Der Morgen dämmerte schon, als die Rote durch ihr Katzenloch ins Wildhüterhäuschen zurückkroch. Noch nie in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Sie wußte, der Dachs brannte nur so auf Nachrichten, aber sie war zu müde, seine Fragen jetzt zu beantworten. So legte sie sich gleich in der Diele auf den Teppich und schlief ein.

Die Geräusche, die der Wildhüter beim Aufstehen machte, weckten sie. Steif stand sie auf und begrüßte ihn. Wie sich der Wildhüter über ihre Rückkehr freute! Als er jedoch die Wunden entdeckte, die ihr der Turmfalke geschlagen hatte, war er sehr besorgt. In Windeseile versorgte er sie und gab ihr einen großen Teller warmer Milch, ehe er sich um ihr wohlverdientes Futter kümmerte.

Der Dachs konnte seine Ungeduld kaum noch zähmen. Warum ging der Mann nicht endlich aus der Küche? Als er verschwunden war, fragte der Dachs die Katze sofort begierig nach ihren Erlebnissen aus.

»Ich habe deine Freunde, den Maulwurf, den Fuchs und die Füchsin, kennengelernt«, sagte die Rote. »Sie waren sehr erleichtert, als sie hörten, daß du in Sicherheit bist. Und den Turmfalken, der mir das da angetan hat, den habe ich auch kennengelernt«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme hatte einen scharfen Klang, als sie auf ihren frisch verbundenen Rücken zeigte. Und dann erzählte sie den Vorfall.

»O weh, das tut mir wirklich leid.« Der Dachs war überaus zerknirscht. »Ich kann mir gut vorstellen, wie es passiert ist. Er wird es sich nicht verzeihen, daß er dich so verletzt hat.«

»Ach nein?« fauchte die Katze sarkastisch. »Ich bin der Ansicht, daß seine Reue nur von kurzer Dauer war. Falls du es noch nicht wissen solltest: Katzen und Vögel lieben sich nicht gerade.«

»Aber ich hoffe doch, daß du dem Turmfalken seinen Mißgriff nicht übelnimmst«, fragte der Dachs besorgt.

Die Rote gab keine Antwort. Der Dachs blickte sie prüfend an, aber aus ihrer ausdruckslosen Miene konnte er nichts ablesen.

»Eins möchte ich aber klarstellen«, sagte die Katze. »Mich überredest du nicht mehr zu einem Leben auf freier Wildbahn. Auch wenn du mich für verweichlicht halten solltest

- und das wäre mir völlig gleichgültig — , ich werde dieses behagliche Leben nie aufgeben, um mit dir da draußen zu leben. Die Reise war ein schöner Vorgeschmack. So schlechtes Wetter habe ich noch nie erlebt. Außerdem war ich in einer eurer unterirdischen Wohnungen, und ich sage dir, das war wohl der trostloseste Ort, den ich je erblickt, oder besser, gespürt habe. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was zu wenig Fressen und schlechte Unterkunft aus einem Tier machen können, dazu brauchte ich mir nur die mageren, unterernährten Füchse, deine Freunde, anzuschauen. Und jetzt drehe ich den Spieß um, Dachs! Wenn du dieses warme, neue Heim aufgeben und zu dem schrecklichen Leben deiner Freunde zurückkehren willst, dann mußt du vollkommen verrückt sein.«

»Aber das hier ist nicht mein Zuhause«, entgegnete der Dachs. »Ich werde doch nur gepflegt, weil ich mich verletzt habe. Wenn ich erst wieder gesund bin, werde ich, ob ich will oder nicht, wieder in den Hirschpark hinausgeschickt.« Die Rote zuckte die Schultern. »Du hast gesehen, wie ich mich benehme, und mir das auch unter die Nase gerieben. Du kannst mir glauben, ein bißchen geheuchelte Zutraulichkeit deinem menschlichen Wohltäter gegenüber würde gut ankommen. Es scheint die einzige Belohnung zu sein, die er dafür erwartet, daß er fast alles für uns tut.«

