15

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Grisat besah sich die anderen Männer im Raum, die nervös auf ihren Plätzen hin- und herrutschten. Sie waren genauso ängstlich wie er selbst. Sie hatten die Pönitentenroben abgelegt und trugen herkömmliche Kleidung. Die Kettenhemden, Jacken und Waffen hatten sie zu Bündeln geschnürt, damit sie nicht wie Söldner und erst recht nicht wie Soldaten aussahen, die vom Ushullkult angeheuert worden waren. Grisat hatte noch nichts von einem möglichen Nachspiel gehört, aber er wusste, dass es eines geben würde – und er hatte nicht vor, hierzubleiben und darauf zu warten.

Er hatte die Lage mit Bolla besprochen, der seiner Meinung gewesen war. Alle führenden Priester waren im Rubinturm gestorben und niemand mit Einfluss war mehr übrig. Es wurde Zeit, den Sold einzustreichen und zu verschwinden. Einige würden bleiben, aber alle, mit denen er gesprochen hatte, weil er ihnen vertrauen konnte, sahen es genauso wie er. Sie hatten nur darauf gewartet, dass ihnen jemand einen Schubs in die richtige Richtung gab.

Grisat verscheuchte eine Motte, was die Hälfte der Männer zusammenschrecken ließ. »Pisse und Dämonen«, knurrte er. »Ihr zuckt wie furchtsame Hasen.« Er verriet ihnen nicht, dass er über ihre Reaktion so sehr erschrocken war, dass ihm sein Herz bis zum Hals schlug. Zum Glück waren sie so mit sich selbst beschäftigt, dass sie es nicht bemerkten.

»Wir sind eben nervös, Mann, das is’ alles. Was fuchtelst du auch so rum?«, blaffte Astin, ein großer Litse mit einer Messernarbe über der Nase.

Grisat beachtete ihn nicht. Verdammte Litse, können einfach ihr Schandmaul nicht halten. Zu dumm, dass er nützlicher ist als der Rest. Ein Litse wird nicht lange Befehle von mir annehmen.

Er leerte den Bierkrug, den er in der Hand hielt, rülpste und stand auf. »Gut, ich geh pissen. Versucht euch nicht einzuscheißen, solang ich weg bin.«

Im Vorbeigehen klopfte er Bolla auf den Rücken. Ohne Lederjacke spürte er dabei jeden Knochen. Der dünne Söldner nickte und schob den Batzen Taubwurz in die andere Wange.

Grisat trat auf den dunklen Flur und sah sich um. Es war niemand dort, was nicht verwunderlich schien, denn die Gruppe hatte die ganze Dachkammer der Schenke eingenommen. Aus einer kindischen Laune heraus schlug er auf dem Weg zur Treppe mit der Faust gegen die Wand, was mit einem Aufschrei im Innern belohnt wurde, und stieg zum Hinterhof hinab, wo sich die stinkende Latrine befand.

Draußen war es bereits dunkel und kalt. Tagsüber war es ihm nicht so erschienen, als wenn die Sonne viel ausgerichtet hätte, bis es dann zur Nacht kälter wurde. Grisat schüttelte sich, blies in die Hände und klatschte dann, um sie warm zu halten. Er betrat die stockdüstere Latrine und schob den Fuß vorsichtig vor, bis er gegen den Abfluss stieß.

Er knöpfte die Hose auf und seufzte erleichtert, als der heiße Strom ungesehen auf den Boden um den Abfluss plätscherte. Dann spürte er das Stechen einer Messerspitze im Nacken.

Grisat erstarrte und beinahe sofort verebbte auch der Urinstrom. Er hatte niemanden gehört oder gesehen, folglich musste jemand hier drin auf ihn gewartet haben. Es war also ganz sicher keiner seiner Leute.

