Das erbarmungslose Winterwetter hielt an, das alte Jahr ging in das neue über, ohne daß eine Wetterbesserung eintrat. Die Vögel flogen regelmäßig zum Abfallhaufen und fanden dort sogar Fleisch — zuweilen weggeworfene Würstchen und Speck oder anderes — als wertvolle Ergänzung dessen, was die Fleischfresser im Hirschpark fanden. Nachdem die unmittelbare Gefahr des Verhungerns gebannt war, schöpften die Tiere neuen Mut und vertrauten darauf, daß sie nun nur noch bis zum Eintreten wärmeren Wetters ausharren müßten.
Im übrigen aber ging es ihnen nicht besser als früher. Sie konnten sich einfach nicht an die grimmige Kälte gewöhnen. Dabei wollte und wollte es nicht wärmer werden. Auch die Schneestürme und Schneefälle, die mit schrecklicher Regelmäßigkeit über sie kamen, blieben eine Qual. Doch sie alle hatten gelernt zu leiden, ohne zu klagen.
Und dann, als die Hoffnung wuchs, daß das Ende des Winters bevorstand, entstand eine vollkommen neue Bedrohung. Der Wildhüter wurde krank und mußte ins Krankenhaus. Zur gleichen Zeit verschwand die Rote — wahrscheinlich zu einem anderen Wohltäter. Das Häuschen stand nun leer, und jetzt konnten die Menschen den Tierpark betreten. Als die Bewohner der Umgebung davon hörten, dauerte es nicht lange, und Gruppen von Jungen mit Schlittschuhen und Schlitten stürmten den Hirschpark, störten den Frieden und die Ruhe und bedrohten die Freiheit seiner Bewohner. Aber was noch schlimmer war: nachts kamen die Wilddiebe.
Die ersten Schüsse konnte man eines Abends hören, als der Fuchs und die Füchsin gerade jagten. Sie blieben bewegungslos stehen, witterten mit hoch erhobenen Nasen und spitzten die Ohren nach jedem leisen Geräusch.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte der Fuchs und blickte seine Gefährtin an. Sie warteten. Ein neuer Schuß bewies ihnen, daß sie recht gehabt hatten, und sie gingen hastig in Deckung.
Tief im Gebüsch lauschten sie mit wild klopfendem Herzen und flach auf die gefrorene Erde gepreßten Körpern. Bis zu ihrem Bau war es weit. Die Sekunden und Minuten vergingen wie Ewigkeiten, zerrten an ihren Nerven. Schüsse waren nicht mehr zu hören, aber sie erblickten zwei dunkle Gestalten, die wie Schatten über den Schnee huschten, keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo sie versteckt lagen. Instinktiv preßten sie nun auch ihre Köpfe gegen die Erde, ein schwacher Versuch, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Aber sie konnten erkennen, was die Gestalten trugen, und ihnen stockte der Atem.
»Ein Hirsch!« flüsterten sie sich leise zu.
»Und auch noch ein großer«, zischte der Fuchs, als er sah, wie schwer die Männer sich taten. »Das arme Tier.«
»Gibt es denn nichts, was diese Menschen zurückhält?« fragte die Füchsin wütend. »Sie wissen doch, daß der Park der Erhaltung der wilden Tiere dient.«
»Vor allem wurde er als Tierpark zum Schutz der Weißen Hirsche geschaffen, genau der Tiere, die sie jetzt abschießen«, erinnerte sie der Fuchs.
»Wo ist nur unser Wildhüter geblieben?« jammerte die Füchsin.
»Das werden wir nie herausbekommen«, antwortete der Fuchs. »Aber es ist schon genug, daß wir wissen, daß er nicht da ist und wir alle schutzlos sind.«
»Die Hirsche müssen geradezu in Panik sein«, meinte die Füchsin. »Sie kennen das doch nicht: Schüsse und Gejagtwerden. Aber warum jagt man sie?«
»Sie sind seltene Tiere. Wer weiß, welchen Wert ihr Fell für den Menschen hat, der es besitzt?«
»Können wir also ruhig sein? Wenn die Menschen die Hirsche schießen, heißt das, daß die anderen Tiere nicht in Gefahr sind?«
Der Fuchs gab ein hohles Lachen von sich. »Nach meiner Erfahrung sind alle Tiere in Gefahr, wenn man dem Menschen ein Gewehr in die Hand gibt.«
»Was meinst du? Ob sie wiederkommen?« fragte die Füchsin.
»Solange sie wissen, daß der Wildhüter nicht aufpaßt, müssen wir mit ihnen rechnen«, war die bittere Antwort.
