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Der Abend schlich sich leise heran. Mit der hereinbrechenden Nacht hatte der starke Schneefall aufgehört, und als nun der Himmel das dunkelste Blau annahm, war die Luft vollkommen klar und unbewegt. In allen Richtungen spürte Venn den stillen Wald um sich herum, nur sein eigenes Keuchen und seine Schritte störten die Ruhe. Der eisige Griff der kalten Nachtluft war unnachgiebig – also trieb er sich an, denn er wusste, dass er die Lichtung erreichen musste, bevor ihm die Kälte den Garaus machte. Zu viele Reisende unterschätzten die Entfernungen und unterlagen ihnen schließlich. Die Vukotic konnten ihren Saljinmann behalten – der Winter in dieser Gegend war selbst ein Dämon.
Endlich erreichte er die Lichtung und blieb wider besseren Wissens am Rand stehen, um stumpfsinnig vor sich hin zu starren. Es war schon Jahre her, dass er sie zum letzten Mal besucht hatte. Das Land selbst schien den Atem anzuhalten, als er auf die Erschütterungen wartete, die seine Rückkehr mitbringen mochte. Dann trat er doch auf die Lichtung, in seinem Schatten aber verbarg er den Untergang seines Volkes.
Er bewegte sich zögerlich, von der weiten, stillen Szenerie etwas eingeschüchtert. Wolkenfäden in zartem Rosa, die das letzte Licht des Tages einfingen, bildeten über ihm einen unwirklichen Hintergrund für diesen Ort, den er nie erwartet hatte wiederzusehen. Nur das Knirschen seiner Stiefel auf dem Schnee und das gelegentliche Knarren und Stöhnen der schneebeladenen Äste im Wald waren hinter ihm zu hören. Er zupfte an seinem Bärenfell herum, versuchte es enger um sich zu ziehen, aber das Gewicht seines Schattens erschwerte dies, und so gab er nach zwei Versuchen auf und ließ es am Hals offen stehen. Sein Ziel lag nun sichtbar vor ihm, und das war alles, was zählte.
Der Eingang zur Höhle lag nur einige hundert Schritt entfernt. Darauf wuchsen schneebedeckte, kleine Kiefern, die den Großteil der zerfallenen Berge bedeckten. Sie grenzte an eine leichte Anhöhe, die sich meilenweit erstreckte und eines der beiden schiefen Beine des Berges formte, den man den Alten Mann nannte. Nah der Spitze gab es den Schrein für einen vergessenen Gott, der zwar verfallen, aber trotzdem beeindruckend wirkte. Venn erinnerte sich daran, wie er ihn in jugendlicher Neugier einmal besucht hatte. Der Gott, wie er auch geheißen haben mochte, war gebeugt und alt gewesen, wie der kahle Fels, der als sein Andenken diente. Als der Tag der Abrechnung gekommen war, hatte er Ushull nichts entgegenzusetzen gehabt.
Venn blieb auf halbem Weg zum Eingang stehen und drehte sich zu dem weiten Feld aus Kiefern um, aus dem immer wieder gewaltige Finstereichen ragten, wie halb eingeschlagene Nägel. Aber bevor er sich der Liebe hingeben konnte, die er schon als Kind für diesen Anblick gehegt hatte, brach Dohles Keuchen den Bann. Venn schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Wenigstens an diesem Tag war ihm der Anblick von Dohles zuckenden Hautbildern und auch der seines ewig geringschätzigen Ausdrucks erspart geblieben, ebenso wie sein unablässiges Plappern. Und dafür war Venn dankbar. Seit sich der frühere Priester mit einem Zauber an Venns Schatten gebunden hatte, hatte er gelernt, seine Kraft nicht mit Beschwerden zu verschwenden.
Der Höhleneingang sah noch immer so aus wie an jenem Tag, an dem er sich die Schwerter stolz auf den Rücken geschnallt hatte und mit der weißen Maske, die den Mann darunter verbarg, ins Land hinausgegangen war. Frei stehende Messingkohlebecken zu beiden Seiten der verbreiterten Kluft warfen ein schwaches Licht in das dunkle Innere. Der Geruch von frischem Harz aus prasselnden Kiefernzapfen vermischte sich in der Abendluft mit dem von Weihrauch. Jedes Becken stand auf einem achteckigen Baumstumpf, der mannsdick war und so hoch aufragte, dass sich manche Priester auf die Zehenspitzen stellen mussten, um über den verbeulten Rand zu sehen.