»Freust du dich nicht, dass ich gewartet habe?«, fragte eine dunkle Stimme neben seinem Ohr. Den Akzent hatte er noch nie gehört. Er klang übertrieben deutlich, wie bei einem Fremden, der zugleich ein Adliger sein mochte. »Wenn ich mein Messer bereits angelegt hätte, bevor du angefangen hast, wäre das Gegenteil passiert.«

Grisat brachte nur ein Gurgeln als Antwort hervor. Der Fremde war sehr geübt mit einer Waffe. Der Dolch hatte sich kein Stück bewegt, während der Mann mit ihm sprach. Finger umfassten eine seiner Locken, und er beschloss, sich nicht zu bewegen. Er hatte zu viel getrunken, um schnell genug an seinen eigenen Dolch zu kommen. Und der Fremde schien es nicht besonders eilig damit zu haben, ihn umzubringen. Die Dolchspitze verschwand für einen Moment aus seinem Nacken – vermutlich, damit der Fremde sein Haar abschneiden konnte – und fand dann den Weg zurück. Grisat blieb die ganze Zeit über reglos stehen.

»Wenigstens bist du schlau genug, keine Dummheit zu versuchen«, sagte die Stimme im Plauderton. »Wer will sein Leben schon kopfüber in einer Latrine aushauchen?«

Grisat grunzte. Der Dolch hatte ihn bereits geritzt, und so widerstand er dem Drang zu nicken.

»Wenn deine Augen geschlossen sind, dann mach sie jetzt auf, aber dreh dich nicht um.«

Grisat blinzelte. Zuerst sah er nur Dunkelheit, doch dann begann ein grünes Glühen, das genug Licht spendete, damit er den Abfluss sehen konnte, der in der Mitte des Raumes verlief und die beiden dünnen Säulen, die das Ding hielten, das sich ein Dach nannte. Er blickte hinab – sein Schwanz war auf halbe Daumengröße zusammengeschrumpft. Trotz der kalten Nachtluft wurde ihm heiß vor Scham, während er auf die nächsten Anweisungen wartete.

»Siehst du das Licht? Das sollte dir verraten, dass ich ein Magier bin, woraus du wiederum schließen kannst, dass ich deine Locke nicht als Andenken behalte.«

Grisat versteifte sich, während der Dolch ein wenig tiefer in seine Haut schnitt.

»Ich sehe, du verstehst, gut. Also, ich weiß, wer du bist und wer dein Auftraggeber ist. Ich möchte, dass du in den Tempel zurückkehrst und den guten Pönitenten spielst.«

»Man hat dich auf uns angesetzt?«, krächzte Grisat ungläubig.

»Nicht ganz, aber ich will dennoch, dass ihr zurückkehrt. Die Kleriker wurden geschlagen, doch in den Kulten steckt trotzdem noch Leben, und du wirst derjenige sein, der den Aufruhr in der Stadt organisieren wird – unter meiner Weisung natürlich. Ich möchte, dass es in Byora einen geheimen Krieg gibt, einen Untergrundwiderstand gegen die unausweichlichen Maßnahmen, die Natai Escral gegen die Kulte ergreifen wird.«

»Vater Hiren hat das Sagen, und er hasst mich«, sagte Grisat. »Ich weiß nicht, ob er uns überhaupt zurücknimmt.«

»Wenn nicht, dann geht zum Tempel des Karkarn. Ihr werdet überzeugend sein müssen, aber wenigstens sind die Krieger-Priester zu mehr gut, als bloß für politische Rückendeckung.«

»Warum ich?«

Er hörte ein leises Lachen. »Ein Affe ist so gut wie der andere. Ich habe den ausgewählt, der im höchsten Bogen pisst.« Der Dolch drang etwas tiefer ein, und Grisat keuchte auf. »Ich überwache deine Fortschritte. Du hast eine Woche Zeit, oder ich zeige dir, wie fähig ich als Magier bin. Du wirst merken, dass man mit ein bisschen Haar viel erreichen kann.«

Plötzlich verschwand der Druck in seinem Nacken – und das schwache, grüne Licht verlosch. Grisat lauschte auf das drängende Pochen in seiner Brust und zählte bis zehn, bevor er sich umdrehte. Er war nicht gerade überrascht, dass die Latrine leer stand und der Hof davor so still wie ein Grab dalag.