»Nein, nein.« Lächelnd schüttelte der Dachs den Kopf. »Das könnte ich nicht. Euch Katzen ist das Schmeicheln angeboren. Dir fällt es leicht.«

»Ich glaube nicht, daß das immer so war«, sagte die Katze. »Zuerst hatte ich dabei wohl einen bestimmten Zweck im Auge. Warum willst du nicht der erste gezähmte Dachs werden?«

»Nein, das gehört sich nicht«, erwiderte der Dachs. »Ich bin schon zu alt, um meinen Lebensstil zu ändern. Und außerdem bin ich an unterirdische Behausungen und Tunnelbauten gewöhnt, und an Betten aus Blättern, Gras und Moos — nicht daran, zusammengerollt in einem Korb zu schlafen wie ein Haustier.«

»Dann bleib wenigstens hier, bis es wieder warm ist«, lockte die Katze. Sie hatte den Dachs wirklich in ihr Herz geschlossen und sorgte sich um sein Wohlergehen.

»Wir werden sehen«, nickte er. »Aber ich hoffe doch, daß du mich nicht ganz vergißt, wenn ich erst einmal fort bin. Ich jedenfalls kann es dir nie vergelten, daß du so nett warst, diese Reise zu machen. Und dann kommst du auch noch verletzt zurück! Wie schrecklich!«

»Ganz sicher bleiben wir in Kontakt«, meinte die Rote. »Aber sag mal, ist dein Bau besser eingerichtet als der der Füchse?«

»O ja«, lachte der Dachs. »Er und die Füchsin leben sehr einfach. Du bist tatsächlich unter der Erde gewesen? Das ist ja toll.« Und er lachte bei dem Gedanken.

Fast hätte die Rote mitgelacht. »So eine verkehrte Welt«, sagte sie. »Nächstens wirst du zusammengerollt vor dem Kamin liegen.«

So vergingen die Tage, und das Bein des Dachses heilte. Zuerst konnte er ein bißchen in der Küche herumhumpeln, und dann machte ihn die Katze mit dem Hauptraum der Hütte bekannt, und er übte Vorwärts- und Rückwärtsgehen von einem Zimmer ins andere. Nach zwei Wochen im Haus des Wildhüters hatte er sich schon recht gut an sein neues Leben gewöhnt. Gefüttert und umsorgt, sah er gesünder und kräftiger aus als jemals, seit er den Farthing-Wald verlassen hatte. Er war ein ganz neues Tier geworden und fürchtete sich schon vor dem Anblick seiner leidgeprüften Freunde, wenn er zu ihnen zurückkehren würde. Er wußte, im Vergleich zu ihm würden sie dünn und mager sein, und ein Gefühl sagte ihm, in ihren Augen werde er so etwas wie Anklage und Neid auf seine wiedergewonnene Gesundheit erblicken.

Aber er mußte sich eingestehen, daß er nicht nur dies allein fürchtete. An den Worten der Katze war etwas Wahres. Vielleicht hatte er sich wirklich schon zu sehr an das gute Leben gewöhnt. Er freute sich überhaupt nicht mehr auf die Aussicht, in der bitterkalten Einsamkeit des Hirschparkes wieder um sein Leben kämpfen zu müssen. Jetzt war er dazu noch weniger geeignet als vor seinem Unfall. Er dachte mit Schrecken daran, daß er sich wieder daran gewöhnen mußte, sein Fressen selbst zu suchen, zu lernen, mit weniger auszukommen, als er brauchte, sich erneut mit der fürchterlichen Kälte herumschlagen zu müssen, vor der es keinen Schutz gab.

Er war sicher, der Wildhüter würde ihn nicht sofort hinauswerfen, wenn er wieder richtig laufen konnte, sollte das Wetter sich bis dahin nicht gebessert haben. Der Wechsel wäre zu abrupt. Und so war er immer wieder versucht zu bleiben. Aber er wußte auch, daß ihn, wenn er unnötig lange blieb, Schuldgefühle quälen würden. Wie konnte er ruhig in diesem Luxus leben, während seine alten Freunde die ganze Zeit so schrecklich leiden mußten? Und wenn er sie hierherholte? Ob das möglich wäre?