Sie waren jahrhundertealt und hatten in dieser Zeit einiges erleiden müssen. Venn erinnerte sich daran, wie enttäuscht er gewesen war, als er die Wahrheit über die verblassten Zeichen auf den Schalen erfahren hatte. Er hatte sie für Beschwörungen in einer geheimen Sprache gehalten, dabei waren es nur Kratzer gewesen, die Auswirkungen des Wetters und Spuren, die der Zahn der Zeit oder achtlose Priester hinterlassen hatten, und Folgen von Stürmen, die sie auf den Steinboden geworfen hatten. Sein Vater hatte über seine Vorstellungskraft gegrummelt und die Stirn krausgezogen, wo andere nur gelacht hätten.
War das der erste Schritt auf diesem Weg?, fragte er sich. Diese erste Enttäuschung einer wunderbaren Vorstellung? War das der Tag, an dem ich in meinem Vater etwas anderes erkannte als einen über die Welt erhabenen Diener der Götter? Wo ich einst die Priesterrobe und die Halbmaske aus Obsidiansplittern gesehen habe, befand sich jetzt nur noch ein müder Mann mit lichtem Haar und einem durchdringend pfeifenden Atem, wenn er schlief.
»He! He, du!«
Venn blieb stehen. Er drehte sich nicht um, denn er wusste, dass der Sprecher in sein Blickfeld treten würde. Er stellte sich als ein Priester mit rundem Gesicht heraus, der Brennholz in den Armen trug. Venn hörte Dohle scharf einatmen. Er war unsichtbar und beinahe körperlos, zumindest so lange, wie er in Venns Windschatten stand. Und doch blieb Dohle ein Feigling.
Venn erkannte den Priester trotz des glatten, schwarzen Porzellans, das sein halbes Gesicht bedeckte. Er war etwa in seinem Alter und entstammte auch dem gleichen Clan, so dass sie in der Kindheit zwangsläufig so etwas wie Freunde gewesen waren. Corerr lautete sein Name, ein törichter, fetter kleiner Junge, der dann zu einem verwirrten jungen Priester herangewachsen war, dabei seinen Welpenspeck aber nie verloren hatte. Er wurde noch immer in den Wald geschickt, um Holz für die Feuer in der Höhle zu sammeln, obwohl es sicher jüngere Priester gab, die diese mühselige Arbeit erledigen könnten.
»Wer bist du? Was willst du hier?«, rief Corerr, während er zwischen Venn und den Höhleneingang trat. Im schwachen Licht der Becken am Eingang war bereits ein Gesicht aufgetaucht, mit faltigen Wangen und dünnem, strähnigem Haar. Corerr trat einen weiteren Schritt vor und spähte nervös in den Schatten von Venns schneebedeckter Kapuze. Im Zwielicht darunter würde er erkennen können, dass Venn keine Maske trug, aber eine einzelne blutrote Träne aus seinem rechten Auge rollte, so wie sie auch auf den Harlekin-Masken zu finden war.
Venn behielt den Höhleneingang im Auge, denn er wusste, dass Corerr zu mehr als Blicken der Mut fehlte. Schließlich erschien ein weiteres Gesicht, diesmal das einer Frau. Sie überragte die erste Gestalt beinahe um einen Kopf. Ihr Mund bewegte sich. Sie sprach leise mit ihrem Gefährten und behielt Venn dabei stets im Auge, der dies zum Anlass nahm, sich plötzlich wieder in Bewegung zu setzen, was Corerr einen erschrockenen Schrei entlockte und ihn beinahe hintenüberfallen ließ. Während sich Venn dem Eingang näherte, erinnerte er sich an die Frau, deren Augen wie polierter Rauchquarz aussahen. Sogar nach so langen Jahren noch gab sie sich wie eine Kriegerkönigin.