»Scheiße«, murmelte er, trat einen Schritt von den Schatten zurück und in den Abfluss hinein.

 

»Du öffnest zur Abenddämmerung? Übst du für etwas?«

Die Frau mit den breiten Hüften keuchte erschrocken auf und drehte sich herum, wobei die grüne Seide ihres Kleides raschelte. Kajal betonte ihre blassblauen Augen, und das blonde Haar türmte sich auf dem Kopf. Sie stand in der Mitte des Raumes, der zu spärlich beleuchtet war, als dass einem der miserable Zustand der Diwane aufgefallen wäre. Zwei jugendliche Huren standen neben ihr.

Eines der Mädchen schrie vor Schreck kurz auf, als die Schatten zwei weitere Gestalten im Raum preisgaben. Auf einen Blick Harys flohen die Huren hinter den schweren Vorhang, der als Tür diente, und Zhia erhaschte noch einen Blick auf den Flur, der deutlich weniger prunkvoll und bunt war als dieser Raum. Sie verstand, warum es hier, wo die Gäste des Hauses sich mit einem Getränk in der Hand niederlegten, um den Sängern zu lauschen, die Harys beschäftigte, so düster war. Solange sie ihre Kleidung noch anhatten, blieb ihnen Zeit, ihre Umgebung zu betrachten.

»Edle Dame, ich bitte um Entschuldigung, Ihr habt mich erschreckt. Ich wusste nicht einmal, dass Ihr in der Stadt seid«, stammelte Harys, während sie tief knickste und zu den Neuankömmlingen aufsah, als blinzele sie in die Sonne. »Mein Herr.«

»Wir wollten unsere Anwesenheit in der Stadt nicht bekanntmachen«, antwortete Zhia. Sie fügte aber nicht hinzu, dass sie Harys Unterhaltungen bereits seit einer Stunde gelauscht hatten und so nicht nur die Geschäfte des Bordells abschätzen, sondern auch sicherstellen konnten, dass die Frau ihnen treu ergeben war.

»Soll ich Wein in das obere Zimmer bringen lassen?«, fragte Harys.

»Und Essen.«

Harys zögerte, dann sagte sie: »Ich habe ein neues Mädchen …«

»Ach, sei doch keine Närrin, Frau«, zischte Zhia ungeduldig. »Richtiges Essen. Eine Mahlzeit, die zu dem Wein passt. Ich habe vor, beim Abendessen ein Gespräch zu führen. Und jetzt steh auf und kümmere dich bitte darum.«

»Natürlich, edle Dame«, sagte Harys eilig und zog sich zur Tür zurück. Sie blieb stehen und sah sich noch einmal um. »Mhh, edle Dame … soll ich auch Diril schicken?«

»Diril Halbmast? Ihr Götter, nein. Sie wird mir den Appetit verderben. Schickt sie eine halbe Stunde nach dem Essen nach oben.«

Harys knickste erneut und verschwand.

»Edle Dame?«, fragte Koezh leise aus dem Schatten heraus. »Ist sie etwa eine Gefolgsfrau des Weißen Zirkels?«

»Nein, sie ist mir nur ergeben«, versicherte ihm Zhia.

