Nach viel Ruhe und reichlichem guten Futter fühlte sich der Dachs am nächsten Tag schon viel kräftiger.
Ganz besonders hatten ihm die Äpfel gemundet, die der aufmerksame Wildhüter ihm hingestellt hatte. Und indem er seine Kräfte wachsen fühlte, hatte er auch wieder Spaß an seiner Umgebung und freute sich schon auf den Besuch der Katze als Abwechslung in seinem eintönigen Leben. Sie kam in die Küche gesaust, ihr rötlichbraunes Fell glitzerte an den Stellen, wo die Schneeflocken darauf schmolzen. »Es ist wirklich furchtbar kalt draußen«, meinte sie. »Viel zu kalt für mich. Ich wette, du bist auch lieber hier drinnen.«
»Natürlich ist es hier schön warm«, stimmte ihr der Dachs zu. »Aber mein Bau war auch immer sehr gemütlich. Ich habe ihn mit getrockneten Farnen, Blättern, Gras und dergleichen gut ausgepolstert, darauf kann ich mich schön einrollen.«
»Aber bist du denn nicht eingeschneit?« fragte die Katze. »Aber nein, mein Bau ist unter der Erde«, erklärte der Dachs.
Die Katze war überrascht. »Unter der Erde? Wie ungewöhnlich«, sagte sie.
»überhaupt nicht ungewöhnlich«, verteidigte sich der Dachs. »Viele wilde Tiere leben unter der Erde. Es ist sicherer so und, wie ich schon sagte, sehr gemütlich.«
»Wer sind denn deine Feinde?« flüsterte die Katze.
»Vor allem die Menschen«, erwiderte der Dachs. »Und Hunde.«
»Also, vor Menschen brauchst du dich hier nicht zu fürchten«, versicherte ihm die Katze. »Es gibt hier keine, außer dem Mann, und der liebt die wilden Tiere.«
»Ich weiß, daß ich hier nichts zu fürchten habe«, antwortete der Dachs. »Darum sind wir doch alle in den Hirschpark gekommen. Wir wollten in Sicherheit leben.«
»Von wo seid ihr denn gekommen?«
»Oh, von weit, weit weg — einem Ort, der Farthing-Wald heißt. Wir mußten wegziehen, weil die Menschen den Wald zerstörten. Unsere Behausungen waren bedroht, und wenn wir geblieben wären, hätte man uns getötet.«
»Wie viele Dachse sind mit dir gekommen?« fragte die Katze.
»Keiner. Wir waren eine gemischte Gesellschaft. Der Fuchs, das Wiesel, der Waldkauz, die Kröte, der Turmfalke, dazu die Igel und Kaninchen, die Hasen und Eichhörnchen, die Wühlmäuse und die Feldmäuse, und sogar eine Schlange.«
»Das ist aber interessant«, meinte die Katze. »Hört sich an, als ob der halbe Wald unterwegs gewesen ist.«
»So war es nun auch wieder nicht«, lächelte der Dachs. »Wir waren nur eine kleine Gruppe, und leider haben wir unterwegs einige der Unseren verloren. Wenn man aber bedenkt, welchen Gefahren wir begegneten, dann können wir noch von Glück sagen, daß es nicht mehr waren.«
»Ich verstehe«, sagte die Katze, die aber gar nichts verstand. »Und die Mäuse habt ihr mitgenommen, damit ihr auf der Reise etwas zu fressen hattet.«
»Nein, nein, nein!« rief der Dachs entsetzt. »Sie gehörten zur Reisegruppe. Bevor wir uns auf den Weg machten, schworen wir, uns gegenseitig zu schützen und zu helfen — nicht, uns aufzufressen.«
»Aber es stimmt doch«, blieb die Katze beharrlich, »daß in der freien Natur die stärkeren Tiere die schwächeren fressen.«
Der Dachs nickte. »Aber wir sind eben keine gewöhnliche Gruppe von Tieren«, sagte er mit großer Genugtuung. »Langsam begreife ich«, sagte die Katze. »Erzähle mir von euren Abenteuern.«
»Mit Vergnügen«, sagte der Dachs. »Aber dann muß ich ganz von vorn beginnen.«
Die Katze saß ganz still und lauschte der Geschichte von der Flucht der Tiere aus dem Farthing-Wald und ihrer Wanderung über Land, hörte von dem gefährlichen Feuer, der Flußüberquerung, der Jagd und der Autobahn. Und sie hörte, wie die Tiere den Wildhüter zum erstenmal gesehen hatten, noch bevor sie im Hirschpark ankamen. »Toll«, sagte sie am Schluß. »Das ist endlich einmal eine Geschichte! Dagegen erscheint mein Leben wirklich langweilig-« „ . ^ , .
