Der Fuchs und die Schlange trennten sich, jeder machte sich die heftigsten Vorwürfe. Die Schlange haderte mit sich, weil sie die große Gefahr für ihre Freunde nicht erkannt hatte, und beschloß sofort, das zu tun, was sie schon vorher hätte tun sollen. Aber sie behielt diesen Gedanken für sich. Der Fuchs erteilte zwar dem Friedfertigen einen harten Verweis, weil dieser des Kühnen Unaufrichtigkeit gedeckt hatte, doch dann ließ er die Sache fallen.
Er fühlte sich selbst schuldig, weil er zuviel Vertrauen in seine unerfahrenen Kinder gesetzt hatte.
Während die Tiere nachts abwechselnd Wache hielten, damit der gefürchtete Narbige sie nicht überrasche, lag die Kreuzotter in ihrem Versteck und grübelte darüber nach, wie sie an ihn herankommen könnte, denn jetzt würde er mehr denn je zuvor auf der Hut sein.
Der Narbige hatte natürlich seine Spione, und die berichteten ihm bald, daß die Farthing-Wald-Tiere jede Nacht Wache hielten. Das bestätigte seinen früheren Verdacht, daß der Tod seines Anhängers kein Zufall gewesen war. Er beschloß, sich zuerst die Kreuzotter vorzunehmen und die übrige Gruppe dann bei Tage anzugreifen, wenn die Freunde der Schlange es am wenigsten erwarteten.
Aber es war gar nicht so leicht, eine Schlange aufzustöbern, die wußte, daß ihr Gefahr drohte. Wie alle Schlangen verbrachte die Kreuzotter fast ihr ganzes Leben zwischen Wurzeln, Farnen und Heidekraut und war nicht oft im Freien anzutreffen. Manchmal verlockte sie der warme Sonnenschein zu einem Sonnenbad, aber der Narbige war nicht so dumm, zu glauben, daß die Kreuzotter jetzt in der Sonne liegen würde. Wenn man jetzt eine Schlange beim Sonnenbaden antraf, dann war es bestimmt nicht die, hinter der er her war. Der Narbige und die Kreuzotter waren also jetzt erklärte Feinde. Sie benahmen sich beide so vorsichtig, daß sie so gut wie unsichtbar waren. Blieb abzuwarten, wer zuerst aus der Deckung kommen würde.
Die Situation gab dem Fuchs und seinen Freunden eine kleine Verschnaufpause. Die Nächte verliefen ungewöhnlich ruhig und ohne Zwischenfälle. Der Fuchs wollte die Wachen schon zurückbeordern, aber die Füchsin warnte. »Das ist vielleicht genau das, worauf der Narbige wartet«, sagte sie. »Er ist sehr schlau und wartet vielleicht nur darauf, daß wir es aufgeben.«
»Ja«, seufzte der Fuchs, »du hast sicher recht — wie immer. Dein Rat ist gut, und ich füge mich.«
»Irgendwie ist diese Ruhe bei Nacht unheimlich«, bemerkte die Füchsin. »Es ist so unnatürlich.«
»Wenn es nach mir ginge, könnte es immer so ruhig bleiben«, antwortete der Fuchs. »Dann braucht wenigstens niemand zu sterben.«
Die Füchsin nickte. »Ich meine, du solltest auch die Jungen an der Wache beteiligen«, sagte sie. »Das ist eine gute Übung für sie, und wir anderen haben es leichter.«
Der Fuchs stimmte zu, und der Kühne, der Friedfertige und die Schöne freuten sich, daß sie sich nützlich machen konnten. Vor allem der Kühne war dankbar, daß man ihm nach seinem Versagen noch einmal eine Chance gab.
Eines Nachts, als er Wache hatte, jagten der Friedfertige und die Schöne, jeder in einer anderen Gegend. Das durften sie, solange sie sich nicht zu weit entfernten. Der Friedfertige blieb auch ganz nahe beim Bau, die Schöne war da weniger vorsichtig und mußte plötzlich erkennen, daß sie sich zu weit entfernt hatte. Sie hatte nichts gefangen und wollte nicht gern mit leerem Magen nach Flause zurück. So gestand sie sich noch ein paar Minuten zu, bevor sie sich auf den Rückweg machen wollte. Während sie mit der Schnauze dicht über dem Boden dahintrabte, merkte sie, daß sie beobachtet wurde. Sie hielt mit erhobener Vorderpfote inne und witterte. Unverkennbar ein Fuchs. Sie erstarrte und blickte sich um. Im hellen Mondenlicht sah sie ein paar Augen glitzern. Eine Gestalt kam auf sie zu.
»Dich habe ich schon einmal gesehen«, sagte diese. Die Schöne merkte zu ihrer Erleichterung, daß es ein junger Fuchs war wie sie selbst.
»Ja, ich erkenne dich auch«, antwortete sie. »Du bist Sohn des Narbigen.«
»Ich bin Stromer«, sagte er. »Einmal habe ich deinen Bruder getroffen, den großen Fuchs.«
»Das ist der Kühne«, sagte sie. »Und mich nennt man die Schöne.«
»Das ist aber ein passender Name«, sagte Stromer galant.
