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»Genießt du den Morgen?«

Bernstein drehte sich bei Lord Styrax’ Worten eilig um.

Ihr Götter, ich habe nicht das Geringste gehört, dachte er und sagte dann: »Ganz recht, mein Lord. Eine Nacht in Nais Gegenwart reicht aus, damit ein Mann eine ordentliche Brise zu schätzen lernt.«

»War die Luft nicht frisch in eurer Kammer?«

Heute hatte sich Lord Styrax wie ein Offizier in Zivil gekleidet: ein dickes schwarzes Leinenwams ohne Verzierung oder Rangabzeichen, eine schwarze Hose und hohe, auf Hochglanz polierte Reiterstiefel. Das Weißauge war vielleicht nicht übermäßig hübsch – tatsächlich nahmen die Leute seine Züge kaum wahr und wenige könnten sie aus dem Gedächtnis beschreiben. Aber man erinnerte sich doch an die Macht, die ihn wie ein Mantel umgab.

»Ein wenig reif, wenn mein Lord mir diese Bemerkung verzeiht.«

»Das war das Schwein – selbst für meinen Magen war es etwas stark gewürzt.«

Sogar hier auf dem Gelände der Bibliothek, wo es keine Magie gab, wirkte Lord Styrax’ Ausstrahlung beinahe überwältigend. Er war einer der größten Männer des Landes, doch er bewegte sich trotz seiner Maße so geschickt und bedacht wie ein Tänzer. Nach Bernsteins Meinung musste der undurchschaubare Riese mehr als nur ein Mensch sein, so als hätten die Götter die Gussform endlich zur Vollendung gebracht. Sogar Aryn Bwr konnte nicht mehr Anhänger begeistert haben als Kastan Styrax.

Lord Styrax machte ein paar Schritte und stellte sich neben den Oberst. Die Bibliothek der Jahreszeiten hatte nur einen Ausgang, ein gewaltiges Tor. Das Torhaus war in den Fels eingelassen und ragte bis auf die Straße, wodurch es die gesamte Länge von Ilits Treppe überblickte. Der Bogen nutzte einen natürlichen Spalt in der Wand aus, und quadratische Blöcke erstreckten sich an dem Felsen entlang. Ohne das Tor wirkte die Bibliothek sehr verletzlich, aber Ilits Treppe überwand mit zwanzig Schritt breiten, stufenförmig angelegten Plattformen einen Höhenunterschied von zweihundert Schritt und bot den Aufsteigenden keinerlei Deckung.

Die Wächter der Bibliothek hatten dafür gesorgt, dass jeder von den riesigen Lagerräumen wusste, in denen neben den Waffen der Gäste ganze Wagenladungen Pfeile lagerten – einer für jeden Mann, den Deverk Grast nach Ismess geführt hatte. Das mochte eine Legende sein, aber es gab mehr als ein Dutzend Balistae, die dem gleichen Zweck dienten.

»Sehnst du dich nach der Freiheit?«, fragte Lord Styrax und wies zum Torbogen hinüber, hinter dem die spärlich bewaldeten Hügel auf der anderen Seite der Stadt und auch der klare, blassblaue Himmel zu sehen waren. Es war ganz früh. Die Sonne war erst von einer halben Stunde aufgegangen, und das Tal lag noch im Schatten. Die Luft war kalt und frisch.

Es erinnerte Bernstein an die Wintermorgen, da er mit seinem Vater und seinen Brüdern jagen gegangen war.

»Ich genieße nur die Aussicht«, sagte er schließlich. »In einer so feinen Umgebung werde ich immer etwas unruhig, vor allem, wenn meine Männer ohne mich da draußen sind.«

»Dann will ich dich mal beschäftigen. Ich werde den ganzen Tag im Faerenhaus verbringen und brauche jemanden, der mich begleitet.«

»Natürlich, mein Lord.« Bernstein zögerte kurz, dann fragte er: »Mein Lord, wäre Nai nicht ein besserer Helfer? Ich kann Euch doch nur dadurch unterstützen, dass ich Bücher trage.«

Lord Styrax nickte. »Ohne Zweifel richtig, aber es heißt ja auch: Traue keinem Nekromanten. Die Leute mögen meinesgleichen aus gutem Grund hassen, aber denen, die im Dunkeln wandeln, können wir nicht das Wasser reichen.«

Styrax’ Worte erinnerten Bernstein an die Unterhaltung zwischen dem Nekromanten Isherin Purn, dem Herrn Nais, und Lord Styrax, die er in Thotel belauscht hatte. Bernstein hatte gemerkt, dass in jedem Wort des Mannes etwas mitschwang, das er nicht deuten konnte, das jedoch auf Spannungen und Bünde hinwies, von denen er nichts wusste.

Die Wachen am Tor wandten ihnen die Köpfe zu und zeigten die Gesichter nervöser Litse, die wie Wild wirkten, wenn es den Wolf witterte. Die Weißaugen brauchten am längsten, um zu reagieren. Drei behielten Ismess im Auge und spürten den Wind, der Ilits Treppe hinaufwehte. Einer hatte seine Flügel ausgebreitet, obwohl er noch mindestens zehn Schritt machen müsste, bevor er fliegen könnte. Trotz ihrer Größe waren die Flügel nicht in der Lage, einen Mann ohne magische Hilfe zu tragen.

»Eingesperrte Vögel«, sagte Styrax und nickte zu den Weißaugen hinüber, die sich nun endlich ebenfalls umdrehten. Er schien ihr Unwohlsein zu genießen. »Sie sind an diesen Ort gebunden, dazu erzogen, durch die Stäbe zu spähen, aber nie zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen.«

»Ich verstehe dieses Volk nicht«, gab Bernstein zu. »Sogar ihre Weißaugen wirken auf mich fremdartig, denn ich dachte, Eure Art sei überall im Land gleich.«

»Sie sind ein gebrochener Stamm, machen sich ihre früheren Erfolge nicht bewusst. Ohne jemanden mit Weitsicht werden sie sich noch tausend Jahre an diesem verdammten Ort grämen, bis die Inzucht oder ein Krieg sie schließlich vernichtet.«

Aber welche Lösung werden wir bieten?, fragte sich Bernstein, als sich Styrax abrupt umdrehte und Bernstein bedeutete, ihm zu folgen.

Es hatte die Nacht über geregnet, und der Boden war schlammig, darum hielten sie auf den nächsten Kieselpfad zu. Gesh folgte ihnen. Das Weißauge war wie am Vortag in eine formelle weiße Robe unter einer zeremoniellen Rüstung gekleidet. Es wirkte seltsam, einen Mann mit so wenig Farbe zu sehen. Mit der bleichen Haut, dem eierschalenweißen Haar und den weißen Augen wirkte Gesh fast wie tot. Sein schmaler Körperbau und die unweltliche Erscheinung erinnerte Bernstein an Geschichten über die Elfen, und der Gegensatz der hellroten und -grünen Kurzspeere, die in einem übergroßen Köcher an seiner Hüfte hingen, unterstrich dieses unwirkliche Bild nur noch.

»Der da hat ein wenig Feuer«, kommentierte Lord Styrax, der Bernsteins Blick gefolgt war. Sie folgten dem Kieselpfad an einem Bach entlang und drehten dann zum hoch aufragenden Faerenhaus ab.