»Jedem das Seine«, sagte der Dachs weise. »Ich nehme doch an, daß du mit deinem Los zufrieden bist.«
»O ja, ich habe alles, was ich will, Futter, Wärme — und ich kann kommen und gehen, wie es mir gefällt. Eine Katze ist schon mit wenig zufrieden.«
»Hast du dir niemals gewünscht, völlig frei zu sein, völlig selbständig?« fragte der Dachs.
»Aber das bin ich doch«, protestierte die Katze. »Wie ich schon sagte, ich mache, was ich will.«
»Das ist nicht das, was die wilden Tiere unter frei verstehen«, erklärte der Dachs. »Ich glaube, du bist von dem Mann stärker abhängig, als du zugeben möchtest. Sehr interessant, wie du gestern auf ihn reagiert hast — du hast ja eine ganz schöne Show abgezogen.«
»Na ja«, sagte die Katze, und zur Abwechslung putzte sie ihr Fell auf der Brust. »Sie erwarten doch etwas für ihre Mühe, nicht wahr? Der Mann bildet sich eben ein, daß ich abhängig bin von ihm.«
»Vielleicht bist du das ja auch?«
»überhaupt nicht«, sagte die Katze gekränkt. »Wenn ich muß, kann ich auch sehr gut allein mit allem fertig werden. Du willst mich ja nur ärgern.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte der Dachs sofort. »Aber hör mal zu. Wenn ich erst wieder laufen kann, verschwinde ich von hier. Warum kommst du nicht mit und beweist dem Mann, daß du ihn wirklich nicht brauchst?«
Aber die Katze fiel nicht darauf herein. »Was macht dein Bein«, fragte sie. »Tut es noch weh?«
Der Dachs bejahte. Mitleidig begann die Katze seine Wunde zu lecken. Aber der Dachs bat sie, damit aufzuhören. »Deine Zunge ist zu rauh«, erklärte er. »Aber du bist wirklich nett.«
Von draußen erklangen menschliche Stimmen. Die Katze sprang auf die Fensterbank und schaute hinaus. »Ha!« sagte sie. »Der Mann, der Tiere wieder gesund macht, ist da. Er kommt immer, wenn ein wildes Tier verletzt aufgefunden worden ist. Er will dir helfen.«
Der Wildhüter kam mit einem anderen Menschen ins Zimmer, und der war tatsächlich der Tierarzt. Es machte dem Dachs gar nichts aus, genau angeschaut und untersucht zu werden, und dann wurde sein Bein mit irgend etwas fest zusammengebunden. Eine Weile unterhielten sich die beiden Männer noch, und den Wildhüter schien das, was er zu hören bekam, zu freuen. Der Tierarzt spielte dann noch mit der Katze, nannte sie »Rote« und kraulte sie unter dem Kinn. Die neue Freundin des Dachses reagierte, wie er erwartet hatte, nämlich mit lautem Schnurren und Nuckeln auf dem ausgestreckten Finger des Tierarztes. Dann ließen die beiden die Tiere wieder allein. Der Dachs fand das sehr lustig und beschloß, die Katze zu überreden, mit ihm auf die freie Wildbahn zu kommen.