»Und Diril Halbmast?«

Zhia erschauderte leicht. »Eine weitere meiner Handlangerinnen und zugleich die erfolgloseste Hure der Welt. Bitte erinnere mich nicht an sie, während wir essen.«

Koezh lachte leise und bedeutete Zhia vorzugehen. »Ist es nicht die Pflicht älterer Brüder, ihre Schwestern zu ärgern?«

Zhia antwortete nicht, während sie in das große Foyer voranging. Koezh bemerkte, dass sie am Saum ihres Umhanges zupfte, tat es ihr nach und sprach dabei den Zauber, der Blicke abhielt. Auf einer Seite stand ein verzierter Tresen und in der Mitte des Raumes befanden sich mehrere Männer, vorrangig Kleriker und junge Händler, die an kleinen Tischen saßen und tranken. Hier fand man keine Frauen, denn dies war eher eine Schenke als der Warteraum eines Bordells.

Eine Treppe zur Linken führte offensichtlich zu den Schlafzimmern. Ein großer, kahler, in dunkle Seide gekleideter Mann saß am Tisch daneben, so dass er den ganzen Raum überblicken konnte. Er war dick, aber doch nicht so fett, dass er langsam erschien oder man hätte denken können, er wäre auf den Knüppel angewiesen, der an seinem Stuhl lehnte. Das breite Grinsen auf dem runden, rosigen Gesicht erinnerte Koezh an jene Fratze, die man häufig in Kürbisse schnitt.

Zhia führte ihn durch eine abgesetzte Tür neben dem Tresen zu einer kleineren Treppe. Sie erstiegen zwei Absätze, bis sie einen niedrigen Raum unter dem Dach des Hauses erreichten, wo Hary eifrig dabei war, die großen Fenster zu verschließen, die sich auf drei Seiten in den Wänden befanden.

»Das Licht tut mir leid«, sagte sie, als sie eintraten. »Ich esse normalerweise hier oben, um dem Sonnenuntergang zuzusehen.«

»Es stört uns nicht«, sagte Zhia und fügte lächelnd hinzu: »Genieß den Sonnenuntergang, solange du es noch kannst.«

Deutliche Genugtuung zeigte sich auf Harys Gesicht. Ah, eine von denen, dachte Koezh. »Du hast es stets genossen, angebetet zu werden«, sagte er in ihrer Sprache zu seiner Schwester.

Unsicherheit erschien in Harys Zügen, aber sie verschwand, während Zhia auf eine Weise reagierte, als habe er ihr einen Witz erzählt.

»Koezh, du bist stets zu ungeduldig mit den Leuten, das warst du schon als Junge. Nur weil ich kein Verständnis dafür habe, dass sie unseren Fluch ebenfalls erleiden will, heißt das noch nicht, dass sie nicht doch nützlich sein kann.«

»Und was nützt es, Puffmütter im Griff zu haben?«

»Sie ist ein hervorragender Kontakt und die beste Informationsquelle in dieser Stadt«, sagte Zhia, legte ihren Umhang ab und ließ sich mit übertriebener Eleganz auf einen Stuhl sinken. Darunter trug sie die gleiche einfache Reisekleidung wie ihr Bruder, wobei ein langer Rock ihre Kniehosen bedeckte, um die herrschenden Sitten einzuhalten. »Die Litse lieben ihre Huren«, setzte sie hinzu. »Und du weißt, wie indiskret sie sein können.«

Er setzte sich zu ihr an den schmalen Tisch aus Mahagoni, der so dunkel schien, dass es beinahe schon wie schwarz wirkte.

»Wie nannte dich Valije Nostil noch, als sie erfuhr, dass du Aryn Bwrs Geliebte warst? Hure der Dämmerung. Auch du warst nicht immer allzu diskret.«

Zhias Züge versteinerten. »Ich erinnere mich daran, wie mein Bruder darüber lachte, dass er eine Königin mit dem zweiten Gesicht betrog. Ich glaubte ihr Lachen aus dem Jenseits zu hören, als die Götter uns straften.« Sie schnaubte und machte eine wegwerfende Geste. »Hure der Dämmerung, ganz recht.«

Sie wandte sich Harys zu und bedeutete ihr, sich zu ihnen zu setzen. »Sag mir, was geht in der Stadt vor? Was hat sich seit unserem letzten Besuch geändert?«