Und er behielt recht. Obwohl in der folgenden Nacht keine Schüsse zu hören waren, kamen sie in der darauffolgenden wieder. Die Hirsche waren außer sich. Anders als ihre Verwandten in den ungeschützten, wilden und unzugänglichen Gebieten des Landes, konnten sie sich nirgendwo verbergen; es gab keine Zuflucht. Was eine Stätte des Friedens gewesen war, wurde für sie nun zur Todesfälle.
Die anderen Tiere im Park, die hier vor Menschen sicher gewesen waren — ein Schutz, den sie eigentlich der Existenz des Rudels der Weißen Hirsche verdankten — , vergaßen ihre Dankbarkeit. Sie freuten sich, daß nicht sie es waren, die gejagt wurden. Aber die Tiere aus dem Farthing-Wald — die Neuankömmlinge — dachten da anders. Wenn sie auch in der alten Heimat nur ihrer Art treu gewesen waren, so hatte ihr langer Marsch über Land sie zu einer Einheit zusammengeschmiedet. In dieser Zeit hatten sie gelernt, daß das Beste für den einzelnen meistens auch das Beste für alle war. Jetzt war der Park für sie ebenso wie für die Weißen Hirsche die Heimat, und sie alle fühlten sich verantwortlich für ihre Mitbewohner und wollten ihren gemeinsamen Feind bekämpfen. Aber keiner von ihnen hatte eine Idee, wie man die Wilddiebe verjagen könnte.
Der Fuchs und die Füchsin waren gerade auf Jagd, als die Menschen mit den Gewehren wiederkamen. Dieses Mal verbargen sie sich an einer Stelle, von wo sie alles beobachten konnten. Das Rudel der Weißen Hirsche stand wie gewöhnlich auf einer Lichtung im Park. Nach dem Verschwinden des Wildhüters gab es auch für sie kein Heu mehr, und nun mußten sie mit ihren Hufen den Schnee wegkratzen, so gut es eben ging, um an das darunter befindliche Gras und das Moos heranzukommen. Von einem nahen Wäldchen gedeckt, schlichen sich zwei Männer heimlich an.
Der Alte Hirsch mit seiner mächtigen Gestalt überragte alle und bot ein wunderbares Ziel. Der Fuchs sah, wie die Männer die Waffe anlegten. Ohne lange zu überlegen, fing er zu bellen an, und das so plötzlich, daß er die ohnedies schon nervösen Hirsche erschreckte. Sie liefen durcheinander; jetzt spürten auch sie die Gefahr. Dann fiel die Füchsin in das Gebell ein, und der Fuchs raste, immer noch laut bellend, auf das Rudel zu. Er hoffte, sie würden die Warnung verstehen und fliehen. Es klappte tatsächlich. Die ängstlichen Hirsche stürmten davon, das wiederum erschreckte die übrigen, und bald rasten sie in alle Richtungen auseinander. Sogar der Alte Hirsch lief, warf aber dem Fuchs über die Schulter noch einen Blick zu. Obwohl der Fuchs den König des Tierparks gerettet hatte, beschleunigte er dadurch, ohne daß er es wußte, das Ende eines anderen Tieres. Einige Hirsche rasten direkt auf das Versteck der Männer zu und ihnen genau vor die Flinte. Einen traf der Schuß, die anderen drehten ab. Dann stürmte das ganze aufgeschreckte Rudel in Panik davon. Die Männer waren jedoch zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Pirsch, und der zweite Weiße Hirsch wurde aus dem Hirschpark getragen.
»Ich hoffe nur, daß man meine Absichten nicht mißversteht«, sagte der Fuchs traurig zur Füchsin. »Es muß ja so ausgesehen haben, als ob ich mit den Mördern gemeinsame Sache machte.«
»Unsinn«, entgegnete sie. »Das glaubt niemand. Du bist doch kein Haustier, sondern ein Tier der Wildnis. Du hast den Alten Hirsch gerettet, und das weiß er.«
»Aber es ist trotzdem Blut geflossen. Das Rudel hat wieder ein Mitglied verloren.«
»Was haben wir der Klugheit der Menschen entgegenzusetzen?« fragte die Füchsin. »Wenn sie beschlossen haben, jedes Tier im Park zu töten, können wir sie nicht davon abhalten.«
»So schwarz sehe ich die Dinge nicht«, meinte der Fuchs. »Alles, was wir tun müssen, ist, sie davon abzuhalten, den Hirschpark zu betreten.«
»Ganz unmöglich«, erwiderte sie rundweg. »Wie sollten wir das wohl schaffen?«
»Weiß ich auch nicht. Vielleicht könnten wir wenigstens ein Warnsystem einrichten, so daß sie uns nicht finden, wenn sie kommen.«
»Und was willst du mit den Weißen Hirschen machen? Sie alle in deinem unterirdischen Bau verstecken?«
»Schon gut«, sagte der Fuchs bedrückt. »War wohl nur Wunschdenken, aber es muß etwas getan werden, damit sie nicht so leicht abzuschießen sind.«
»Ach, ich kenne dich, wenn du in dieser Stimmung bist.«
Die Füchsin blickte ihn an, und ihre Augen leuchteten liebevoll. »Du gibst jetzt keine Ruhe mehr. Aber sich auszudenken, wie sich eine Gruppe von kleinen Tieren versteckt, das ist etwas ganz anderes, als ein Rudel von Hirschen verschwinden lassen.«
»Ich werde den Alten Hirsch aufsuchen und mich mit ihm unterhalten«, erwiderte der Fuchs.