»Jaja, vielleicht komme ich mit«, sagte sie ausweichend. »Aber ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis du so gesund bist, daß der Mann dich wieder freiläßt.«
»Freiläßt?« fragte der Dachs, plötzlich wachsam geworden. »Ich werde hier doch nicht festgehalten, oder?«
»Aber nein«, sagte die Katze. »Sobald sie dich für gesund genug halten, wieder in den Wald zurückzukehren, darfst du nach draußen und bist frei.«
»Eigentlich habe ich daran auch nicht gezweifelt«, sagte der Dachs. »Ich weiß, dieser Mann ist ein Tierfreund — eine besondere Sorte Mensch, der die wilden Tiere wirklich liebt.«
»Ja. Wie merkwürdig, daß du ihm schon begegnet bist, bevor du in den Hirschpark kamst«, meinte die Katze. »Das ist fast wie ein Omen.«
»Das dachten wir auch alle, als wir herausfanden, daß er hier lebte«, stimmte der Dachs ihr zu. »Wenn alle Menschen wären wie er, brauchte kein Tier sie zu fürchten. Aber ich glaube, solche wie ihn gibt es nicht viele.«
»Nein, das nicht«, nickte die Katze. »Etwas Besseres als ihn kannst du von der menschlichen Rasse nicht erwarten.« Der Dachs horchte auf. Die Stimme der Katze klang recht schwärmerisch. Jetzt wußte er, daß er die Anhänglichkeit der Katze an den Wildhüter vorher richtig eingeschätzt hatte. Dabei fielen ihm seine Freunde ein. Wie sehr wünschte er sich, daß sie hier wären. Inzwischen würden sie sich sicher über sein Verschwinden beunruhigen. Er wagte gar nicht darüber nachzudenken, wie es wohl dem Maulwurf gehen mochte. Die Katze putzte sich sorgfältig, bevor sie sich in ihrem eigenen Korb zusammenrollte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Wenn er selbst seine Freunde nicht erreichen konnte, wie wäre es, wenn er einen Boten schickte? Die Katze konnte ihm helfen.
»Ob du mir wohl einen Gefallen tun könntest?« fragte der Dachs etwas ängstlich, denn er wußte nicht, wie die Katze es aufnehmen würde.
Sie unterbrach sich mitten in ihrer Schönheitspflege, die Zungenspitze stand in der Luft, und ein Hinterbein hielt sie im Sitzen ausgestreckt.
»Ich mache mir schreckliche Sorgen um meine Freunde im Hirschpark. Sie wissen nicht, wo ich bin«, fuhr der Dachs fort. »Sicher suchen sie mich überall, und im Augenblick haben sie genug damit zu tun, am Leben zu bleiben, statt sich auch noch um mich kümmern zu können.«
»Ich merke schon, woher der Wind weht«, lächelte die Katze und rollte sich zusammen.
»Könntest du wohl so überaus freundlich sein und ihnen Nachricht geben, daß ich in Sicherheit bin?«
»Also, ganz ehrlich«, antwortete die Katze, »ich glaube nicht, daß das geht. Deine Freunde sind Fleischfresser, oder wenigstens einige von ihnen. Sie kennen mich nicht, und sie sind sehr hungrig. Meinst du nicht auch, daß ich das große Risiko eingehe, vom Fuchs oder vom Waldkauz angegriffen zu werden?«
»Also, für den Waldkauz bist du ein zu großer Bissen«, beruhigte sie der Dachs. »Und der Fuchs und die Füchsin jagen wie der Waldkauz meistens nachts. Du wärest bei Tage ziemlich sicher, wenn sie dir auch nach Einbruch der Dunkelheit gefährlich werden könnten — was ich persönlich aber nicht glaube. Du bist ein recht großes Tier und sicher viel zu groß für sie. Jedenfalls hast du doch auch keine Angst vor mir gehabt.«
»Aber ich wußte doch, daß du krank bist«, unterbrach ihn die Katze, »sonst wärst du doch nicht hier. Und wenn ich auch bei Tage sicher bin, ich kenne die Gegend doch nicht. Der Hirschpark ist riesengroß und völlig verschneit. Ich "würde schon beim ersten Schritt bis an den Hals einsinken.«
»Aber nein, dazu bist du viel zu leichtfüßig. Vor der Hütte bist du doch auch schon im Schnee gewesen.«