»Gib mir etwas Zeit, und ich finde einen Weg, um ihn zu kriegen.« Auf Bernsteins verwunderten Blick hin lachte Styrax. »Nein, nicht so! Lord Celao ist eine Schande und ein Narr. Es ist besser, wenn er an einer Fischgräte erstickt und Gesh das Kommando in Ismess übernimmt. Ich erlaube es meinen untergebenen Staaten nicht, so schwach zu sein.«

»Sie werden Euch niemals lieben«, dachte Bernstein laut.

»Richtig, aber sie werden mich auch nicht hassen, und ihre Kinder werden aufwachsen und wissen, wer ihnen wieder eine Zukunft gegeben hat. Nein, Ismess ist ein Problem, für dessen Lösung ich nur etwas Zeit brauche. Über Byora muss ich nachdenken.«

»Wegen der Herzogin Natai Escral oder wegen ihrer Leibwache?«

»Wegen beiden. Deine Nachrichten bestätigen mich darin, dass Byora der Dreh- und Angelpunkt der Runden Stadt ist – und offenbar sind wir mit dieser Ansicht nicht allein.«

»Das alles übersteigt mein Verständnis«, seufzte Bernstein. »Wie sagt man das Verhalten von Unsterblichen voraus?«

»In gewisser Hinsicht kann man sie leichter verstehen. Ihre Gelüste und Ängste nehmen zu. Ich vermute, dass sich Zhia im Augenblick vorrangig im Spiel halten will. Sie spürt, dass Großes bevorsteht und weiß auch, dass sie auf dem Spielbrett bleiben muss, wenn sie jemals einen Nutzen daraus ziehen will.«

Styrax klopfte Bernstein mit seiner riesigen Hand auf die Schulter. »Du hast dich in Scree gut geschlagen, Oberst, hast deine Hand gut gespielt. Bis dahin war Azaer nicht mehr als ein undurchschaubarer Verweis. Jetzt erkenne ich, dass mich seine Pläne direkt betreffen. Die Legenden über Zhia haben das Wesen dahinter verborgen, aber noch vor einer großen Verräterin und vor einem Monster ist sie eine gewöhnliche Person, jemand, den man kennenlernen muss, ebenso wie die anderen.«

Bernstein nickte. Die Nachbesprechung bei seiner Rückkehr zum Heer war ausführlich und erschöpfend gewesen und ihm zeitweilig wie ein Verhör vorgekommen, weil Lord Styrax und General Gaur jedes Gespräch und jede Handlung, an die er sich erinnerte, begierig durchgingen und besprachen.

»Ich habe von Azaer bisher nur seine Legende vernommen.«

»Und sie wurde sorgfältig gefügt, aber ja, ich muss vor allem mehr über Azaer erfahren, bevor ich ihn verstehen kann. Bevor ich Lord Bahl tötete, warnte mich der Schatten davor, dass mich bei meiner Rückkehr ein Aufstand erwartete. Warum? Wollte er denn, dass mein Eroberungsfeldzug weiterging? Sollte ich als Zeuge hier sein, oder hatte Salen ihn betrogen? Was hatte er in Byora vor, dass er eine Ablenkung brauchte? Es wird in den nächsten Monaten deine Aufgabe sein, Byora unauffällig zu beobachten und mich über die Geschehnisse zu unterrichten.«

»Ich fühle mich geehrt, mein Lord.«

»Ich glaube nicht, dass es sonderlich ehrenvoll werden wird«, sagte Styrax lächelnd. »Aber du hast Scree überlebt und weißt, worauf du achten musst. Mach dir wegen deiner Männer keine Sorgen. Wenn wir in die nächste Schlacht ziehen, wirst du sie wieder anführen.«

»Ich danke Euch, mein Lord«, sagte Bernstein und war gerührt, dass sein Herr das Bedürfnis verstand, bei den eigenen Männern zu sein, wenn sie gegen den Feind zogen.

Am Eingang des Faerenhauses blieb Lord Styrax kurz stehen, um das rechteckige Denkmal noch einmal zu betrachten. »Rätsel über Rätsel«, sagte er. »Doch das erste Rätsel, um das wir uns kümmern werden, ist das des Herzens. Ich nehme nicht an, dass unter deine Fertigkeiten auch das Entschlüsseln fällt, Bernstein?«

Bernstein schüttelte den Kopf, und Lord Styrax klopfte ihm auf den Rücken.

»Keine Sorge … wir werden sehen, wie schnell du lernst«, sagte er fröhlich und ging die Treppe zum Haupteingang hinauf.

Bernstein seufzte und folgte ihm.

 

Als Lordprotektor Torl aus seinem Zelt trat, war die Dämmerung noch grau und die Sonne wenig mehr als ein Schimmer am Horizont. Das Lager war unnatürlich still, auch wenn man die frühe Stunde bedachte. Bei einem Rundblick fand er einige der Feuer schon wieder angefacht, aber nur wenig Männer auf den Beinen. Er hatte sie in den letzten Wochen hart angetrieben, doch die Erschöpfung war nicht der einzige Grund für die schwer lastende Stille. Es war gut, dass sich Lord Isak fernhielt, denn es gab nach dem Einbruch der Nacht bereits genug Tod.

Zur Linken flackerten die Feuer von Lord Isaks Armee. Einer seiner Gehilfen hatte sie scherzhaft als das zeitweilige Farlan-Heer bezeichnet. Die Kleriker mochten das Wort Kreuzzug nicht. Trotz ihres Hasses und ihrer Wut hatten sie angenehmere Worte geprägt: Soldaten der Götter, Verteidiger des Glaubens, sogar spirituelle Gesandte. Jeder Kult und jede Strömung hatte einen eigenen Namen und eine andere Vorstellung vom Ziel des Ganzen. Das stieß Torl ebenso bitter auf wie ihr Beharren darauf, dass sie wegen allem und jedem befragt werden wollten, sogar bei der Truppenversorgung.

»Mein Lordprotektor«, rief Leutnant Zaler, während er zu ihm eilte. »Guten Morgen, Herr.«

»Ist es denn ein solcher?«, grollte Torl. »Schwer zu sagen.«

Zaler zögerte. »Äh, was von beidem, mein Lord?« Er war ein junger Mann, der Neffe eines Vetters von Torls Frau, und immer noch seltsam ernst, obwohl er schon mehr als ein Jahr Torls Gehilfe war. Er war klein und schlank – er würde nie ein guter Kämpfer werden – und das versuchte Zaler auszugleichen, indem er sich zuverlässig, hilfreich und hochwirksam einsetzte. Leider fehlte ihm der gesunde Menschenverstand eines Soldaten und jede Spur des üblichen Soldatenspotts.

»Gut oder Morgen?«, wiederholte Zaler aufgeregt.

»Stell dich nicht dumm, Leutnant«, sagte Torl verärgert.

»Verzeihung, Herr. Soll ich den Weckruf befehlen?«

Torl nickte und bemerkte dann an Zalers Gesichtsausdruck, dass er schon wieder die Augen zusammenkniff und die Nase rümpfte. Er sah wohl langsam so alt und ausgelaugt aus, wie er sich fühlte. Ein Feldbett war kein Ersatz für die riesige Federkernmatratze im Herrschaftsschlafzimmer des Koan-Anwesens, seinem Haupthaus. Er war zwar an Feldzüge gewöhnt, aber nun holten ihn die Jahre ein.

Zaler machte dem Hornisten des Lordprotektoren ein Zeichen. Dieser salutierte und hob das Horn an die Lippen, um ihm eine kräftige Tonfolge zu entlocken. Es sorgte für lautes Stöhnen um sie herum, dann nahmen die Hornisten der anderen Regimenter den Ruf auf, so dass er aus allen Richtungen erklang. Binnen Augenblicken schallten die Töne auch vom anderen Lager herüber, wo General Lahk seine eigenen Truppen weckte.