»Venn ab Teier? Gnädige Götter, bist du es wirklich?«, plapperte Corerr erschrocken los und rappelte sich auf, um neben ihm herzugehen. »Dein Gesicht, deine Kleidung … wo bist du gewesen? Was ist mit dir geschehen?«
Venn ging weiter und achtete darauf, die Worte des Mannes mit keiner Regung zu belohnen. Die anderen Priester hatten sich weder bewegt noch etwas gesagt. Der Mann war halb hinter einem Kohlebecken verborgen, als mache er sich bereit, dahinter in Deckung zu gehen. Die Priesterin stand mit vor der Brust gefalteten Händen da, folgte unwillkürlich den frommen Vorgaben, die sie Jahrzehnte zuvor erlernt hatte. Ihr Haar zeigte erste graue Strähnen und in ihren Augenwinkeln fanden sich Krähenfüße, trotzdem wirkte sie wie eine jüngere Frau, deren Herz von der Wildnis ringsum nicht gebrochen worden war.
Ihre Halbmaske war mit Obsidian-Splittern bedeckt, so wie die seines Vaters damals, mit dem bedeutenden Unterschied allerdings, dass bei ihrer die Tränenspuren aus Mondstein fehlten, die von hohem Rang zeugten. Er hielt den Atem an und sah ihr gezielt in das rechte Auge, wobei er den glasigen Blick für eine Weile fallen ließ. Er bemerkte ihre Reaktion, die allerdings so unauffällig ausfiel, dass sie vermutlich selbst nichts davon bemerkt hatte – nur jemand, der darauf achtete, würde das Flackern in den Augen erkannt haben. Aber für einen Anhänger Azears reichte es aus.
Ehrgeiz an einem solchen Ort … du musst sie so sehr hassen, wie ich es tue.
Nach einem Augenblick trat die Priesterin beiseite und machte Venn den Weg in die Höhle frei. Er ging langsam hinein, die Augen starrten ins Leere, während er über die Symbole und Gebete hinwegsah, die auf die groben Steinwände zu beiden Seiten des Durchgangs gemalt waren, und den Abstieg begann. Wieder atmete er die weihrauchgeschwängerte Luft seiner Kindheit ein.
Schweigend ging er weiter, fühlte sich, als würde er an einem unsichtbaren Seil eingeholt werden. Er war so darauf bedacht, was für einen Eindruck er vermittelte, dass er ruckartig stehen blieb, als sich der Tunnel vor ihm zu einem gewaltigen Raum öffnete. Seine Augen waren noch immer getrübt, aber aus dem Augenwinkel bemerkte er Bewegungen im matten Licht der Höhle. Er hörte, wie die Priesterin zu ihm aufschloss. Es wäre nicht klug, seinen Herold hinter sich zurückzulassen. Herold … bei diesem Namen musste er an Rojaks raue, pestschwere Stimme denken und ebenso an den letzten, geflüsterten Befehl des Zwielicht-Herolds: »Gib ihnen einen König.«
Du hast Recht, Barde. Diese Leute wollen einen König haben – sie brauchen einen König –, aber nicht mich. Ich kann sie nur zu dem führen, der es wert ist, dass sie ihre Bande lösen. Ist das nicht ohnehin der Weg unseres Herrn? Einem Mann den Weg zu zeigen, damit er sich selbst dafür entscheidet?
Eine große, natürliche Säule in der Mitte der Höhle war das Auffälligste. Aus den groben, ausladenden Seiten ragte glitzernder Quarz hervor, sie waren von langen, rostroten Striemen verunziert. Ein fleißiger Priester hatte Löcher in die Säule geschlagen oder gebohrt, in denen nun drei Meter lange Holzbalken steckten, die in alle Richtungen wiesen. An ihnen hingen flache Kohlebecken aus Messing, die gleichen wie am Höhleneingang, einst verziert, nun aber von den Jahren ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie die Priester, die sich um sie kümmerten. Das Summen leiser Gebete und die trübe Luft voller Weihrauch brachten weitere Erinnerungen an seinen Vater mit sich, an die langen Tage und Nächte des Gebets, nach denen er erschöpft und ausgelaugt heimgekehrt war.