Tag für Tag grübelte er darüber nach, bis schließlich sein verletztes Bein wieder ganz gesund war. Vor einer Woche waren die Stützen und Verbände entfernt worden, zur gleichen Zeit auch der Verband vom Rücken der Katze. Jetzt konnte er wieder ganz wie früher in seinem gewohnten Gang herumwatscheln. Die Entscheidung war nun zu treffen.

Als er die Rote das nächste Mal traf, sagte er ihr, daß er vollständig wiederhergestellt sei. Lange blickte ihm die Katze in die Augen. »Nun?« fragte sie schließlich. »Welche Pläne hast du?«

Der Dachs eröffnete ihr seine Idee, die Freunde zu sich in die Obhut des Wildhüters zu holen. »Würde der Mann sie aufnehmen? Würde er es überhaupt können, würde er es wollen?« fragte er immer wieder.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte die Rote. »Ich weiß nicht, ob er Platz für euch alle hat. Aber ich bin sicher, daß er sich wirklich um Tiere, die in Not sind, kümmern würde. Aber wollen sie denn herkommen?«

»Jetzt muß ich sagen, daß ich es nicht weiß«, gestand der Dachs. »Aber ich könnte versuchen, sie zu überreden.«

»Die Vögel hast du vergessen«, sagte die Katze bestimmt. Der Dachs wußte, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Mit denen habe ich ohnedies nicht gerechnet«, stimmte er ihr bei. »Wann brichst du auf?« fragte die Katze jetzt.

»Sobald der Mann mich laufenläßt.«

»Das tut er, wenn du ihm klarmachst, daß du wirklich in den Hirschpark zurück willst. Du tätest gut daran, deutlich zu zeigen, daß du mit ihm gehen willst, wenn er das nächste Mal nach draußen geht.«

Die Gelegenheit ergab sich schließlich, und der Wildhüter ließ ihn laufen. Nun stand der Dachs wieder an der Grenze zum Park und schnupperte nach allen Richtungen. Alles war noch dick verschneit, und die eisige Temperatur biß in seinen verwöhnten Körper. Halb drehte er sich um und sah zurück zu der offenen Hintertür, die das Tor zur Geborgenheit verkörperte. Auf der Schwelle saß die Rote. Sie erhob sich. »Ich begleite dich noch ein Stückchen«, bot sie an. »Gern«, bedankte sich der Dachs.

Der Wildhüter beobachtete, wie die beiden Tiere, die so gute Freunde geworden waren, sich in Bewegung setzten. Seine Arbeit war getan.

Sie umrundeten den Teich der Eßbaren Frösche, und dem Dachs fielen die Kröte und die Kreuzotter ein, die hier irgendwo schlafen mußten, tief unten am Ufer, geschützt vor dem Wetter. Alles, was sie später über den Winter wissen würden, würde aus den Erzählungen ihrer Freunde stammen.

»Wie es ihnen wohl ergangen ist?« murmelte der Dachs mehr zu sich selbst. Der Fuchs, die Füchsin, der Maulwurf, das Wiesel, der Waldkauz... seine Freunde waren zu Fremden geworden. In den vergangenen Wochen war ein Hätscheltier des Menschen ihm vertrauter gewesen als seine früheren Freunde.

Etwas weiter stand die Rote still. »Ich gehe jetzt zurück«, sagte sie. »Sei vorsichtig. Und grüße bitte den Maulwurf und die Füchse.«

»Lebewohl«, sagte der Dachs. »Du warst mir eine gute Freundin. Wir werden uns sicher Wiedersehen.«

»Bis dann«, sagte die Katze.

Der Dachs blickte ihr nach, als sie durch den Schnee zurücklief. Der Himmel über dem Park sah bleigrau aus; es war windstill und bedrohlich dunkel. Ein Schneesturm kündigte sich an. Er mußte seinen Bau so schnell wie möglich erreichen. Seine Freunde zu besuchen, dazu war später noch Zeit genug.

 

Was die Tiere im Park erlebten
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