Torl sah die Zeltreihen entlang. Seine eigenen Truppen blieben in Zucht und Ordnung, aber die Pönitentenlegionen ließen sich zunehmend gehen, ihre Moral sank. Das bedeutete, dass die Männer der Priester das Lager oft erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten – aber die Kleriker hatten daraufhin nur die langsamsten Einheiten auspeitschen lassen, was die Sache nur noch verschlimmerte.

»Herr, soll ich einen Heiler rufen lassen? Ihr wirkt erschöpft«, sagte Zaler besorgt.

Torl schüttelte den Kopf. »Das ist nur die Anstrengung. Ich kann nicht zulassen, dass die Männer sehen, wie ich an zwei Tagen hintereinander von einem Heiler behandelt werde, das würde die falschen Zeichen aussenden.«

»Seid Ihr sicher, mein Lord? Ihr seid sehr bleich.«

Zaler wirkte nervös, und Torl dachte noch einmal darüber nach. Der junge Mann drängte eigentlich nie, wenn es nicht nötig war, und tatsächlich fühlte sich sein Brustpanzer heute so schwer an, wie ein ganzer Plattenpanzer. »Die Männer kämpfen nicht für einen verwöhnten Dummkopf, Zaler«, sagte er nach einer Weile.

»Herr, so etwas würde kein Mann des Heeres jemals denken. Ihr seid nun mal fast zwanzig Jahre älter als die meisten von uns und … Ihr sagtet mir einst, dass ein General wichtiger sei als jeder seiner Männer. Das waren Eure Worte, Herr. Ein General muss auf sich achten. Krankheit oder Erschöpfung sorgen für schlechte Entscheidungen, und die kosten Leben.«

Torl sah seinen Gehilfen böse an. Vielleicht ist der Junge doch nicht ganz überflüssig. »Ausgerechnet jetzt beweist du mir, dass du mir wirklich zuhörst? Wenn du damit im Feld einem General widersprichst?«

Zaler verzog das Gesicht, machte aber keinen Rückzieher. »Ihr habt mir die Aufgaben des Gehilfen eines Generals sehr deutlich erläutert.«

»Wenn du mich danach in Ruhe lässt, dann hol eben einen Heiler …« Torl unterbrach sich selbst. »Nein, sag mir erst, ob es in der letzten Nacht Ärger gab.«

»Ich befürchte, ja, aber wie es scheint, sind wir erneut siegreich gewesen.«

»Ihr Götter, wir kämpfen untereinander, während wir in den Krieg ziehen.« Torl seufzte, ließ sich auf seinen Feldstuhl sinken und nahm eine Schale mit Tee von seinem Knappen entgegen. Er legte die Hände darum und nippte an der heißen Flüssigkeit, wobei sich seine Stirnfalten etwas glätteten. »Mit jedem Jahr dauert es länger, die morgendliche Kälte aus den Knochen zu vertreiben«, sagte er vor sich hin, dann sah er auf. »Ist Tiniq da?«

Zaler nickte und winkte General Lahks Halbbruder herüber. Er war ein Laienzauberer, ein Soldat mit schlummernden magischen Fähigkeiten, die sich zwar nie voll entwickelten, dessen Geschick aber dennoch über das normale Maß hinausging. Lesarl hatte ihn aus Isaks Leibwache abgezogen, damit er dem Lordprotektor beim Umgang mit den unfreundlicheren der Kleriker half.

Bisher hatten nur zwei Anschläge auf Torls Leben stattgefunden und in den meisten Nächten hatte es irgendwelche Ausschreitungen gegeben, aber die Spione des Haushofmeisters waren den Söldnern, die jeden Widerstand gegen die Herrschaft der Kulte ausschalten wollten, mehr als gewachsen. Tiniq schlief tagsüber in den Lastkarren, damit er die Nacht über Wache halten konnte.

»Lordprotektor Torl«, grüßte Tiniq und kam zügigen Schrittes herüber. Sein linker Arm war verbunden, aber das schien ihm keine großen Schwierigkeiten zu bereiten.

Er war zwar der Zwilling eines Weißauges – was jeder Arzt als unmöglich bezeichnet hätte –, aber er war nicht sonderlich auffällig. Der frühere Waldläufer war von durchschnittlicher Größe und ebensolchem Wuchs, und auch seine Augen schienen normal. Seine einzige offensichtliche Fähigkeit lag darin, stets mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Die anderen Unterschiede bemerkte man erst, wenn man erfuhr, dass er nur fünf Jahre jünger war als Torl und man die Schnelligkeit gesehen hatte, mit der er reagiert hatte, als ein Priester des Nartis den Lordprotektor hatte töten wollen.

»Was ist mir Eurem Arm passiert?«, fragte Torl und bemerkte mürrisch, dass nur einer von ihnen an diesem Morgen sein Alter in den Knochen spürte. In Tiniqs Augen lag ein beunruhigendes Funkeln. Der Mann stand ungern im Mittelpunkt, aber die Aufregung der Nacht ließ ihn ungewöhnlich aufgedreht zurück.

»Meuchler haben versucht, uns auszuschalten«, verkündete er. »Es geht doch nichts über ein bisschen Anerkennung, was? Wir haben eine Gruppe auf dem Weg in den Saroc-Teil ausgehoben. Vermutlich wollten sie Oberst Medah umbringen.«

»Und sie haben Euch ebenfalls überfallen?«

»Sie haben es jedenfalls versucht, aber sie haben Leshi und Shinir übersehen, die uns unauffällig folgten.«

»Gefangene?«

Tiniq scharrte mit den Füßen. »Ardela hat sich da ein bisschen reingesteigert.«

»Ardela? Die Höllenkatze mit dem rasierten Schädel?«

»Genau die«, stimmte Tiniq zu und grinste breit. »Wie es aussieht, hat sie ein richtiges Problem mit jedem, der Nartis verbunden ist. Als sie erkannte, dass wir es mit Pönitenten des Nartis zu tun hatten, lief sie Amok.« Er bemerkte des Ausdruck auf Torls Gesicht und setzte hinzu: »Tut mir leid, mein Lord. Ich habe die Frau erst an dem Tag kennengelernt, als wir Tirah verließen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so verrückt ist.«

Sie wurden von lauten Stimmen in der Nähe unterbrochen und wandten sich der nahenden Gruppe eigener Männer zu. Lordprotektor Torls Leibgarde griff nach den Waffen.

Torl sah an seinen Männern vorbei und erblickte die große in Weiß gekleidete Gestalt in der Mitte einer Gruppe von Priestern. »Ihr Götter, das hat mir noch gefehlt«, murmelte er, dann sagte er lauter: »Sir Dahten, Eure Männer sollen die Waffen wegstecken.«

Der grauhaarige Leibgardist warf seinem Lordprotektor einen gequälten Blick zu. Torl beachtete ihn gar nicht, also bellte Sir Dahten einen Befehl. Keiner von ihnen senkte die Waffe, aber sie verhielten sich weniger bedrohlich. Rund um sie herum erwachte das Lager weiter.

»Chalat, guten Morgen«, rief Torl. Das Chetse-Weißauge antwortete nicht sofort. Er beobachtete das Lager des anderen Heeres. Torl kniete sich hin und bot ihm seinen Schwertgriff an, wie es die Farlan-Tradition verlangte. Er hatte den ehemaligen Herrscher der Chetse erst auf diesem Feldzug kennengelernt, kannte aber genug Geschichten über ihn. Sein Appetit war ebenso legendär wie seine körperliche Tüchtigkeit. Doch wie es schien würde man einige der Geschichten überarbeiten müssen.