Die Höhle erstreckte sich von Venns Blickpunkt aus zweihundert Schritt von links nach rechts. Am breitesten Punkt, unmittelbar vor Venn, waren es fünfzig Schritt bis zu den zwölf offenen Kapellen, die man in die Wand eingelassen hatte. Sie waren den Göttern des Höheren Kreises geweiht, aber neben diesen gab es noch zahlreiche andere Schreine. Die heiligen Worte seines Volkes bestimmten das Bild am einen Ende der Höhle: in den Fels geschnittene Buchstaben, jeder so lang wie sein Unterarm und so genau ausgeführt, dass nur Magie dahinterstecken konnte.
Sogar wenn er ihnen den Rücken zuwandte, konnte er sie spüren. Ihr Erscheinen hatte das Ende des dunklen Zeitalters verkündet, die Wiederkehr der Götter in das Land und zu ihren sterblichen Dienern. Ihre Botschaft hatte die Harlekin-Clans versklavt und an diese eisigen Berge gebunden. Er widerstand dem Verlangen, sich umzudrehen und sie anzusehen. Seine Aufgabe führte ihn zuerst an einen anderen Ort.
Am Fuß der Säule befand sich der kleinste und einfachste Schrein in der Höhle, wenig mehr als ein Rinnsal, das aus einem natürlichen Kanal lief und sich in einer Mulde sammelte. Die Innenseite der Höhlung war mit einer eisartigen Schicht bedeckt, die ein schwaches, weißes Leuchten abgab. In den Rand eingekerbte Tiersymbole standen für die Götter des Höheren Kreises.
Die Priesterin trat, wie er hörte, mit zögernden Schritten näher. Vielleicht überlegte sie, ob sie seinen Arm ergreifen, ihn vielleicht sogar am Ellbogen führen sollte. Er wartete nicht darauf, dass sie eine Entscheidung traf, sondern schlurfte weiter, die Stufen zu dem kleinen Schrein hinab. Jeder Besucher der Höhle nahm einen fingerhutgroßen Messingbecher und trank von dem eiskalten Wasser. Die Legende besagte, dass es von den Göttern gesegnet sei und die Quelle ihrer bemerkenswerten Talente war. Doch es hatte bei den Clans nie einen Magier gegeben, und so war sich niemand sicher.
Venn jedoch wusste es. Durch seinen Aufenthalt draußen im Land hatte er viel darüber gelernt, wie die Dinge abliefen, und es gab keinen Zweifel an dem, was hinter den Fähigkeiten seines Volkes steckte. Und doch stockte ihm der Atem, als er sich vor das Becken kniete. Mit großen Gesten nahm er den Becher und trank. Seine Kehle kribbelte, so kalt lief das Wasser darin hinab, und er murmelte ein Gebet, das er seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Dieses Gebet schmeckte zwar bitter, aber er wusste, dass Dohle die Zeit brauchte.
»Er ist hier.« Die Worte waren wie ein leises Flüstern in seinem Ohr. Dohle klang außer Atem, aber Venn wusste nicht zu sagen, ob der Mann nur von der Anstrengung des Zaubers erschöpft war, oder ob es eher daher rührte, dass er sich in einen Schatten verwandelt hatte. »Ich brauche nur einige Augenblicke, um den Zauber für unsere Zwecke zu beugen.«
Venn musste ein Schaudern unterdrücken. In dieser Form gab der feige Magier keine so lächerliche Figur ab. Als Schatten erinnerte Dohle in verstörender Weise an Rojak, Azaers Lieblingsschüler. Etwas in seiner Stimme gemahnte Venn daran, dass sie von Rojaks Körper keine Spur gefunden hatten – nicht einmal seine verzauberte Goldkette, der die Flammen, die Scree dem Erdboden gleichmachten, nichts hätten anhaben können.
Er vertrieb diesen Gedanken und fuhr mit dem Gebet fort. Rojak hatte ihm befohlen, seinem Volk einen König zu bringen, und in Kürze würde Dohle dem Zauber des Wassers etwas hinzugefügt haben, das sie für Veränderungen empfänglich machte, für Ehrgeiz.
Sollen sie einen neuen Weg wählen, dachte Venn und gab damit seinen eigenen Segen. Sollen sie doch hoffen, mehr als nur Unterhaltung zu sein, sollen sie nach etwas Neuem suchen. Sie werden sich einen König wünschen und einen neugeborenen Prinzen finden.