»Dann geh du nur«, meinte die Füchsin. »Du willst mich sicher nicht dabeihaben.«
»Ganz im Gegenteil, meine geliebte Gefährtin«, sagte er. »Du mußt mit mir kommen. Du gehörst doch zu mir.«
Weit war der Alte Hirsch nicht gelaufen. Er versuchte, sein Rudel nach der Flucht wieder zusammenzusuchen. »Ich schulde dir Dank«, sagte er sofort, als der Fuchs auftauchte. »Nur ein Hirsch wurde getötet. Wir haben die Menschen nicht gewittert. Es hätte viel mehr von uns treffen können.« Aus Bescheidenheit vermied er es, zu sagen, daß die Jäger vor allem ihn hatten abschießen wollen.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir weitere Verluste verhindern können«, sagte der Fuchs ernst. »Darüber grüble ich jede wache Minute nach«, antwortete der Alte Hirsch. »Tatsache ist, daß wir ohne unser Heu mehr Tiere durch Verhungern verlieren als durch die Menschen.«
»Ich glaube schon, daß es für die Alten und Schwächeren in deinem Rudel sehr schwer ist«, gab ihm der Fuchs recht. »Aber ich bin sicher, die schlimmste Zeit haben wir hinter uns. Viel ernster ist jetzt meiner Ansicht nach die Gefahr, die uns von den Menschen droht.«
»Du sprichst weise«, antwortete der Hirsch. »Ich weiß, du bist der kluge Anführer, der im vergangenen Sommer seine Freunde über eine große Entfernung hierhergeführt hat. Aber für so große Tiere wie wir mußtest du nicht sorgen. Ich fürchte, es ist völlig unmöglich, uns zu schützen.«
»Du sagst fast wortwörtlich das, was ich auch schon dem Fuchs gesagt habe«, bemerkte die Füchsin. »Obwohl wir mit euch fühlen, können wir euch doch nicht helfen.«
Der Alte Hirsch schüttelte sein mächtiges Haupt. »Wenn der Wildhüter nicht zurückkommt, dann bleibt uns nur ein allerletzter Ausweg.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte der Fuchs ruhig, »denn darauf bin ich auch schon gekommen.«
»Wir werden den Park verlassen müssen«, erklärte der Alte Hirsch.
»Ja. Das habe ich erwartet. Aber draußen geht ihr doch das gleiche Risiko ein.«
»Wir könnten uns aber in einem größeren Gebiet besser zerstreuen.«
Der Fuchs schwieg eine Weile. »Nein«, sagte er abschließend in dem entschiedenen Ton, den die Füchsin inzwischen so gut kannte. »Dazu muß es nicht kommen. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Ich habe da so eine Idee. Aber dazu brauche ich einen Tag oder auch mehr.«
»Mein lieber Freund«, sagte der Alte Hirsch gerührt, »du mußt gar nichts für uns tun. Du hast an deinen eigenen Problemen zu tragen. Natürlich lasse ich dir soviel Zeit, wie du willst. Ich beabsichtige nicht, noch in dieser Sekunde unsere Heimat zu verlassen.«
»Die Männer kommen sicher nicht jede Nacht«, sagte die Füchsin. »Für den Augenblick seid ihr sicher.«
Der Fuchs war tief in Gedanken versunken. »Ich muß das durchdenken«, sagte er dann. Er wandte sich an den Alten Hirsch. »Wir verlassen dich jetzt. Aber ich komme wieder und erkläre dir dann meinen Plan.«
»Du bist ein edles und weises Geschöpf«, erwiderte der König des Hirschparkes. »Ich werde voller Ungeduld auf deine Rückkehr warten.«
Man sagte sich auf Wiedersehen, und als der Fuchs und die Füchsin weitertrabten, fragte sie: »Ich wüßte zu gern, was du vorhast?«
»Wenn es soweit ist, sage ich es dir. Der Teich — ja, das ist es! Der Teich ist der Schlüssel zum Ganzen.«