»Torl, Eure Männer führen die Morgenandachten nicht durch«, sagte Chalat schließlich. Sein Blick wanderte über die versammelte Leibgarde und fand zuletzt den Lordprotektor. »Ihre mangelnde Frömmigkeit ist uns allen ein Grund zur Sorge. Der Erfolg hängt vom Segen der Götter ab.«

Chalat war so groß wie General Lahk, aber deutlich kräftiger gebaut als jeder Farlan. Seine Oberarme waren so dick wie Männeroberschenkel  – sein unlängst begonnenes Fasten hatte sie nur wenig dünner werden lassen. Aber der einst für seine Fassform gepriesene Chalat hatte seinen Bauch verloren und erschien nun unterhalb seines ausladenden Brustkorbs deutlich schmaler, was durch das Seil, das er sich um die Taille band, noch betont wurde. Sein Haar war silbergrau, was bei Weißaugen selten war. Obwohl Chalat bereits länger als jeder normale Mensch lebte, war er im Sommer immer noch von der braunen Farbe gewesen, die für Chetse so üblich war.

»Ich stelle ihre Frömmigkeit nicht infrage, Chalat«, sagte Torl angestrengt. »Über einige der Leute, die Euch wie aasfressende Krägen folgen, kann ich das allerdings nicht sagen.«

Die Krähen hinter Chalat flatterten empört mit den Flügeln, doch brachte er sie mit einer Geste zum Schweigen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos – er war mit dem Land im Einklang und sich seiner Stellung sicher. Das beunruhigte Lordprotektor Torl, der Vater eines Weißauges und lange Jahre Lord Bahls Vertrauter gewesen war. Ein Weißauge mitten in einem Heer sollte nicht so aussehen. Das widersprach ihrem ureigensten Antrieb.

»Sie sind Motten, keine Krähen, und sie umschwärmen mein Licht«, sagte Chalat ruhig. Er trug auf dem Rücken noch immer das große Breitschwert, das er erhalten hatte, als ihn der Feuergott vor vielen Jahren erwählt hatte. Das Blutrosenamulett jedoch, das er ebenfalls erhalten hatte, hatte er abgegeben, bevor er Lomin verließ. Torl, als er dies gehört hatte, hatte gelacht, da er nicht hatte glauben können, dass ein Weißauge ein Artefakt von solcher Macht abgeben würde. Aber Chalat hatte es wirklich getan. Er hatte sich unwiderruflich verändert.

»Kein Weißauge mehr«, erinnerte sich Torl an Chalats Worte, als er sich ihnen angeschlossen hatte. »Kein Lord mehr, nur noch ein Bote der Götter.«

Das kommt einem Propheten für meinen Geschmack ein wenig zu nah, und jeder weiß doch, dass die alle verrückt sind. Denkst du, der Glaube könne Speere abhalten?, fragte er sich in Gedanken.

»Motten sind dumme Kreaturen, die bald von den Flammen verzehrt werden«, sagte Torl.

Chalat nickte langsam. Ihn interessierte offensichtlich nur der Ruhm und nicht dessen Auswirkungen. »Das Heer muss die Andacht jeden Morgen durchführen, die Offiziere zusammen mit ihren Männern. Die Priester werden es überwachen und ihnen die Wege der Götter näher bringen. Es gibt Gerüchte über Gottlose unter uns, von Kreaturen, die tagsüber schlafen und des Nachts durch das Lager schleichen.«

Ihnen die Wege der Götter näher bringen? Ich kann mir kaum vorstellen, was das heißen soll. Glauben sie denn wirklich, dass die Männer einfach danebenstehen, wenn ihre Freunde weggeschleift werden?

Torl musterte die Priester, die im Schatten des Chetse standen, und wollte sehen, ob er einen wiedererkannte. Die Mitglieder der Gruppe wechselten beständig, was einen Schluss auf den wilden Kampf um die Herrschaft unter den Klerikern des Kreuzzuges zuließ. Zwei waren Priester des Tsatach, noch im kampffähigen Alter, die Chalat als seine Schüler angenommen hatte. Der Rest bestand vorrangig aus Mitgliedern von Tempeln des Nartis und des Todes, doch heute waren auch Vertreter Belarannars, Vrests und Vasles dabei.

»Es würde uns täglich eine Stunde kosten, wenn die Männer allesamt die Andacht durchführten«, wandte Torl ein. »Und das gibt dem Feind mehr Zeit, uns zu bemerken und sich vorzubereiten.«

»Ihr behauptet doch, Eure Magier und Hellseher würden uns vor der Entdeckung schützen. Stimmt das etwas nicht?«

»Ich kann gar nichts versprechen. Der Erwählte des Larat könnte mächtiger sein als unsere Magier.« Jetzt plötzlich sind sie nützlich? Gestern wolltest du sie noch samt und sonders als Ketzer aufknüpfen, obwohl sie uns gesagt haben, wo die Menin sind.

»In diesem Fall sind sie für uns nutzlos«, antwortete Chalat nur. »Sie werden vor ein Anstandstribunal gestellt werden und müssen sich dort rechtfertigen.«

Torl deutete eine Verbeugung an und versuchte damit, beschwichtigend zu wirken. »Ich befürchte, das wird nicht möglich sein. Lord Isak hat alle Magier in sein Heer befohlen. Nach den Todesfällen vor zwei Nächten hat er alle Mitglieder der Akademie zu sich beordert.«

»Sie unterstehen meinem Befehl«, sagte Chalat und sah Torl zum ersten Mal richtig an. Ein Funke des Weißauges, das er einst gewesen war, flackerte in seinen Augen auf. »Sie sind Werkzeuge der Götter, die ich so einsetze, wie ich es für richtig halte. Sagt dem Jungen, er soll sie zurückschicken.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Torl, den Chalats Verhalten überraschte. Das Weißauge konnte sich gar nicht vorstellen, dass sein Befehl nicht befolgt werden könnte. Vermutlich erwartete er, dass Lord Isak artig gehorchte.

Die Anstandstribunale wurden zunehmend gewalttätiger. Männer wurden vor den zu Gericht sitzenden Priestern ausgepeitscht, manchmal bis zum Tod, um Geständnisse zu erzwingen. Aber wirklich leid taten Torl die Überlebenden. Nachdem man ihnen das Schuldgeständnis abgepresst und sie gezwungen hatte, ihre Freunde zu beschuldigen und ihre Kameraden zu bestrafen, erhielten sie eine »Umerziehung« – Torl war sich nicht sicher, ob die zum Tode Verurteilten nicht glimpflicher davonkamen. Er war schon so weit, dass er Tiniq befohlen hatte, Männer zu töten, um sie vor diesem Irrsinn zu bewahren, der sich Tag für Tag wiederholte.

»Wir sind dem Feind nah, ich kann seine Ketzerei im Wind riechen«, sagte Chalat und riss Torl damit aus seinen düsteren Gedanken.

»Wir werden heute in Kampfformation reiten«, stimmte Torl zu. »Nach vier Tagen harten Ritts sollte der Schwarzzahn in Sicht kommen. Meinen letzten Berichten zufolge haben Lord Styrax’ Truppen ihr Lager vor Akell aufgeschlagen.«

»Ich muss das Heer anführen.« Chalat warf einen Blick zum anderen Heer hinüber, in das gerade Bewegung kam. General Lahk trieb sie gewiss an, damit sie als Erste das Lager abbrachen. »Wir werden vor Lord Isak aufbrechen. Ihr dürft Euch zu mir gesellen, Lordprotektor Torl.« Und damit wandte er sich ab und ging.