»Es ist vollbracht«, sagte Dohle leise in sein Ohr. Venn nickte kaum merklich und sprach die letzten Worte des Gebets. Dann erhob er sich und wandte sich der Priesterin zu, die mit besitzergreifender Ausstrahlung unmittelbar vor ihm stand.
Dies ist die Belohnung, nach der du all die vielen Jahre gesucht hast. Erinnerst du dich an die Geschichte von Amavoqs Becher? Wie weit wirst du den vergifteten Kelch leeren?
Venn sah an ihr vorbei, als sie auf das Becken hinabblickte, als erwarte sie, dass ihr ein Wunder in den Schoß fiele. Er sah allein auf die Wand, in die die heiligen Worte seines Volkes eingearbeitet worden waren. Alle Blicke ruhten auf ihm und Stille breitete sich mit einem Mal in der Höhle aus, vom leisen Zischen und Knacken des Harzes in den Kohlebecken abgesehen. Er achtete darauf, dass seine Bewegungen unnatürlich und ungelenk wirkten, während er auf die breite Wand mit den heiligen Worten zuging, vor ihr auf die Knie sank und hinaufstarrte.
»Warum bist du hier?«, fragte eine krächzende Stimme zu seiner Rechten.
Mit ausdruckslosem Gesicht wandte sich Venn der gebeugten Gestalt zu, die ihn ansprach. Sein Wachhund, die Priesterin, stand hinter ihm, beinahe so nah wie Dohle, um ihr Revier abzustecken. Der alte Mann war ein Windflüsterer, einer der angesehenen Priester, die durch langjährige Dienste keiner Gebete mehr bedurften, sondern die Stimmen der Götter im Wind hören konnten. Sie würde einen so altehrwürdigen Mann nicht herausfordern, aber Venn war sicher, dass sie sich auf alles stürzen werde, das es ihr erlaubte, die Kontrolle an sich zu reißen. Ehrgeiz konnte Berge versetzen.
Er gab vor, den Windflüsterer nur allmählich zu bemerken. Der Priester, der sich mit beiden Händen auf einen verdrehten Stab stützte, verzog das Gesicht und wiederholte seine Frage.
Windflüsterer, wenn du Worte im Rauschen des Windes hörst, dann wirst du auch den Willen der Götter in meinen Taten sehen. Männer wie du haben mich die Geschichte vom Spiegel des Feiglings auswendig lernen lassen. Bevor dies beendet ist, werde ich sie dir vortragen, als letzte Gelegenheit, deiner eigenen Dummheit zu entgehen.
»Man schickte mich«, flüsterte Venn schließlich.
»Wer?«
»Der Herr.« Venn wartete ab, gab ihnen Zeit, zur Kapelle von Tod hinüberzublicken, wo auf einem Dutzend Ikonen, von goldenen Blättern umrankt, sein Gesicht im Licht des Feuers leuchtete. »Überbringer einer Nachricht von vergangener Dunkelheit und Bereiter eines Weges, der sich offenbaren wird.«
Los, schluck’s schon, du alter Mistkerl. Du musst wählen. Wenn du jetzt zögerst, überholt sie dich. Du bleibst zurück und jemand anders wird in die Geschichte eingehen, weil er in diesem Augenblick handelte.
Ein leises Geräusch hinter Venn verriet ihm, dass er damit richtig lag. Während der alte Narr noch zögerte, hemmten die Kriegerpriesterin keine Zweifel. Sie war so verblendet, dass sie keine Angst vor der Zukunft kannte, und als sie an ihm vorbeiging, entfuhr dem alten Mann ein leises Seufzen. Venn folgte ihr und ließ den unwichtig gewordenen Windflüsterer zurück.
Er senkte den Kopf zum Gebet und spürte die machtvolle Präsenz der heiligen Worte vor sich. Ein König für dein Volk, war Rojaks letzter Befehl gewesen. Sie würden nur einen König annehmen, den sie selbst ausgesucht hatten, aber Venn hatte von dem verdrehten Barden viel gelernt. Dohles Magie hatte den Weg geebnet und die Talente eines Harlekins würden sie dorthin führen.