Sie wunderte sich. »Ich — ich muß nach Haus«, murmelte sie.
»Meinetwegen brauchst du das nicht«,sagte Stromer. »Ich will dir nichts Böses. Mit diesem Streit habe ich nichts zu tun. Das ist der Krieg unserer Eltern.«
»Aber dein Vater hat meine Schwester getötet«, meinte die Schöne betrübt. »Wir mögen euren Clan nicht.«
»Das kann ich verstehen«, erwiderte Stromer. »Aber mach mich nicht verantwortlich für das, was mein Vater tut. Er ist eben neidisch und sehr stolz. Ich bin doch nur ein Jungfuchs.«
Die Schöne blickte ihm in die Augen. Er redete so vernünftig. »Ich finde, daß es schade ist, daß wir nicht alle in Frieden leben können«, sagte sie.
»Das finde ich auch«, gab ihr Stromer recht. »Vielleicht sieht unsere Generation das ganz anders.«
Die Schöne seufzte. »Aber wir müssen doch zu unseren Familien halten«, erinnerte sie ihn.
»Das stimmt«, sagte Stromer traurig.
Pause. »Hm — jagst du gerade?« fragte er sie.
Die Schöne lächelte. »Ja, aber ohne Erfolg.«
»Wenn du hungrig bist, kann ich dir gute Beute zeigen«, bot Stromer an. »In der Nähe gibt es eine Mäusekolonie.«
Die Schöne zögerte. Sie fragte sich, ob wohl die Feldmäuse darunter waren, die man ihr verboten hatte zu töten — die alten Gefährten ihres Vaters.
»Na komm schon«, drängte der junge Fuchs sie sanft. »Zusammen jagen macht viel mehr Spaß.«
Die Schöne gab nach und folgte ihm zu einem Gebüsch. »Sie haben da ein richtiges Nest«, sagte er.
Die Stelle war zu weit von dem Heimatgebiet der Farthing-Wald-Tiere entfernt, als daß es ihre Mäuse sein konnten, dachte die Schöne, und schon lief ihr in Vorfreude das Wasser im Mund zusammen.
Stromer blickte sie an und sagte: »Ich will versuchen, sie für dich herauszutreiben.« Und genau das tat er auch. In Windeseile hatte sie vier fette Mäuse gefangen, mit denen sie nicht viel Federlesens machte. Dieser Stromer war wirklich ein netter Bursche.
»Du hast sie aber sehr geschickt ins Freie getrieben«, lächelte sie.
»Ah, ich kenne mich mit Mäusen ein bißchen aus«, sagte er und lächelte zurück. »Hier bin ich oft, wenn ich Zeit habe. Manchmal, wenn ich keinen Hunger habe, pirsche ich sie nur an.«
»Es wundert mich, daß überhaupt noch welche übrig sind«, lachte sie.
Beide blickten einander lange an, und etwas Unbegreifbares, Unnennbares ereignete sich zwischen ihnen. Dann blickte die Schöne verlegen zu Boden. »Vielen Dank, daß du meinen schlimmsten Hunger gestillt hast«, sagte sie leise. »Aber jetzt muß ich gehen. Meine Brüder suchen mich vielleicht schon.«
»Kann ich dich noch ein Stück begleiten?« fragte Stromer hoffnungsvoll.
»Nein«, sagte sie ablehnend, denn sie dachte an ihres großen Bruders Reaktion, wenn er sie zusammen sähe.
»Wie du willst«, bedauerte er.
»Tut mir auch leid«, sagte die Schöne ruhig. »Aber so ist es besser.«
»Vielleicht treffen wir uns wieder?« sagte Stromer und ließ die Frage offen. »Du weißt ja, ich komme oft hierher. Du kennst doch den Weg, oder?«
»Ja, aber ich gehe nicht immer so weit«, antwortete sie unverbindlich. Aber schon als sie es sagte, wußte sie, daß sie wiederkommen würde.
»Einen guten Heimweg«, wünschte ihr Stromer.
»Danke, dir auch.« Die Schöne lächelte freundlich und setzte sich in Trab. Stromer sah ihr nach. Das Blut rauschte in seinen Adern. Den Gedanken an seinen Vater und an die Eltern der jungen Füchsin verdrängte er.
Der Friedfertige sah die Schöne, wie sie sich dem Bau näherte.
»Ich habe dich schon gesucht«, sagte er. »Hast du Glück gehabt?«
»O ja, viel Glück«, antwortete sie etwas atemlos.
Der Friedfertige blickte sie scharf an. Sie schien in höchster
Erregung, und da war etwas in ihrer Stimme — er wußte nicht so recht, was. Aber er fragte nicht weiter und sagte auch nichts, als sie an der Stelle vorbeikamen, wo der Kühne sich versteckt hatte. Bei sich beschloß er, bei ihrem nächsten Jagdausflug in der Nähe seiner Schwester zu bleiben.