Die Menge der Priester teilte sich, um ihm Platz zu machen und begab sich dann gesittet weiter, um ihm zu folgen. Nur einer blieb zurück, ein großer Mann um die dreißig Sommer und mit einer flachen Nase. Er trug die Robe des Nartis. Er schien nicht zu bemerken, dass seine Kameraden die Reihe der Leibgarde schon passiert hatten, denn er musterte Lordprotektor Torl eingängig. Der ältere Mann erkannte ihn nicht, vermutete aber, dass er einer der magisch begabten war. Soweit Torl über die wechselnden Bünde und Gemeinschaften innerhalb der Kulte Bescheid wusste, hatte die Aussicht auf die Schlacht die Magier an die Macht gebracht.

»Der Bote der Götter befehligt Euch. Ihr werdet Eure Leibgarde nicht brauchen, lasst sie also hier.« Der Priester lächelte listig und bedeutete Torl, Chalat zu folgen. »Wir haben den Eindruck, dass Ihr weiter in Fragen der Religion geschult werden müsst.«

»Verflucht seist du mit deinen Eiferer-Kumpanen!«

Torl blinzelte. Kurz glaubte er, sein eigener Mund habe diese Worte gesprochen, aber dann bemerkte er, dass Tiniq vorgetreten war und offensichtliche Abscheu in den Zügen trug.

Der Priester wirkte nicht eingeschüchtert. »Gottloser Abschaum«, sagte er scharf. »Für diese Beleidigung der Kulte wirst du vor das Tribunal gestellt, das schwöre ich dir.«

»Nur zu«, antwortete Tiniq. »Mein Name ist Tiniq. Ich bin der Bruder General Lahks, und mein Schwert gehört Isak Sturmbringer. Wenn du glaubst, du könntest mich vor ein Tribunal zerren, nur zu.«

Der Kopf des Priesters ruckte zu Torl zurück. »Ihr umgebt Euch mit Ketzern«, zischte er. »Ihr müsst noch viel mehr lernen, als wir dachten. Lasst Eure Waffen zurück und folgt mir.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Lord Chalat weitergegangen war und nichts davon mitbekam, machte Torl eine kleine Geste. Auf dieses Zeichen hin zogen alle umstehenden Soldaten ihre Waffen – ein ganzes Regiment von eingeschworenen Leibgardisten.

»Ich bin mein ganzes erwachsenes Leben schon Mitglied der Bruderschaft der heiligen Lehre«, sagte er sanft. »Aber ich würde nur zu gern mitkommen und mich von einem Mann über Frömmigkeit belehren lassen, der halb so alt ist wie ich. Doch leider hindert mich die Sonderverfügung Sieben daran, und gegen diese zu verstoßen wäre Hochverrat.«

»Die Sonderverfügung steht nicht höher als das Wort der Götter!«

»Sicher nicht«, sagte Torl und setzte geringschätzig hinzu: »Aber Ihr seid kein Gott, sondern ein dummer kleiner Mann, der sich an seiner Macht berauscht. Sagt den anderen Schwachköpfen, die in Eurem sogenannten Anstandstribunal sitzen, dass ich angewiesen wurde, die Sonderverfügung Sieben wortgetreu zu befolgen. Sie sagt aus, dass ein Offizier des Heeres nur von einem Militärgericht abgeurteilt werden darf. Außerdem darf kein Mann mit höfischem Rang und kein befehlshabender Offizier ohne Waffen oder ohne seine Leibgarde reisen. Wenn Ihr mich unterrichten möchtet, so müsst Ihr erst einen Antrag bei der entsprechenden Stelle des Farlan-Heeres stellen.« Er wies zum anderen Heer hinüber, dann auf den Anführer seiner Leibgarde. »Das wäre Lord Isak, oder im Notfall, ich selbst. Sir Dahten hier kümmert sich im Vorfeld um alle Anfragen.«

Er wandte sich ab und zeigte damit, dass das Gespräch beendet war. Hinter ihm stammelte der Priester wütend, bis ihm Sir Dahten auf die Schulter schlug. Der Ritter hatte eine besondere Begabung: Er traf in neun von zehn Fällen ohne Mühe mit dem Finger direkt in die weiche Kuhle auf der Schulter. Als er das leise Pochen der Knie des Mannes auf dem Boden hörte, wusste Torl, dass Dahten mal wieder getroffen hatte.

»Anfragen«, sagte Dahten mit böser Stimme, »können zu diesem Zeitpunkt des Vorgangs nicht mündlich vorgebracht werden. Streckt Eure Arme weit aus – ich bin sicher, dass Euer Gott Euch in dieser Stunde der Not Kraft schenkt.«

Wie lange noch können wir so weitermachen?, fragte sich Torl, schloss dann die Augen und hörte den Protest, als in jede der ausgestreckten Hände des Priesters ein Schwert gelegt wurde. Fünf Tage noch, bis wir die Runde Stadt erreichen. Oder haben wir uns bis dahin bereits zu sehr entzweit?

 

Am folgenden Morgen entlud sich ein Unwetter über der Runden Stadt. Die warnenden Hornstöße waren im Morgengrauen ertönt, und während die Laute noch über die Stadt hallten, kam schon die Sturzflut. In Brand war die Narbe, die den Spalt umgab, der Cambreys Zunge genannt wurde, mit dichtem, stinkendem, grauem Rauch erfüllt.

Ruhen stand in seinem hochgelegenen Zimmer im Rubinturm und sah auf eine von der Flut reingewaschene Stadt hinab. Er starrte in die verschwommene Ferne und auf seinem stets ernsten Gesicht lag nun eine Spur von Sorge. In den Händen hielt er das dünne Buch, das einzige, was seine Mutter je besessen hatte und an das sie sich jetzt nicht mehr erinnerte. Es war das Tagebuch Vorizh Vukotics, das sie aus der Asche Screes gezogen hatte. Es erheiterte ihn, dass etwas so Wertvolles, dessen Inhalt den Verlauf des kommenden Kriegsjahres bestimmen würde, sein Kinderspielzeug gewesen war.

»Komm vom Fenster weg, Liebling«, rief die Herzogin und streckte ihm die Hand hin. »Komm, Ruhen, setzt dich zu mir.« Sie rieb sich die Schläfen, wie sie es in letzter Zeit fast unablässig tat, um damit die Kopfschmerzen zu vertreiben. Die Ränder unter ihren Augen gaben Auskunft darüber, wie schlecht sie schlief – Ruhen schlief nicht gerne in ihrem Zimmer. Er zog es vor, nach Belieben Zugang zu den dunklen Gängen des Turms zu haben, und ohne ihn fand die Herzogin keine Ruhe. Jeden Morgen wirkte sie etwas erschöpfter, etwas unruhiger, etwas ängstlicher vor den Schatten.

»Sie kommen, mein Lord.« Die Stimme, die nur Ruhen hörte, ritt auf dem Wind. Haipar zuckte. Die knochige Frau sank ein wenig mehr in sich zusammen und kaute stärker an der Lippe, als sie Aracnans Anwesenheit im Zimmer spürte, auch wenn sie ihn nicht hören konnte. Ilumene, der einen Kater hatte, bekam nichts davon mit. Er starrte grimmig auf den Boden und nippte gelegentlich an einem Becher lauwarmen Kaffees.