Harys nickte und sagte: »Wo soll ich anfangen, edle Dame? Mit dem Sturz des Weißen Zirkels?«

Zhia nickte. »Fass dich kurz.«

»Die Leute nennen es den gesitteten Putsch, aber das lässt es schlimmer klingen, als es war«, sagte sie. »Als wir vom Fall Screes erfuhren, war klar, dass vom Weißen Zirkel nicht mehr viel übrig war. Die herrschenden Schwestern flohen nach Tor Salan, so sagt man. Der Rest nahm einfach den Schal ab und zog sich von den offiziellen Posten zurück. Einige Leute gerieten in Panik, als sie eine Abordnung der Ritter der Tempel an der Grenze wartend vorfanden, aber die Herzogin von Byora schritt ein.«

»Fiel es ihr schwer, die anderen zu überzeugen?«, unterbrach Koezh.

»Ich bezweifle, dass es leicht war, aber Sourl und Celao sind keine Narren. Sie wissen über die Lage im Süden genauso viel wie Natai Escral. Jeder hat vom Eroberungsfeldzug der Menin gehört – und wie heißt es so schön: Wo ein Krieg stattfindet, lassen seine Brüder nicht lange auf sich warten.«

»Das Sprichwort bezieht sich auf Pestilenz und Hungersnot«, berichtigte Zhia. »Aber du hast trotzdem die richtigen Schlüsse gezogen. Ein Bürgerkrieg ist das Letzte, was die Runde Stadt braucht. Sie bezieht ihre Macht aus dem Handel, und ich bin sicher, dass Tor Salan ehemalige Mitglieder des Chetse-Heers anheuern wird. Sobald das Mächteverhältnis erst einmal aus dem Gleichgewicht geraten ist, nimmt sich jeder, was er zu packen kriegt.«

»Tor Salan greift niemanden an«, meldete sich Harys zu Wort. »Die Menin haben ihre Verteidigungslinien am einem Tag überrannt, wie man vor einer Woche erfuhr.«

»Was?«, blaffte Zhia und ihre saphirgrünen Augen funkelten in der Dunkelheit. »Und das sagst du jetzt erst?«

»Und wieder hat jemand Lord Styrax unterschätzt«, sagte Koezh leise und rieb sich die Schulter, wo ihn der Menin-Lord tödlich getroffen hatte. »Wenigstens war ich einer der Ersten«, fügte er hinzu.

»Ich habe noch nicht herausgefunden, was genau passiert ist«, sagte Harys schnell. »Einige sagten, die Söldner der Stadt hätten ihm die Tore geöffnet. Andere behaupten, Lord Styrax sei allein zu den Händen des Riesen geritten und habe sie in einem Sturm umgerissen – wie Strohhalme.«

Zhia nickte ernst. »Das klingt wie eine Lektion für uns andere, egal, wie es wirklich war. Er erkannte ihre Stärke und griff sie an. Nur seine Fähigkeiten übertreffen die Überheblichkeit dieses Mannes noch.« Sie lehnte sich vor und sah Harys fest in die Augen. »Dies ist keine Fangfrage, auch wenn sie seltsam klingen wird, aber du wirst sie mir zuliebe beantworten.«

»Natürlich, edle Dame«, sagte die Puffmutter rasch und sank auf ihrem Stuhl zusammen. Sie wirkte entsetzt.

»Hast du in letzter Zeit, egal woher, Geschichten über ein Kind gehört?«

Koezh hörte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie antwortete: »Ein Kind? Ich denke nicht, dass …« Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck hielt sie inne. »Das Einzige, was mir da einfällt, ist das neue Mündel der Herzogin.«

»Sie ist dafür bekannt, Waisen aufzunehmen, oder?«, fragte Zhia, um Harys Mut zu machen.

