gewehr hob. Der Lauf zielte auf ihn, die Ursache ihrer Wut. Aber der Fuchs hatte nicht die Absicht, sich abschießen zu lassen. Er schlug einen Haken, rannte, drehte wieder ab und schlug den nächsten Haken, wie ein Hase, dem die Hunde auf den Fersen sind. Ein Schuß knallte, verfehlte aber sein Ziel.
Jetzt liefen auch die Männer, denn ihre Beute wollten sie nicht fahrenlassen. Ein Hirsch mußte es sein, wenn sie schon den nicht haben konnten, um dessentwegen sie gekommen waren. Das Rudel erreichte den Teichrand und verteilte sich so, daß der Teich verdeckt war. Jetzt betrat der Alte Hirsch das Eis. Vorsichtig bewegte er sich und machte bei jedem Schritt eine kleine Pause, bis er den äußersten Punkt erreicht hatte, wo das Eis noch hielt. Als die Männer näher heran waren, drehte das Rudel nach rechts ab und ließ den Alten Hirsch ganz allein und ungeschützt auf dem Eis zurück. Die Männer sahen, daß auf der linken Seite des Teiches die Bahn frei war. Der Hirsch hatte seinen Kopf abgewendet, so als ahnte er nichts von ihren Absichten. Schritt für Schritt bewegten sie sich vorsichtig über das tückische Eis. Dieses Mal sollte er ihnen nicht entkommen. Als sie aber die Gewehre hoben, bellte der Fuchs ein drittes Mal. Der Kopf des Alten Hirsches fuhr herum, er sah die Männer und sprang mit einem riesigen Satz ans Ufer. Jetzt waren die Wilddiebe blind für alles andere. Wieder wollte ihre Beute ihnen entwischen. Sie liefen weiter, wollten das fliehende Tier anvisieren, und da — platsch, rutschten ihre Füße plötzlich unter ihnen weg, und sie fielen tief, sehr tief ins eisige Wasser. Die Gewehre warfen sie fort, wollten sich retten, schlugen wild um sich und versuchten, sich an irgend etwas festzuklammern.
Am Rande der Eisfläche drehte der Alte Hirsch sich um und sah, wie die Waffen, die ihn töten sollten, in den schlammigen Tiefen des Teiches versanken, ihre Besitzer hatten sie weggeworfen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Jetzt war klar, daß der Plan des Fuchses tadellos geklappt hatte, und so legte er den Kopf zurück und röhrte seinen Triumph laut hinaus. Der Fuchs wurde von seinen begeisterten Freunden umringt — seinen alten Freunden und dem ganzen Hirschrudel. Der Alte Hirsch gesellte sich zu ihnen. »Das«, strahlte er, »war ein Meisterstück, das wahrscheinlich nie mehr übertroffen werden kann.«
Während die Tiere Freudentänze vollführten, kämpften sich die Männer ans Ufer zurück. Der Teich war nicht tief, ertrinken konnten sie nicht, waren nur einmal tüchtig eingetaucht und nun in Gefahr, eine böse Erkältung zu kriegen. Ihre Stimmen klangen jetzt eher besorgt als wütend, während sie frierend und tropfnaß aus dem Wasser stiegen. Einen Blick warfen sie noch auf die Tierschar, der sie diesen Reinfall verdankten, dann machten sie sich auf den ungemütlichen Heimweg. Ihr Ungemach hatte so schnell noch kein Ende, denn sie mußten durch den ganzen Park zurück und dann die matschige Straße entlang, bevor sie hoffen konnten, ins Trockene und Warme zu kommen. Mit jedem Schritt scheuerten ihre eiskalten und durchnäßten Kleider an ihrer Haut, nie hatten sie etwas so Unangenehmes erlebt.
»Ich glaube, die sehen wir nie wieder«, meinte der Hase. »Fuchs, das ist dein größter Tag. Sogar auf unserer langen Reise hast du so etwas nicht zustande gebracht.«
Der Fuchs fühlte, wie die Bewunderung der Tiere wie eine Flutwelle an ihm hochstieg, und war vor allem zufrieden, daß sein Plan reibungslos funktioniert hatte. Nur die Füchsin quälte trotz ihres Stolzes nagender Zweifel. Was würden wohl die beiden Männer tun, die von einem Fuchs derart erniedrigt worden waren?