»Kein König soll euch beherrschen, kein sterblicher Herr euch befehlen.« Die letzte Zeile der heiligen Worte hatte die Clans dazu gebracht, sich für etwas Besonderes zu halten, für gesegnet. Seine Abscheu schmeckte so bitter wie zuvor das Gebet.
»Hört mir gut zu, denn ich bin ein Hüter der Geschichte«, sagte er mit rauer und brechender Stimme, als hätte er all die Jahre seit seinem letzten Besuch an diesem Ort geschwiegen. Es war die traditionelle Eröffnung einer Harlekin-Versammlung.
Er wartete, spürte, wie sich die Priester versammelten. Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, und Dohle ließ die Magie durch ihn fließen. Ein Schauder ergriff seinen Körper und pflanzte sich in den Boden zu seinen Füßen fort. Um ihn herum erklang ein furchtsames Flüstern und Erstaunen, da spürten die Priester den Boden erbeben.
»Ich berichte euch von Frieden – und von einem Kind. Unser Land ist befleckt, unausgeglichen und mit Makel behaftet, doch muss es tadellos sein, damit wir seinen Schatten lesen können. Diese Makellosigkeit kann im Gesicht eines Kindes gefunden werden, denn ein Kind kennt keine Furcht. Kinder tragen nur das göttliche Geschenk des Lebens in sich, und ihre Seelen sind rein, ihre Herzen frei.
Die Bußfertigen unter uns mögen ein Kind aufziehen, um uns an die Unschuld zu erinnern, die wir einst besaßen. Die Bußfertigen mögen mit der Stimme eines Kindes sprechen und keine Verwendung für harsche Worte oder prahlerisches Getue haben. Die Bußfertigen sollen die Tränen eines makellosen Kindes schauen, während sie ihrer Sünden entsagen und um den Verlust ihrer Unschuld weinen. Was könnte einen größeren Dienst darstellen, als den an der Unschuld?«
Zwei Gestalten im Wald warfen sich einen Blick zu, während ihr kalter Atem auf den Schnee traf. Sie schienen im vergehenden Licht des Tages nicht mehr zu sein, als undurchdringliche Dunkelheit und hatten sich neben dem abgebrochenen Stumpf einer uralten Kiefer niedergelassen. Eine der Gestalten hatte eine Hand ausgestreckt, auf der nackten Handfläche lag ein gläserner, grob geformter Schädel. Ihre grünen Augen flammten in der Dunkelheit auf.
»Und um das zu beobachten, sind wir hergekommen?«, fragte der Mann. In seiner Stimme lag keine Verärgerung, seine Schwester bemerkte die Andeutung von Zweifel aber trotzdem.
»Jeder Teppich beginnt mit einem ersten Faden. Ich möchte wissen, welches Muster er weben wird, solange noch Zeit bleibt zu handeln.«
»Wir nutzen unsere Zeit am besten, wenn wir Fäden aufribbeln?«
»Wir haben unendlich viel Zeit zur Verfügung, Koezh«, antwortete sie und hob den Kopf, als müsse sie sich anstrengen, die letzten Worte des Harlekin zu hören. Dann steckte sie den Kristallschädel in eine Tasche, die sie um die Hüfte trug. »Und der Grund für all das hat sich vielleicht schon offenbart.«
»Das Kind.«
Sie nickte. »Der Fall Screes hat bewiesen, dass man Götter vertreiben, von einem Ort und einem Volk fernhalten kann, wenn auch nur zeitweise. Wenn die Tempel leer bleiben und die Gemeinde sich gegen ihre Götter wendet, so sind diese Götter schwach und angreifbar.«
Koezh verstand. »In Zeiten der Sorge suchen die Leute Trost in der Vergangenheit, und die Harlekine sind die Hüter der Geschichte. Wenn diese Hüter anfangen, von einem Kind des Friedens zu berichten, während überall im Land die Kriegshörner geblasen werden, wird der Glaube der Menschen nicht zerstört, sondern umgelenkt.«
Zhia lächelte, ihre verlängerten Zähne blitzten im Zwielicht. »Vielleicht ist unsere Zeit endlich gekommen.«