»Ja. Ich befürchte allerdings, dass ich nicht sonderlich darauf geachtet habe, da es eher Inhalt der Gespräche junger Mägde und meiner Mädchen ist, und nicht der Männer, die herkommen. Das meiste ist eitles Geschwätz. Etwas darüber, dass sein Weinen einen Feigling dazu brachte, sich mit der gesamten Wache der Herzogin anzulegen – und dass die Götter selbst zwei Priester während des Aufstandes der Kleriker niedergestreckt haben, weil sie dem Kind wehtun wollten.«

Koezh sah seine Schwester an. »Du hattest Recht.«

»Es war ein naheliegender Gedanke«, sagte Zhia selbstzufrieden. »In Scree sahen wir den Schatten im Herzen der Ereignisse, der Chaos um sich säte. Was auch immer nun folgen mag, es wird am ehesten in der Runden Stadt oder Tor Salan stattfinden.«

Sie zuckte grazil mit den Schultern und strich sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. »Wir sind zuerst hierhergekommen, weil es näher lag, aber nicht, weil die Herzogin Findelkinder aufzunehmen pflegt.«

»Edle Dame, wollt Ihr damit sagen, dass sich hier wiederholen könnte, was in Scree geschah?«, fragte Harys mit wachsender Besorgnis.

»Das bezweifle ich«, antwortete Zhia leichthin. Sie klopfte mit den gepflegten Fingernägeln auf den Tisch, als trommle sie den Takt zu einer Musik, die nur sie hörte.

Koezh wartete. Seine Schwester stellte seine Geduld seit je gern auf die Probe. Mit ihren Neckereien konnte sie Leute leicht in die Verzweiflung treiben. Er hatte Mitleid mit den armen, dummen Jungs, wie Doranei, diesem Soldaten aus Narkang. Selbst wenn ihre Zuneigung zu ihm aufrichtig war, würde die Unsterbliche trotzdem ihre Spielchen mit ihm treiben.

Und auch Liebe kennt Grenzen, dachte Koezh, während er sich an Doraneis Gesicht erinnerte. Der junge Mann war ein herausragender Soldat. Das musste er auch sein, wenn er seinen Posten behalten wollte, aber seit Scree war er für Koezh nur noch ein verirrter Welpe, der hinter Zhia herlief. Ich glaube nicht, dass die Liebe dich schützen wird, mein Junge. Wenn dieser Schatten uns geben kann, was wir wollen, wird Zhia nicht zögern.

»Ein Betrüger führt das Publikum nicht zweimal mit dem gleichen Trick an der Nase herum«, sagte Zhia schließlich. »Das Spiel hier heißt Täuschung. Der Schatten ist vielleicht so schwach, dass ihn jeder von uns wie eine Fliege zerquetschen könnte.«

»Wenn der gleiche Trick benutzt würde, wüsste König Emin genau, wo er hinstechen müsste«, vollendete Koezh den Gedanken für sie. »Was soll dann der neue Trick sein? Das Kind?«

»Vermutlich – wir müssen nur herausfinden, welche Rolle es spielt. Unsere Hinweise auf das Rätsel stecken in dem, was sich das Volk erzählt. Der ermutigte Feigling, die niedergestreckten Priester.«

»Beides Geschichten, wie sie ein Harlekin erzählen würde«, betonte Koezh. »Aber ich bin sicher, dass dies keine schnelle Betrügerei ist, nicht nach dem, was wir im Norden erlebten. Dafür ist es zu unauffällig und zu langsam.«

Harys hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Mir ist noch etwas eingefallen. Eine der Dienerinnen sagte, sie habe einen Leprakranken am Tor des Rubinturms gesehen. Die Wachen haben ihn zuvor verscheucht, aber er kehrt jeden Tag zurück, nur um dann wieder vertrieben zu werden. Er redet fortwährend davon, dass er bei den Göttern um Fürsprache bitten will.«

Zhia hob eine Augenbraue. »Will er den Verlust des Glaubens beschleunigen? Er kann doch nicht wie in Scree alle gegen die Götter aufbringen, also bietet er eine Alternative …«