In der nächsten Nacht war der Friedfertige mit dem Wachehalten an der Reihe, und der Kühne hatte keine Lust, die Schöne zu begleiten. Er jagte lieber allein. Die Schöne lief gleich zu dem Mäusegebüsch, aber Stromer war nicht da. Sie war enttäuscht. Sie wartete noch eine Weile und vertrieb sich die Zeit mit Mäusefangen. Natürlich — so redete sie sich ein — würde er nicht jede Nacht zu dieser Stelle kommen. Aber sie hielt die Ohren gespitzt und lauschte auf das leiseste Geräusch. Als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, hörte sie Schritte, und ihr Herz schlug schneller. Sie wußte, es war Stromer, noch bevor sie ihn an seinem Geruch erkannte. Vorsichtig kam er heran und witterte nach fremden Gerüchen. Dann sah er sie. Sie lächelten einander an.
»Wie schön, daß du gekommen bist«, sagte er und wedelte mit dem Schwanz.
»Ach, ich hatte Lust auf Mäuse«, flüsterte sie. Er sah sie an, und dann mußten sie beide lachen.
»Ich habe ein paar Wasserratten gefangen«, sagte er. »Möchtest du eine oder zwei davon haben?«
»Wo sind sie?«
»Ach, nicht weit, ein bißchen bachauf.«
»O nein, das darf ich nicht, ich habe Angst«, sagte die Schöne. »Das ist zu weit für mich. Ich soll mich nicht so weit von zu Hause entfernen.«
»Verstehe. Vielleicht kann ich sie dir ein bißchen näher herantragen«, schlug er vor.
»Das wäre sehr nett«, murmelte sie.
Und schon war er verschwunden und kehrte bald mit zwei Ratten zurück. »Du fängst mit diesen schon an, ich hole inzwischen die anderen«, sagte er galant.
Kurz danach genossen sie gemeinsam ihr Mahl. »Merkwürdig, wie ausgehungert ich bin«, sagte Stromer kauend. »Bald werde ich größere Tiere jagen müssen.«
Per Schönen fiel die Gefährtin des Hasen ein, und sie äußerte sich nicht dazu.
»Du hast aber auch einen gesunden Appetit«, meinte Stromer anerkennend, und die Schöne ahnte bereits, worauf er hinauswollte.
»Ich weiß nicht, ob wir zusammen jagen können. Vielleicht treffen wir auf meine Brüder, oder, noch schlimmer, auf meinen Vater.«
»Macht das was?« fragte Stromer. »Wir tun doch nichts Böses.«
»Ich glaube nicht, daß meine Familie das so sehen würde«, erwiderte sie leise.
Kaum hatte sie ausgesprochen, da erstarrte Stromer und richtete die Ohren auf. Ein böses Fauchen war zu hören, und dann kam der Kühne herangesaust, die Nackenhaare gesträubt. Die Schöne hatte nicht mit seiner Abenteuerlust gerechnet. Glücklicherweise blieb sie von einem niedrighängenden Ast verdeckt, und nur Stromer war zu sehen gewesen. Sie beschloß, sich zu verziehen. Stromer stand, wenn auch ängstlich, ganz still.
Der Kühne stand auch stocksteif, mit gefletschten Zähnen und unaufhörlich wedelndem Schwanz, wie eine angriffslustige Katze. Er wollte dem kleineren Fuchs nichts tun, hatte aber gehofft, ihn zu verjagen und so einen moralischen Sieg für sich zu erringen. Aber Stromer blickte ihm fest in die Augen.
»Du bist ganz schön kaltblütig«, meinte der Kühne ganz gegen seinen Willen. »Seit unserem letzten Treffen scheinst du kräftiger geworden zu sein.«
»Ich habe jetzt neues Selbstvertrauen«, sagte Stromer.
Der Kühne wußte nicht, wie er das meinte. »Ich habe keine Lust, mit dir zu kämpfen«, sagte er. »Der Park gehört dir genausogut wie mir.«
»Ich suche auch keinen Streit«, erwiderte Stromer. »Warum auch sollten wir Partei ergreifen?«
Der Kühne lachte auf. »Ich glaube, das erklärt dir lieber dein Vater. Ich bin ganz sicher, eines Tages kriegt er dich schon herum, daß du in den Krieg einsteigst.« Dann ließ er den anderen Fuchs stehen, wo er stand. Von der Schönen hatte er nichts bemerkt.
Auf seinem Weg zum Bau hielt er bei seinem Bruder an. »Hast du unsere Schwester gesehen?« fragte er. »Hier streift ein fremder junger Fuchs herum, sie sollte sich vorsehen.«
»O ja, ich habe sie gesehen«, antwortete der Friedfertige mit dem Hauch eines Lächelns, denn jetzt war ihm alles klar. »Und ich kann dir versichern«, sagte er betont, »daß es ihr nie besser gegangen ist.«
Der Kühne argwöhnte nichts hinter diesen Worten und berichtete seinem Vater von seiner Begegnung mit Stromer.
Was den Friedfertigen betraf — er lebte, wie sein Name besagte, gern mit allen in Frieden — , so wollte dieser die Geheimnisse seiner Schwester nicht verraten. Er war aber fest entschlossen, sich bei Gelegenheit davon zu überzeugen, wie ernst die Sache war.