»Wie lang?«

»Etwa vier Tage, wenn sie die Langsamsten zurücklassen. Die ganze Armee besteht, abgesehen von dem abgerissenen Schwarm an Bauern, der ihnen folgt, aus Kavallerie. Fünf Tage, wenn sie bei ihrer Ankunft in der Lage sein wollen zu kämpfen.«

Aracnan war nur ein fernes Echo in Ruhens Kopf. Der Söldner befand sich irgendwo in Rad und jagte die Farlan-Frau, die ihm entkommen war. Seine Verärgerung darüber, dass er sie nicht finden konnte, war deutlich spürbar. Die Stellung des Söldners innerhalb der Ereignisse hatte sich geändert. Es war kein Geheimnis mehr, auf welcher Seite er stand. Das schmälerte seine Nützlichkeit.

»Ruhen, bitte komm und halte meine Hand, flüstere meine Kopfschmerzen weg«, flehte die Herzogin.

Der kleine Junge drehte sich um und lächelte sie an, was ausreichte, um alle Sorge aus ihren Zügen weichen zu lassen, zumindest so lange, bis er sich wieder zum Fenster drehte.

»Der Junge will mich umbringen. Eine seltsame Wahl – er kennt die Gefahren.«

»Die eine Hälfte wird von einem Chetse-Weißauge angeführt.«

»Lord Chalat? Hervorragend. Sende ihm Träume von Dämonen, fache seine religiöse Raserei weiter an. Er wird den Kreuzzug vorantreiben und so verhindern, dass Lord Isak die Zeit findet, sich um die Menin zu kümmern oder Byora anzugreifen. Er kann den Kreuzzug nicht verlassen.«

»Werdet Ihr mit Lord Styrax verhandeln?«

»Er darf nicht von mir erfahren, noch nicht. Ilumene wird ihm das Heer der Herzogin anbieten.«

»Wollt Ihr die Farlan auslöschen?«

»Nein, ich will nur, dass beide Seiten bluten. Sag den Narren, sie sollen sicherstellen, dass Lord Isak entkommt. Dieser Krieg darf keine Entscheidung erleben, aber nach der Schlacht musst du einen Weg finden, Kohrad Styrax zu töten.«

»So soll es geschehen.«

Die Verbindung wurde getrennt, und Ruhen trat vom Fenster weg und wandte sich seiner Adoptivmutter zu. Sie streckte erneut die Arme aus, und er stapfte zu ihr, erlaubte ihr, ihn zu umarmen. Einige Küsse, ihre Finger in seinem weichen, braunen Haar – und schon war Natai Escral, die Herzogin von Byora, beruhigt.

»Ach, du spielst schon wieder mit dem Buch«, säuselte sie. »Ein beinahe ebenso großes Rätsel wie mein wunderschöner kleiner Junge sein. Und was hast du durchs Fenster gesehen, lieber Ruhen?«

»Soldaten, Mutter«, antwortete Ruhen mit unschuldiger Stimme.

Bei diesen Worten lächelte sie strahlend, sah dann zu Haipar hinüber, aber die Stammesfrau aus der Brache schien nicht bemerkt zu haben, dass sie ihre Stellung verloren hatte.

Haipar wäre es sogar egal gewesen, wenn sie es überhaupt bemerkt hätte. Sie nahm kaum noch jemanden wahr, denn sie war in ihre eigene Krankheit und ihr Leid versunken, hockte beständig zuckend und starrend in einer Ecke. Wenn ihr Ruhens Anwesenheit auffiel, sah sie immer aus wie eine Maus aus, die von einer Katze erschreckt wurde.

»Ja, mein Liebling, die Stadt ist voller Soldaten, aber sie stehen alle im Befehl. Keiner von ihnen darf dir wehtun.«

»Nicht hier, dort draußen.« Er wies zum Horizont und nun spannte sich die Herzogin an. »Reiter«, fügte er zur Sicherheit hinzu.

Sie trug ihn zum Fenster, konnte außer der Stadt aber nichts sehen. Ruhen zeigte nach Norden, aber sie entdeckte nur Nebel und Rauch. »Sie machen mir Angst«, fügte er zum Spaß hinzu.

Sie legte ihm schützend den Arm um die Schulter. »Niemand wird dir jemals wehtun«, sagte sie, dann wandte sie sich an Ilumene. »Sergeant, schickt einen Diener zum Turm des Vier. Sagt Magier Peness, dass er nach Nordwesten spähen soll.«

Ilumene verzog das Gesicht und kämpfte sich auf die Beine.

Die Herzogin lächelte auf Ruhen hinab. »Vielleicht ist unser Prinz noch viel außergewöhnlicher, als wir dachten?«

Mit dem Rücken zur Herzogin wandte sich Ruhen dem Fenster zu, damit sie die tanzenden Schatten in seinen Augen nicht sah. Weit unter ihm versammelte sich eine Menschenmenge – größtenteils Bettler und Vagabunden. Sie hatten schon einige Stunden vor dem Tor gelagert, hatten sich kurz in Sicherheit gebracht, solange Kiyer, die Göttin der Sturzflut, die Straßen reingewaschen hatte, nur um dann wieder hervorzukriechen, als das Wasser verschwunden war. Immer mehr gesellten sich hinzu und lungerten im Schatten des Rubinturms herum.

Es sprach sich herum, auch dank Luerce und seiner kleinen Truppe aus Schülern. Die leeren Tempel und Kämpfe auf den Straßen sorgten dafür, dass viele nach etwas suchten – nach irgendetwas, an das sie glauben konnten. Nur die Verzweifeltesten warteten vor dem Tor des Turmbereichs und hofften darauf, Ruhen zu erspähen. Aber es war immerhin ein Anfang. Ruhens Geduld war unendlich, und sobald es sich über die Runde Stadt hinaus herumgesprochen hatte, würde es auch auf die Ohren der Verlorenen treffen, die die neuen Geschichten der Harlekine gehört hatten.

»Können wir in das Tal zurückgehen?«, fragte Ruhen.

»Willst du die geflügelten Männer noch einmal sehen?«

Sein ernstes Nicken rief ein weiters Lächeln hervor. »Nun gut, dann gehen wir noch einmal hin. Lord Styrax wird froh sein, uns wiederzusehen. Er will ja, dass wir alle Freunde sind. Würde dir das gefallen?«

Ruhen dachte darüber nach. »Freunde sind gut.«

»Das sind sie, mein Liebling.«

Die Herzogin drückte ihn fest, und da hörte er den schnellen Schlag ihres Herzens, der seinem so gar nicht ähnlich war.

Er nahm ihre Hand und sah ihr direkt in die Augen. Für einen Moment erstarrte sie, in die Schatten verloren, dann verging auch dieser Augenblick.

»Es wäre vielleicht das Beste, ein Bündnis mit den Menin einzugehen, aber lass uns warten, was der Magier Peness dazu berichten kann. Freundschaft zu suchen, das hat immer noch einen Tag Zeit und ohnehin ist vorzuziehen, dass man ein Geschenk mitbringt.«

 

An diesem Abend speisten Doranei und Sebe in einer kleinen Schenke in den Außenbezirken von Bierbruch, in der Nähe des Beristole. Lell Derager, der auch weiterhin ihr Gastgeber war, hatte es als gute Quelle für den neuesten Tratsch benannt.