»Ja, aber da, wo wir gehen wollen, hat der Mann den Schnee weggeschippt. Wenn ich mich in die Tiefen des Waldes wage, wo finde ich dann Unterschlupf? Es ist ein langer Weg bis zur Behausung deiner Freunde, und dann muß ich ja auch wieder zurück.«
»Du könntest in meinem Bau schlafen, da hast du Wärme und bist in Sicherheit«, schlug er unbedacht vor. »Jeder kann dir meinen Bau zeigen.«
»Unmöglich«, erklärte die Katze bestimmt. »Unter der Erde kann ich nicht leben. Nein, tut mir leid, mein Freund, ich würde dir gern helfen. Aber ich weiß wirklich nicht, wie.« Jetzt spielte der Dachs seine letzte Karte aus. Etwas boshaft sagte er: »Also habe ich doch recht gehabt. Du könntest allein und ohne menschliche Hilfe nicht überleben.«
Die Katze blitzte ihn böse an. »Du scheinst ganz zu vergessen, daß ich nicht wie du und deine Freunde in der Wildnis geboren worden bin«, fuhr sie ihn an. »Ich habe nicht die lange Erfahrung im überleben, die du von Geburt an sammeln konntest. Du hast mir erzählt, daß ihr wilden Tiere unter harten Bedingungen um euer Leben kämpfen müßt. Um wieviel schwerer wäre es dann für mich ohne die Kenntnisse, die ihr mir voraushabt?«
Der Dachs wußte, dies war wirklich eine ehrliche Antwort, und es schien ihm nicht geraten, weiter zu drängen. Aber seine Freunde mußten einfach benachrichtigt werden. »Dann gibt es keinen anderen Weg«, sagte er ganz ruhig. »Was du sagst, hört sich vernünftig an; das bedeutet also, ich muß selbst gehen.«
»Mach keine Witze!« rief die Katze ärgerlich. »Ich kann ja verstehen, daß du deine Freunde gern hast, aber du treibst die Selbstlosigkeit zu weit. Sie müssen eben eine Weile ohne dich auskommen. Du kannst jetzt nicht laufen, aber es dauert nicht lange, und du kannst zu ihnen zurückkehren — vielleicht schon in ein paar Wochen. Ich weiß nicht, wie schwer du verletzt bist. Wer weiß — vielleicht haben wir den schlimmsten Winter dann hinter uns.«
Der Dachs schüttelte den Kopf. »Ich kann sie wirklich nicht wochenlang ohne Nachricht lassen«, sagte er eigensinnig. »Du scheinst das nicht zu verstehen. Der Eid, den wir uns im Farthing-Wald geschworen haben — er gilt immer noch. Meine Freunde werden sich nicht damit abfinden, daß ich ganz einfach verschwunden bin. Sie werden ihr Leben aufs Spiel setzen, um mich zu finden.«
»Chrr!« fauchte die Katze irritiert. »Du scheinst ja eine hohe Meinung von dir zu haben.«
»Sei nicht albern«, fuhr der Dachs sie an. »Du kannst sagen, was du willst, ich muß sie einfach benachrichtigen. Und wenn du nicht gehst, dann gehe ich, wie ich schon gesagt habe. Und wenn ich den ganzen Weg kriechen müßte.«
Die Katze wußte, daß er meinte, was er sagte, und merkte zugleich, daß er sie in die Enge getrieben hatte. Sie konnte es einfach nicht zulassen, dal der verwundete Dachs sein Leben wegwarf, denn darauf lief es hinaus. Also ließ sie sich erweichen.
»Nun gut, du hast mich überzeugt«, sagte sie widerstrebend. »Wenn es morgen nicht schneit, mache ich mich auf den Weg. Du tätest gut daran, mir deine Freunde ganz genau zu beschreiben, damit ich sie dann auch erkenne.«
»Rote, das vergesse ich dir nie«, dankte ihr der Dachs herzlich. »Und du kannst mir glauben, die anderen werden es auch nicht vergessen. Du hast soeben viele neue Freunde gewonnen.«
»Schon gut, Dachs«, lächelte die Katze, »du hast mich ganz schön beschwatzt.«
»Der Eid, der alle Tiere des Farthing-Waldes bindet, die Füchsin wie den Pfeifer, gilt nun auch für dich«, erinnerte sie der Dachs. »Das heißt, wenn du je selbst in Schwierigkeiten kommst oder in Gefahr bist — du verstehst mich doch?«
»Wir verstehen uns«, antwortete die Rote.