»Und dann?«, wandte Koezh ein. »Das Kind töten, um ihnen alles zu nehmen, was sie anbeten? Das wird nicht so bald geschehen und auch wenn die Götter manchmal lange brauchen, bis sie eingreifen, ihre Gefolgsleute werden eine solche Gefahr rasch bannen.«

»Das macht das Kind zu einem Märtyrer, und damit zu einem mächtigen Werkzeug, wenn es richtig eingesetzt wird.« Zhia klang selbst nicht überzeugt davon, aber nachdem Scree in Flammen aufgegangen war, hatte sie sich vorgenommen, dass niemand sie mehr überlisten solle.

»Durch ein Martyrium könnten die vier Viertel des Stadtstaates geeint werden, womit jedoch noch nichts erreicht wäre. Die Runde Stadt ist nichts weiter als ein wichtiges Handelszentrum. Es gibt hier keine Macht und es würde eines Jahrzehnts der Führung durch einen überlegenen Geist bedürfen, um das zu ändern. Du hättest mich überzeugt, wenn das Kind von König Emin oder Ritter-Kardinal Certinse an Kindes statt angenommen worden wäre, aber hier ist damit nichts zu gewinnen.«

Zhia nickte. »Wollen wir hoffen, dass wir Zeit genug haben, um alles Nötige herauszufinden, bevor wir uns für eine Seite entscheiden müssen. Kastan Styrax wird sich ganz sicher bald auf den Weg hierher machen.« Sie wandte sich wieder der Frau zu, wechselte in den hiesigen Dialekt und fragte: »Harys, wie kommt man in die Nähe der Herzogin?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Da kann ich Euch nicht helfen, edle Dame. Auf diese Kreise habe ich keinen Einfluss.«

»Wer dann?«

»Seit der Herzog getötet wurde, gibt es da nicht mehr viele. Die Herzogin hat Acht Türme seit einer Woche nicht mehr verlassen. Einige Kleriker fingen schon an, sich gegen die Maßnahmen zu wehren, die sie ergriffen hat, um sie unter Kontrolle zu bringen. Man erzählt sich, dass Krieger-Priester des Karkarn in den letzten zwei Wochen überall in der Stadt Patrouillen überfallen hätten, und ein hohes Mitglied des Rates, Garan Dast, wurde am Maultiertor von einem Mystiker des Karkarn ermordet. Und wo die Pönitenten scheitern, töten die Wachen gedankenlos und verhaften überall Leute. Damit machen sie sich keine Freunde. Es gab immer wieder Aufstände … und sie werden immer schlimmer.«

»Auf wen hört sie? Ist das noch immer dieser affektierte Leyen?«

»Nein, er starb bei dem Überfall am Gebetstag. Vielleicht die Dame Kinna?«

»Die Dame Kinna?«, wiederholte Zhia. »Der Name sagt mir nichts. Wie kommt man an sie heran?«

»Das weiß ich nicht, edle Dame. Ich weiß nichts über die Frau, nur dass sie im Rat der Herzogin den Ton angibt. Es heißt, sie dränge die anderen zu einem Befehl, den Tempel des Todes zu schließen.«

»Sie will die Tore des Todes verschließen?«, fragte Zhia mit einem anerkennenden Lachen. »Ich mag sie schon jetzt. Kannst du dafür sorgen, dass uns jemand aus ihrem Haushalt eine Locke ihres Haares verschafft?«

Harys dachte einen Augenblick nach, dann schmunzelte sie.

»Ja, das habe ich mir gedacht.«

»Warum schauen wir nicht vorbei und sehen uns das Kind selbst an?«, fragte Koezh.

»Kleine Schritte, lieber Bruder, immer kleine Schritte, wenn man sich herantastet. Wir wollen die kleine Milbe doch nicht verschrecken, oder?«, sagte Zhia und lächelte so breit, dass man die Zähne sah.