Rad und Brand wurden zunehmend gefährlicher, hatte die Wirtin rasch berichtet. Sie war nicht näher darauf eingegangen, von wem die Gefahr ausging – und die beiden Männer aus Narkang hatten so etwas schon zu oft gemacht, um sich zu wissbegierig zu geben. Sie ließen sich Zeit mit ihren Schüsseln, voll von fettigem Hammeleintopf, und lauschten auf das Geplapper.

»… hab gehört, dass sie ganz Hale an die Menin verkaufen will …«

»… die Geweihten haben bekommen, was sie verdienen, nur ein Haufen Priester mit Schwert …«

»… verrückt genug, dass sie tatsächlich Dämonen in den Kampf schicken könnten!«

»… hat den Fluch mit einer bloßen Berührung gebrochen, sage ich dir, wir haben es alle gespürt!«

Das erregte Doraneis Aufmerksamkeit, und so wandte er den Kopf. Der Raum war von leisen Gesprächen erfüllt, die sich überlagerten, aber der letzte Satz klang irgendwie anders. Es dauerte einen Moment, bis er einen Sinn darin erkannte, aber dann musste er sich einfach umdrehen und den Sprecher ansehen. Etwas an dem Tonfall erinnerte ihn an Parim, den Volksverhetzer, den König Emin in die Bruderschaft gezwungen hatte. Es war diese eindringliche Aufrichtigkeit, mit der Parim seine Zuhörer so erfolgreich davon überzeugte, ihm Geschenke zu machen.

»Ich geh mal pissen«, murmelte er Sebe zu, stellte seinen Becher ab und klopfte mit einem von Gewürzen gelben Finger zweimal auf die Theke. Als er vom Hocker glitt, blieb er absichtlich an Sebes Arm hängen, damit dieser sich unauffällig ein Stück drehen konnte, um zu sehen, wer Doraneis Abgang zur Kenntnis nahm. Als er sich wieder seinem Essen zuwandte, war er sicher, dass sie keine unliebsame Aufmerksamkeit erregten. Es gab nur das übliche Heben der Augenbrauen, wenn sich ein großer Mann mit einer Waffe näherte, dann aber vorbeiging. Niemand folgte ihm, niemand unterbrach sein Gespräch, also leerte Sebe munter seinen Becher und winkte nach einem weiteren.

Als Doranei zurückkehrte, schlug er Sebe auf die Schulter, dankte ihm dafür, dass er hatte nachfüllen lassen und flüsterte, während er sich setzte: »Hintere Ecke, in Weiß.«

Sebe wischte den Rest seines Lamms mit etwas grobem Brot auf. »Passt hier irgendwie nicht hin, oder? Das ist keine Priesterrobe, aber kein Händler würde Weiß tragen.«

Ein weiterer Gesprächsfetzen trieb durch den Raum: »… das ist mir bei keinem Gott passiert, aber wenn du ihm in die Augen siehst, verändert es dich. So edel wie ein Prinz, und doch nur ein Kind …«

Doranei lehnte sich zu Sebe hinüber. Sein Freund stank nach feuchter Wolle und Schweiß, aber Doranei vermutete, dass er selbst auch nicht besser roch. »Klingt nicht, als spräche er von einem unserer Freunde«, murmelte. »Was denkst du?«

Sebe zuckte die Achseln. »So wie er gekleidet ist, würde ich vermuten, dass er kein unschuldiger Zuschauer sein kann. Ich glaube auch nicht, dass wir aus dem viel rausholen.«

»Das ist nicht der erste dieser Art, den ich hier gesehen habe«, stimmte Doranei zu. »Sieht aus, als sei dies der nächste Schritt. Sie suchen sich neue Leute, die ihre Botschaft verbreiten. Es heißt, dass sich Bettler vor den Toren des Rubinturms versammeln, dass Gebete an die Götter aufgeschrieben und an die Wand geheftet werden. Das verzweifelte Volk hat sich von den Kulten abgewandt, und jetzt sucht es nach etwas anderem, an das sie glauben können … und die Botschaft des Schatten ist bereitet und erwartet sie.«

Sebe sah Doranei ebenso an wie dieser ihn. »Dann bist du dran.«

Doranei seufzte. »Stimmt, und das wird auch nicht der Letzte sein«, sagte er grimmig. »Wollen wir hoffen, dass wir etwas Hilfreiches von ihm erfahren.«

Sie tranken ihre Becher leer und verließen die Schenke, um sich dann eine dunkle Straßenecke zu suchen, an der sie ungestört eine Stunde warteten, bis der Mann in Weiß aus der Taverne kam und durch die Nacht davonging.

 

Als ihn General Lahk um Erlaubnis bat, am folgenden Tag einen Zwischenhalt einzulegen, hatte Isak bereits in seiner Erinnerung nach einem abgeschiedenen Ort gekramt, an dem er sein unappetitliches Vorhaben durchführen konnte. Er kannte die Strecke gut. Hinter den Zwillingen wand sich die Straße durch Hügel und weite Ebenen von Grasland, in denen er früher plattfüßige Gänse gejagt und Fallen für Hasen ausgelegt hatte. Der Großteil des Jagdwildes würde von der herannahenden Armee vertrieben werden, aber die Landschaft hatte sich seit den Tagen, in denen er sie mit dem Wagenzug bereist hatte, nicht verändert.

Als der Befehl erging, blieb Isak im Sattel und sah zu, wie die Soldaten um ihn herum auf Lahks Wort hin in Bewegung kamen. Er zog die blaue Seidenmaske vom Kopf und erlaubte dem eisigen Wind, mit kalten Fingern über seinen geschorenen Schädel zu streichen, während er in den nahenden Abend starrte. Zahlreiche Männer belagerten auf der Suche nach Zelten, Essen und Feuerholz die Vorratswagen. Der Anblick erinnerte Isak an eine Armee von Ameisen, die eine Gottesanbeterin töteten.

Isak hatte verwundert zur Kenntnis genommen, wie viel Gepäck die Armee begleitete. Alles in allem waren sie mehr als fünfzehntausend Mann, und der Versorgungsgeneral, ein komischer kleiner Mann mit kurzen Armen und Beinen, der auf den Namen Pelay Kervar hörte, befehligte noch weitere tausend. Damit unterstanden ihm ebenso viele wie den Obersten, die er täglich beschimpfte. Wenn die Farlan in den Krieg zogen, stand Kervar über den Obersten und Lordprotektoren, und seine Leibwache konnte sich beinahe mit der von Isak selbst messen.

Er stieg ab und kümmerte sich eine Weile um Toramin, sein Streitross, bevor er es einem Stallburschen übergab. Er versorgte sein Pferd noch immer selbst, bevor er das Lager aufschlug, aber er wusste, dass er sich diesmal aus einem anderen Grund damit beschäftigte. Er musste an jedem Abend ein Versprechen einlösen, das dafür sorgte, dass er sich schmutzig fühlte und, schlimmer noch, eines, das sich bisher noch nicht als so notwendig erwies, wie er gehofft hatte. Kommandant Jachen stand in seiner Nähe herum, einen Leinensack mit einigen Scheiten Schwarzholz auf dem Arm, die er offensichtlich nicht berühren wollte.

»Immer noch kein Zeichen von weiteren Truppen aus Lomin?«, fragte er Herzog Vesna, obwohl er wusste, dass man ihm Bericht erstatten würde, sobald sie in Sicht kamen.

»Nein, keine. Wie es scheint, waren Lordprotektor Suils Hoffnungen etwas hochgeschraubt. Die Adligen der Oststämme werden jede Entschuldigung genutzt haben, um zu Hause zu bleiben und die Eiferer abziehen zu sehen.«

In ihrer Rüstung stellten sie ein beeindruckendes Paar dar. Isak in Siulents, ganz in Silber, und Vesna in Schwarz mit dem brüllenden Löwen als Wappen in Gold. Sogar Soldaten, die an ihre Anwesenheit gewöhnt waren, warfen ihnen bewundernde Blicke zu. Die in Siulents eingebettete Magie forderte Aufmerksamkeit ein und im schwindenden Licht verstärkte sich diese Wirkung noch. Vesna hingegen ließ sein Ruf als Held in den Ohren der erschöpften Soldaten ebenso bemerkenswert erscheinen.

Isak musste seinem Freund zustimmen. Der Herzog von Lomin war Isaks Ruf zu den Waffen nicht gefolgt, denn er glaubte dessen Versprechen nicht, dass der Osten dennoch sicher sein würde. Mehr war nicht nötig, damit sich die Lordprotektoren des Ostens herausreden konnten, um nicht an einem Kreuzzug teilzunehmen, der für sie nicht von Belang war.

»Mit ihnen hätten wir die nötige Übermacht erreichen können. Das darf nicht ungestraft bleiben«, sagte Isak, doch die Worte klangen hohl.

»Den Berichten der Hellseher zufolge haben wir trotzdem genug Männer«, versicherte ihm Vesna. »Lord Styrax hat nur ein kleines Heer mit sich gebracht. Vier Legionen Infanterie, drei Kavallerie. Wie es scheint, ist er in der Lage, Städte auch ohne großes Aufgebot zu erobern. Er hat nicht genug Zeit gehabt, um sich auf uns vorzubereiten. Ich bezweifle sogar, dass er überhaupt in unsere Richtung schaut.«

Isak warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

»Nein, vermutlich ist es nicht so einfach.« Vesna trat eilig den Rückzug an. »Aber erinnere dich: Sein Problem sind Raland und Embere. Er kann unmöglich mit einem Erstschlag aus dem Norden rechnen.«

»Also bleiben wir bei unserem Plan?«

»Sicher. Den Hellsehern zufolge befinden sich seine Truppen vor Akell, aber ich bin sicher, dass er sich in den Süden der Runden Stadt zurückziehen wird, also achtet er nicht auf seinen Rücken.«

Vesna zog eine zusammengerollte Karte aus der Satteltasche und spannte sie im Gehen auf, damit Isak daraufschauen konnte. Sie hielten auf eine Erhebung zu, die aus wenig mehr als ein paar Felsen bestand, die von den Wurzeln einer uralten Eiche zusammengehalten wurden. Aber sie bot immerhin etwas Schutz vor den neugierigen Augen der Soldaten.

»Die Runde Stadt ist größtenteils von Weideland umgeben, und das ist zu unserem Vorteil. Eine südliche Stellung bietet gute Fluchtwege und behindert den Angreifer etwas. Sie müssen durch die Engstelle zwischen der Stadt und dem Moor kommen, was bedeutet, dass der Weg des Feindes vorhersehbar ist und man hier einige Überraschungen für sie vorbereiten kann. Man kann Bogenschützen und leichte Kavallerie für einen verteidigten Rückzug aufstellen und sie dadurch zur Verfolgung locken – und beim Rückzug dann die Brücken über die Flüsse vernichten. Und man stellt auf allen Seiten Magier auf, um den Angreifer weiter zu zermürben.

»Ist das nicht ein bisschen zu offensichtlich?«

»Ja – aber wir sind doch auch diejenigen, die auf eine Schlacht aus sind. Chalat braucht den Platz, damit seine Truppen beweglich bleiben und wir unsere Überzahl nutzen können – und wenn wir erstmal die beiden Flüsse hinter uns gelassen haben, dann haben wir mehr als genug Raum. Er ist über die Maßen von der Moral seiner Truppen überzeugt. Der Feind weiß genau, womit er sich anlegt. Man kann Hellseher nur schwer von einer marschierenden Armee ablenken.

Isak verzog das Gesicht. »Je mehr ich davon höre, umso schlimmer klingt es. Sprich mit General Lahk, bring mir Alternativen.« Sie erreichten die Erhebung kurz nach Kommandant Jachen.

»Als würde man sich zum Pissen hinter einem Baum verstecken  – nur auf religiöser Ebene.« Isak seufzte.

Jachen zog ein viereckiges Holzbrett aus dem Sack und steckte die hölzernen Halter hinein. Auf das Brett war eine Ikone der Königin des Verfalls gemalt. Sie war mit allen Ehren vom Tempel des Todes entliehen worden, eine kleine eiserne Weihrauchschale hing daran. Es war kein Geheimnis, dass Isak jeden Abend zur Königin betete, aber hätte er es öffentlich getan, so hätten sich die anderen verpflichtet gefühlt, es ihm gleichzutun.

»Besser als nichts, mein Lord«, sagte Vesna, als Jachen den Feldschrein abstellte und sich zurückzog. »Wenigstens ist klar, dass du nicht von den Männern des Heeres verlangst, zu ihr zu beten. Die Nachricht, die mir Lesarls Mann in meinen Schlafsack gesteckt hat, war in diesem Punkt vollkommen eindeutig.«

Isak rümpfte bei diesem Gedanken die Nase. »Sie wird die einzige unter den Göttern sein, die mächtiger wird. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie diese Macht nutzen mag.« Er winkte zum Schrein hinüber und beinahe sofort stieg ein schmutziggrauer Rauch davon auf.

»Äh, mein Lord?«, fragte Vesna, als sich Isak vor den Schrein kniete. Er hob einen abgebrochenen Ast auf und hielt ihn Isak hin. »Wenn du etwas Heißes bereit haben willst, wenn du fertig bist …«

»Ich bin kein Affe, der Kunststücke vorführt, weißt du?«, grollte Isak. Dennoch streckte er die Hand aus und ließ kurz Stränge grünen Lichts über seiner Handfläche erscheinen, die sich in armlange Flammen verwandelten.

»Auf diese Weise würde ich nie mit dir Geld verdienen«, sagte Vesna lächelnd.

Isak grunzte nur. Er verstand zwar den Scherz, der reichte allerdings nicht aus, um seine Stimmung zu heben.

Der Ast fing schnell Feuer und Vesna wandte sich wieder dem Lager zu. Während er losging, folgten ihm der bittere Geruch des Weihrauchs und Isaks murmelnde Stimme. Als ein auf dem Wind reitendes, fern gurrendes Frauenlachen erklang und ein toter Finger über sein Rückgrat glitt, ging er schneller.

Nicht zum ersten Mal presste Vesna die Finger auf seinen linken Unterarm und fuhr über das flache Silberkästchen, in dem Karkarns Träne ruhte. Diese Handlung erinnerte ihn an den Tod seines Vaters, von dem er die beiden als Rangzeichen dienenden Goldohrringe geerbt hatte. Er hatte fortwährend überprüft, ob die Erbstücke auch sicher saßen – und diese Erinnerung ließ sein Herz erneut schmerzen. Er war sechs Monate Graf gewesen, bevor er sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte, und erst da war das Schuldgefühl, sie geerbt zu haben, langsam abgeebbt.

Wann wären Sterbliche, die sich mit den Göttern einließen, je unbeschadet davongekommen?, fragte er sich zum hundertsten Mal und warf einen Blick zu Isak zurück. Und doch trage ich Karkarns Träne nah bei mir und habe sein Angebot noch nicht abgelehnt.